4. Elias
Gestalt 1 mit den eisblauen Augen
Ich rannte in Richtung Schule, denn mir wurde gesagt, dass ich dort Bericht erstatten sollte. Ein Mitglied der Organisation würde meinen kargen Bericht direkt weiterleiten, während mir so ein paar Stunden Erholung blieben. Gerade dachte ich darüber nach, wo ich das Mitglied an einem so öffentlichen Platz wie diesem suchen sollte, als eine Bewegung links neben mir mich den Bericht vergessen ließ. Neben mir rannte ein junges Mädchen, es konnte höchstens vierzehn sein.
Neugierig betrachtete ich sie.
Sie hatte langes, seidiges, blondes Haar, dass wie ein Sonnenstrahl hinter ihr her flog und kristallklare, strahlend blaue Augen. Dunkle Wimpern umrahmten ihre Augen und perfektionierten ihr blasses Gesicht.
Erst da sah ich, dass das Mädchen behindert war, denn es zog einen Gehwagen hinter sich her. Sofort hasste ich mich dafür, dass ich das Mädchen hübsch, ja fast anziehend, gefunden hatte. Sie war behindert. Eine Missgeburt.
Plötzlich warf sich das Mädchen vor mich.
Da ich sie die ganze Zeit beobachtet hatte, bemerkte ich erst jetzt, dass jemand mich angreifen wollte.
Wie nachlässig von mir!, dachte ich, wütend auf mich selbst.
Zuerst machte ich mir keine Sorgen, doch als ich genauer hinsah, erstarrte ich.
Es war ein Karasu. Mit jedem normalen Karasu wäre ich fertig geworden, ja sogar mit einem Dutzend, doch dieser hier war nicht normal. In der einen Hand hielt er nämlich ein Kligrarrsei, das, natürlich, silbern schimmerte und von innen heraus leuchtete.
Kligrarrsei waren von Magiern verstärkte Schwerter, die durch alles schneiden konnten, wie durch Papier, weshalb sie die bevorzugte Waffe der Magier gewesen waren. Leider hatten die Karasu sich zusammengetan und alle Magier getötet, da ihnen eine höhere Macht offenbar nicht geheuer war. Damals waren die ersten Karasu entstanden. Sie waren wie ein Krähenschwarm über ihre Gegner hergefallen und hatten jeden und alles niedergemetzelt, wobei sie den Toten alles nahmen, was sie besaßen. Dazu hatten sie ja eine Spur des Todes hinterlassen, weshalb ihnen der Name Karasu wohl sehr gefiel.
Ein bisschen zu sehr, wie ich fand.
Inzwischen hatte eine Organisation, zu der ich auch angehörte, die meisten Karasu beseitigt und ihnen ihr Kligrarrsei genommen. Deswegen waren diejenigen, die mit einer dieser Waffen kämpften, immer weniger geworden. Auf jeden Fall wurden die Kligrarrsei in einem sicheren Versteck gehütet, während man darauf hoffte, dass die Magier wiederauferstanden.
Deswegen verwunderte es mich ja so, dass es noch mindestens ein Exemplar in den Händen der Karasu gab. Was wir, die Organisation, nach vielen Jahren, endlich wissenschaftlich beweisen konnten, war, dass nur ein Magier die volle Kontrolle über sein Kligrarrsei hatte und das auch nur, wenn es von ihm auserwählt wurde. Und genau deswegen benutzten wir die Kligrarrsei nicht. Eben, weil wir uns an die eigentliche Art der Schwerter hielten.
Es war ja nicht so, dass wir uns nur an Regeln halten wollten, schließlich gab es im Krieg ja auch keine Regeln, aber es wäre ja nicht besonders hilfreich, wenn sich das Schwert mitten im Kampf gegen dich stellen würde und zum Beispiel stehen bleiben würde oder gar aus deiner Hand springen würde. Nein, ganz und gar nicht. Das könnte einen sogar seinen Kopf kosten! Fassungslos schüttelte ich den Kopf.
Himmel! Ich konnte überhaupt nicht nachvollziehen, wie jemand in den Kampf ziehen konnte, mit dem Wissen, dass sich seine Waffe jederzeit gegen ihn stellen konnte. Jetzt hob der Karasu das Schwert und ließ es niedersausen, wobei man ihm ansah, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass sich das Mädchen ihm in den Weg werfen würde.
Während das Schwert auf sie niederfuhr und sie fiel, tat mir das junge Mädchen tatsächlich Leid. Es würde sterben, weil es mich schützen wollte. Was für eine Selbstlosigkeit.
Ich wusste gar nicht, dass auch behinderte Menschen so selbstlos sein können. Die denken doch immer nur an sich und lechzten nach Aufmerksamkeit., dachte ich verwirrt.
Dann fasste ich mich wieder.
Na ja, dann war es wenigstens eine Missgeburt weniger.
Im nächsten Moment machte ich einen riesigen Satz zur Seite, denn ich wusste, dass der Körper des Mädchens kein Hindernis für das Kligrarrsei sein würde.
Plötzlich hörte ich ein Knistern und Summen, was mich meinen Kopf rumreißen ließ. Mir klappte die Kinnlade herunter, so seltsam war das, was ich sah.
Statt blutend und ohne jedes Leben am Boden zu liegen, lag sie, immer noch lebend, am Boden. Noch seltsamer war jedoch, dass sie ihren Arm, wie zum Schutz hochhob und der Karasu über ihr stand, während er, offenbar unter größter Kraftanstrengung, versuchte, sie mit dem Kligrarrsei auch nur zu berühren. Schließlich schaffte er es, ihre Haut aufzuschneiden.
Das Summen wurde lauter und intensiver.
Schließlich ließ der Karasu das Schwert sinken und starrte sie verwundert an. Erst da ließ sie ihren Arm sinken und starrte seine Stiefel an, wobei ihr Blick langsam immer höher glitt. Schließlich sah sie so hoch, dass sie wahrscheinlich die glühend weißen Augen sah, die den meisten Karasu vorbehalten waren, denn sie erstarrte.
So wie sie da lag, nur durch ihren rechten Arm irgendwie etwas aufgerichtet, um verzweifelt etwas Selbstbewusstsein auszustrahlen, mit Angst und Verzweiflung in den blauen Augen, kam in mir der Wunsch auf, sie zu beschützen.
Erschrocken verdrängte ich diesen Gedanken in den hintersten Winkel meines Bewusstseins. Genau das war doch die Absicht dieser Missgeburten!
Auf einmal wandte der Karasu sich um und rannte davon. Wahrscheinlich wollte er genaustens Bericht erstatten. Mein Blick wanderte zurück zu dem Mädchen und während die Minuten verstrichen, blieb es weiter da sitzen. Wahrscheinlich stand sie unter Schock, denn ihr Blick war leer und ohne Emotion.
Es wäre am besten, wenn sie nach Hause gehen und alles vergessen würde, durchfuhr es mich.
Ja, wahrscheinlich wäre es besser so, wenn sie den Vorfall vergessen würde. Schnell fasste ich einen Entschluss. Ich würde das Mädchen nach Hause bringen und alle Spuren an den Vorfall verwischen. Am Ende würde sie denken, sie habe das Ganze nur geträumt. Der Bericht konnte warten.
Zügigen Schrittes ging ich zu ihr. Auf einmal hörte ich sie scharf einatmen und erst da fiel mir ein, dass der Karasu es ja geschafft hatte, das Mädchen mit dem Kligrarrsei zu berühren. Es gab Gerüchte, dass die Berührung mit solch einer Klinge Schmerzen verursachten, die schlimmer brannten als Säure, auch wenn es nur ein kleiner Schnitt war.
Sorgenvoll hockte ich mich vor sie.
So sehr ich mich auch dafür hasste, sie tat mir Leid, wenn sie solche Schmerzen hatte
. Erst jetzt bemerkte sie mich und ich sah Überraschung in ihren Augen aufblitzen. Wahrscheinlich hatte sie damit gerechnet, dass ich geflohen war, als der Karasu abgelenkt gewesen war. Da das Mädchen so überrascht war, schaffte ich es, ihren Arm zu packen und ihn herumzureißen.
Ich hörte sie aufkeuchen und selbst ich war erstarrt und dass, obwohl ich schon viele, weitaus größere Verletzungen gesehen hatte. Das Fleisch war aufgeschnitten und grinste mich an, wie ein lippenloser Mund. Dazu offenbarte es einen direkten Blick auf die blaugrünen Adern, die, seltsamerweise, unversehrt dort lagen, wie kleine Schlangen, während, logischerweise, kein Tropfen Blut aus der Wunde lief. Alles in allem war die Verletzung äußerst gruselig. Von einem plötzlichen Instinkt angetrieben, zog ich ihre Jacke aus und gerade als sie anfangen wollte, sich zu wehren schob ich die Ärmel ihres T-Shirts hoch und fand, wonach mein Unterbewusstsein gesucht hatte.
Auf der Innenseite ihres linken Oberarms prangte ein goldenes, sanft geschwungenes, Emblem eines schussbereiten Bogens.
Erst jetzt wurde mir die ganze Tragweite des Geschehenen bewusst, die seltsame Verletzung und das Mal mit eingenommen und ich murmelte, so leise, dass sie unmöglich etwas verstehen konnte:
"Wie konnte sie überleben? Dem Schlag eines Kligrarrsei kann sich nichts und niemand wiedersetzen!
Das heißt es gibt zwei Möglichkeiten:
Die erste und wahrscheinlichere Möglichkeit wäre, dass sich das Kligrarrsei einfach gegen den Karasu gestellt hat, da er kein auserwählter Magier ist.
Die zweite, unwahrscheinlichere Möglichkeit wäre, dass der Karasu sehr wohl ein auserwählter Magier ist und dass das Mädchen seinen Hieb mit Magie abgeblockt hat. Und das hieße, dass sie sehr mächtig sein muss, denn Kligrarrsei werden mit, nicht gerade wenig, Magie verstärkt! Und dann das Mal der Schützin! Dort, auf ihrem linken Oberarm, ist es! In einer Prophezeiung wurde das Mal der Schützin ja erwähnt. Das muss ich sofort Aadil melden!"
Dann jedoch, beschlichen mich nagende Zweifel.
Was, wenn das nur eine Tätowierung war? Oder sie gar nichts von allem wusste? Es gab so viele Gründe, weswegen sie es nicht sein könnte.
Das Mädchen, dass wie gelähmt wirkte, schlug auf einmal die Augen nieder und fiel zur Seite. Ich konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie am Boden aufgeschlagen wäre.
Wahrscheinlich war sie erschöpft, vom Abwehren des Kligrarrsei.
Vorsichtig hob ich sie hoch.
Plötzlich erschlaffte sie vollständig in meinen Armen. Sofort fiel ich wieder auf die Knie.
Fassungslos starrte ich das Mädchen an.
Du darfst jetzt nicht sterben! Nicht jetzt, wo ich gerade Hoffnung geschöpft habe!
Beinahe hätte ich sie schon geschüttelt und sie angeschrien, als ich bemerkte, wie sich ihre Brust leicht hob und senkte.
Erleichtert atmete ich auf. Wahrscheinlich war sie nur ohnmächtig geworden.
Wie schwach. Na ja, andererseits waren Behinderte schon immer schwächer gewesen. Schließlich sammelte ich ihre Tasche vom Boden auf, wo sie bei dem Sturz hingefallen war und griff hinein, um ihr Portemonnaie zu suchen. Nach kurzem Suchen fand ich es. Es war ein schlichtes, aber gutes Exemplar aus weißem Leder. Dort drin fand ich einige Papiere, unter anderem auch ihre Adresse. Als ich den Schülerausweis sah, zögerte ich kurz, dann zog ich ihn heraus, denn ich wollte wissen, wen ich da vor mir hatte. So sehr ich Behinderte auch hasste, vielleicht war sie ja der Schlüssel der Prophezeiung. Außerdem ging es mir langsam auf die Nerven, immer sie oder das Mädchen zu sagen oder zu denken. Der erste Teil enthielt nichts Interessantes, nur Name der Schule und sowas. Dann kam ich bei ihrem Namen an.
Majikku...
Weiter kam ich nicht, denn mein Verstand versagte.
Konnte es sein? War das schon immer so geplant gewesen oder einfach nur Zufall? Wenn die zweite der beiden Möglichkeiten tatsächlich wahr wäre, würde sich dass auch erklären, aber so? Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Dann zwang ich mich, weiter zu lesen. Majikku Harakiri, vierzehn Jahre alt, Klasse acht C,...
Soso. Sie...Nein, Majikku, ist also tatsächlich vierzehn und geht in die achte Klasse, wobei ich ihren Vornamen am interessantesten finde, um ehrlich zu sein. Majikku...
Schließlich packte ich alles wieder in die Tasche, schwang sie mir über die Schulter und hob Majikku auf meine Arme. Erst jetzt bemerkte ich, wie erstaunlich leicht sie war, selbst mit den schweren Schienen an ihren Unterschenkeln. Dann ging ich los und versuchte, so vorsichtig wie möglich zu laufen, um Majikku nicht aufzuwecken, denn sie brauchte den Schlaf. Gegen meinen Willen musste ich sie schon wieder betrachten.
"Majikku...", murmelte ich leise.
"Was für ein passender Name."
So, mit dem friedlichen Ausdruck im Gesicht, glich Majikku mehr denn je einem Engel. Ein kleiner Teil in mir, sehnte sich so sehr danach, sie zu mögen, sie zu akzeptieren, dass es schon fast schmerzte. Der größere Teil hingegen, verspottete mich und höhnte, ich sei ihr schon längst hilflos ausgeliefert und ich solle mich in Acht nehmen vor dem Wolf im Schafspelz.
Ich schaffte es gerade noch so in eine verlassene Gasse, bevor ich auf die Knie fiel.
Was war nur mit mir los?! Warum konnte nicht alles in mir dieses behinderte Mädchen hassen, wie es bei allen Jungs und Mädchen geklappt hatte, seit sie mein Leben für immer zerstört hatte? Mit aller Kraft dachte ich an dieses schreckliche Erlebnis und die Sehnsucht verschwand. Plötzlich entdeckte ich ihren linken Unterarm und sofort wollte ich ihr helfen, ihre Schmerzen lindern. Mit aller Kraft sagte ich mir, dass ich es nur tat, um die Spuren an den Vorfall zu verwischen. Zu nichts weiter.
Aus einer Falte in der Innenseite meines Mantels holte ich meine Salbe heraus. Es war eine der äußerst seltenen Heilmittel der Magier. Sie waren sogar noch seltener, als die Kligrarrsei. So weit ich wusste, waren in der Salbe ganz normale Heilkräuter, dessen Wachstum und Wirkung jedoch mit Magie stärker gemacht worden waren. Während ich etwas von der Salbe auf der Wunde verteilte und sie vorsichtig verrieb, fiel mir auf, wie sehr mich die Wirkung der Salbe immer noch verblüffte. Kaum, das ich die Hand von ihrer Haut genommen hatte, floss die Haut wieder zusammen, als wäre nichts gewesen, während die Salbe verschwand, wie durch Magie.
Wie ironisch, dachte ich plötzlich und musste grinsen.
Das ist doch Magie!
Plötzlich musste ich daran denken, wie vorsichtig ich die Salbe verteilt hatte.
Mein Grinsen verschwand und ich wurde rot. Ob sie sich wohl noch lange an mich erinnern würde? Oder würde sie mich zuerst vergessen?
Energisch schüttelte ich den Kopf.
Es konnte mir doch egal sein, ob sie mich zuerst oder zuletzt vergessen würde! Da fiel mir das Mal wieder ein und ich sammelte schnell ein bisschen Erde und verteilte sie auf dem Mal. Das würde reichen müssen. Bis die wieder abging, würde sie das alles so sehr vergessen haben, dass sie nicht mehr auf die Idee kommen würde, dort nach dem Mal zu schauen. Ich nahm sie wieder auf die Arme und lief los, um dieses seltsame Mädchen so schnell wie möglich loszuwerden und dann zu vergessen. Nach diesem Vorfall würden wir uns nie wieder sehen und Majikku würde wieder ein normales Leben führen. Ja, genauso würde es sein.
Mit einem Mal fiel ihr Kopf nach außen und verrenkte sich so sehr, dass ich wusste, sie würde mit Schmerzen am Hals aufwachen. Um Majikku diese Schmerzen zu ersparen, nahm ich sanft ihr Gesicht und drehte es zu meiner Brust, bis ihr Gesicht sie berührte und ihr Hals nicht mehr so verrenkt war.
Leise schnaubte ich.
Dieses Verhalten räumte ja wohl alle Zweifel aus.
"Auch wenn du weg sein wirst, ich werde dich nicht mehr vergessen, Majikku."
Zwar erfüllte mich diese Erkenntnis mit Entsetzen, wieder hatte ich es zugelassen, dass sich ein behindertes Mädchen sich in mein Gedächtnis gebrannt hatte, aber jetzt konnte ich es eh nicht mehr ändern, so sehr ich es mir auch wünschte.
Schließlich war ich bei ihrem Haus angekommen. Schnell legte ich ihre Jacke auf den Boden, legte sie darauf und legte auch die Tasche neben ihr ab. Ein letztes mal sah ich in ihr friedliches Gesicht, dann wandte ich mich um und rannte davon. Während ich zum Versteck der Organisation rannte, sah ich die ganze Zeit ihr Gesicht vor meinem inneren Auge. Ich wurde immer verwirrter, je länger ich rannte.
Dadurch fiel mir erst etwas sehr Schlimmes ein, als ich schon vor einer robusten, steil aufragenden Felswand stand, die den Geheimeingang des Verstecks der Organisation geschickt versteckte:
Ich hatte Majikku's Gehwagen vergessen!
Elias, du Vollidiot!
============================================================================
So, da ist das längste Kapitel bis jetzt! Eigentlich habe ich das ganze ja nur noch mal aus der Sicht der zweiten Gestalt namens "Elias" geschrieben. Was haltet ihr davon? Wie findet ihr seinen Namen? Soll ich noch mehr Kapitel aus Elias' Sicht schreiben? Und was mich auch noch interessieren würde: Was haltet ihr von Behinderten?
Eure Nuoli
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top