20. Volkszunge
Majikku
"Außerdem hat Elliot folgendes an Rufus weiterleiten lassen - Majikku's Mutter sucht nach ihr."
Dieser Satz Lou's ließ mich wieder aus meiner Müdigkeit aufschrecken und ich registrierte sein respektvolles Nicken kaum.
"Mama? Sie sucht nach mir?"
Gleichzeitig hätte ich mich für diese dumme Frage treten können. Natürlich suchte sie nach mir - schließlich machte sie sich Sorgen um ihre Tochter.
"Kann ich sie sehen?", fragte ich begierig.
"Natürlich nicht, Ziege", meinte Elias gehässig.
Ich ignorierte den leisen Stich bei diesen Worten und sah Aadil flehentlich an.
Der Anführer musterte mich einen Moment nachdenklich, doch dann schüttelte er bedauernd den dunklen Kopf.
"Elias, ich würde es begrüßen, wenn du aufhören könntest, hier so einen Kindergarten zu veranstalten - ich habe diesen Job noch nie angestrebt und werde damit jetzt auch nicht anfangen", meinte er streng zu seinem Schatten.
"Doch leider hat dieser Kindskopf recht –
Elias öffnete empört den Mund auf, schloss ihn jedoch kommentarlos wieder.
"Wir können dich deine Familie noch nicht wieder sehen lassen. Zum einen halten deine Schwindelanfälle weiter an und somit fehlt jedes Argument, dich zurückzubringen, beziehungsweise dich damals überhaupt mitgenommen zu haben - man könnte Elias als Entführer brandmarken und ins Gefängnis stecken lassen. Zum anderen würde es deine Lieben sehr gefährden, wenn die Karasu von ihrem Aufenthalt wüssten."
"Soll das eine Drohung sein?", fauchte ich und Felicitas schloss sich meiner Wut nur allzu gerne an.
"Keinesfalls. Ich versuche lediglich, dir den Ernst der Lage zu erklären", meinte der Anführer ruhig.
Ich verkniff mir einen spitzen Kommentar und auch Elias war noch immer nicht unbedingt freundlich gestimmt, weswegen wir eine geschlagene Minute schweigend nebeneinanderher ritten und in Elias' Fall gingen. Überraschenderweise sprach Louis als erster wieder:
"Sind es immer noch die gleichen Schwindelanfälle, wie damals am Rücken Eurer Stute, Ma'am?"
Mühsam versuchte ich, meine Frustration, meine Wut und mein Heimweh nicht an dem Jungen auszulassen.
"Ja", meinte ich deswegen lediglich knapp.
"Wann ist euch denn noch plötzlich schwindelig geworden?", fragte der blonde Junge neugierig.
Ich konnte mir gerade so noch ein Augenrollen verkneifen - schließlich war das nichts, worüber ich gerne sprach. Doch während mir aufging, dass ich es noch nie strikt logisch aneinandergereiht hatte, um des Rätsels Lösung zu finden, fuhr Elias den Zehnjährigen an:
"Das sind Dinge, die deinen Horizont übersteigen - überlass' das den Erwachsenen."
Und schon wieder war ich auf hundertachtzig, bevor sich Louis überhaupt verteidigen konnte.
"Was maßt du dir eigentlich an? So langsam befürchte ich, man hat dir schon zu früh ein zu großes Stück vom Kuchen gegeben."
Ich versuchte, nicht allzu vorwurfsvoll auszusehen, als ich Aadil mit einem ernsten Blick bedachte.
"Und Louis hat recht", fuhr ich schnell fort.
"Wir haben bei dem ganzen Berg an Problemen das Offensichtlichste aus den Augen verloren: Wie hat es überhaupt angefangen? Wann tritt es auf und wann hätte es auftreten können, ohne tatsächlich zu passieren? Zumindest sollte man sich diese Fragen stellen, wenn einen die Antwort auch interessiert - woran ich bei euch inzwischen so meine Zweifel habe."
Ich lächelte schmal.
Nachdenklich fügte ich hinzu:
"Angefangen hat meine merkwürdige Schwäche wohl, als ich dem Karasu das erste Mal begegnet bin."
"Und als du dabei das Schwert des Karasu mit Magie abgewehrt hast", fügte Aadil hinzu, und schien damit verhindern zu wollen, dass Elias erneut eingriff.
"Also ist es die Magie?", meinte ich zweifelnd.
"Möglicherweise.", erwiderte der Anführer ernst.
"Aber lasst uns hoffen, dass das nicht der Fall ist", fügte er leise hinzu.
"Eine Magierin, die keine Magie wirken kann, wäre schließlich eine Katastrophe."
Dieser wenig hilfreiche Kommentar kam von Elias, war diesmal aber nicht ganz so bissig wie zuvor.
"Das nächste Mal war es im Wald, als ich Elias angegriffen habe", ergänzte ich leise.
Leider schien alles schien die erste Hypothese zu bestätigen.
Eine weitere kleine Weile blieb es still, dann sagte Elias plötzlich:
"Das stimmt gar nicht! Du bist doch schließlich von dem Schreibtisch in der Schule gerutscht und auf dem Nachhauseweg zusammengebrochen. War dir da auch schwindelig?"
Ich fuhr herum und starrte ihn entgeistert an.
"Du hast mich in der Schule beobachtet?!"
"Was meinst du, wie ich dich so plötzlich in den Wald mitnehmen konnte?", meinte er scharf.
"War dir denn nun schwindelig?", fragte Aadil schnell.
Es war schon fast lustig, wie er verzweifelt versuchte, unsere Kabbeleien zu unterbinden.
Ich schloss einen Moment die Augen, um mich besser an die Situation zu erinnern.
"Ja", meinte ich langsam.
"Ihr habt recht."
Als keiner mich unterbrach, fuhr ich fort:
"Ich hatte Französisch-Unterricht, als es passierte. Ich bin mir sicher, ich hätte noch eine Finanzierung für einen Auslandsaufenthalt erhalten, wäre mir nicht direkt danach ein zweites Mal so schwindelig geworden."
"Was ist ein Auslandsaufenthalt?", fragte Louis interessiert.
Einen Moment runzelte ich die Stirn, bis mir einfiel, dass der Großteil dieser Gemeinschaft vermutlich noch nie den Harz verlassen hatte.
"Ein Auslandsaufenthalt bedeutet, ein Land zu besuchen, dass eine andere Kultur, eine andere Landschaft und oft auch eine andere Sprache besitzt."
Kurz überlegte ich, ob ich wohl auch in die Verlegenheit geraten würde, eine andere Sprache beschreiben zu müssen, als Louis mit leuchtenden Augen sagte:
"Das würde mir sicherlich gefallen!"
Ich hob eine Braue.
"Wirklich? Eine zusätzliche Sprache zu lernen ist nicht so einfach, wie du glaubst."
"Ach wo!"
Louis antwortete mit der ganzen Verachtung, die nur ein kleiner Junge aufbringen konnte.
"Ich kenne schon alle Sprachen, die unsere Buchbinder kennen. Es war wirklich lächerlich einfach."
Ich lächelte belustigt und tauschte einen kurzen Blick mit Aadil, überzeugt, dass neu entdeckte Funkeln erneut in seinen Augen zu finden.
Umso überraschender war ich, einen nachdenklichen, ja beinahe ernsten Ausdruck auf seinem sonst so undurchdringlichen Gesicht zu erkennen.
"Glückwunsch! Du kannst Deutsch lesen", meinte Elias spöttisch, doch es klang seltsam hohl, denn auch er hatte Aadils seltsamen Blick bemerkt.
"Wer war dein Vater, Bursche?", fragte er plötzlich.
"Markus", meinte Lou und der Begeisterung war nun Verwirrung gewichen.
"Na und?", versuchte er es auf die trotzige Art und wirkte tatsächlich ein wenig beleidigt.
"Um ganz sicher zu gehen, müssen wir natürlich den alten Eret fragen, aber ich denke, dein Vater hat schon ein paar Mal zwischen uns und verwirrten Wanderern vermittelt. Mir fiel schon damals auf, dass fast alle einen anderen Singsang besaßen. Als ich ihn einmal scherzhaft fragte, ob er etwa hier so viele Sprachen gelernt habe, hatte er mich nur verwirrt angesehen. Damals habe ich es nicht verstanden, aber jetzt glaube ich, dass er eventuell die Sprachen gewechselt haben könnte, ohne es zu merken."
Ich starrte Aadil an, als hätte er den Verstand verloren.
"Selbst ein talentierter Übersetzer bemerkt, wenn er die Sprachen wechselt."
Aadil ging nicht weiter darauf ein, sondern fragte:
"Wann ist ein Schwindelanfall denn noch passiert?"
Wieder runzelte ich die Stirn, dachte jedoch noch intensiver nach.
Es ging schließlich nicht darum, irgendwen hier anzugreifen, sondern einem Mysterium auf die Spur zu kommen.
Kurz dachte ich an die merkwürdige Episode mit Izanamis Buch und machte mir im Kopf eine Notiz, den Anführer und sie später noch einmal darauf anzusprechen, dass ich eventuell auch dort Magie gewirkt hatte. Doch das hatte nichts mit der momentanen Frage zu tun, und außerdem wollte ich den unangenehmen Schatten namens Elias zuvor außer Hörweite wissen. Zusätzlich spürte ich auch Ayitas Widerwillen und sagte deswegen für den Moment nichts.
"Sonst nur bei der Episode mit Nyokos Hengst", meinte ich schulterzuckend.
Elias schnaubte.
"Ach ja, der Knirps hier hatte behauptet, sie würde gegen ihn kämpfen."
Louis wurde knallrot.
"Das habe ich nicht nur behauptet, es war so! Außerdem bin ich kein Knirps, sondern schon zehn!"
Der junge Mann unter der Kapuze winkte ab, doch bevor er erneut Gift spucken konnte, ging ich dazwischen:
"Louis hier sagt die Wahrheit. Sie und ihr Pferd hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit."
Der Anführer sah verwirrt aus, unterbrach mich jedoch nicht.
"Eigentlich hatte ich ihn lediglich um Hilfe bitten wollen, Ayita mit ihrer verletzten Schulter zu Izanami zu bringen."
Bei diesen Worten schoss mir eine leichte Röte ins Gesicht.
"Also sprach ich ihn mit dem Namen an, den Nyoko ihm gegeben hatte. Das schien jedoch nicht sein richtiger zu sein, und deswegen war er beleidigt."
In den Augen des Dunkelhäutigen war noch immer Irritation zu lesen.
"Ich hatte ja geahnt, dass deine Stute eventuell klüger ist, als ich von außen erkennen kann. Aber trifft denn das auch auf alle Pferde zu?"
Ich rollte mit den Augen.
"Das fragst du noch, nachdem du Felicitas kennengelernt hast? Jedes Tier ist intelligent, auch wenn wir sie manchmal vielleicht nicht mit unserer Sprache verstehen können."
Der Mann murmelte, halb zu uns und halb zu sich selbst:
"Hoffentlich werde ich nie mit meinem Grauschimmel in ein solches Dilemma geraten."
"Nyoko hat es jedenfalls weitaus weniger gut aufgenommen und war nicht bereit, das Pferd als Gleichgesinnten zu betrachten. Sie wollte ihm wieder seinen alten Namen aufzwingen", meinte ich schnippisch.
Aadil seufzte.
"Ich fürchte, das klingt ganz nach ihr."
Nach einer kurzen Pause fragte der Anführer mit hochgezogener Augenbraue:
"Na, wie hieß er denn nun?"
"Linus."
"Würde."
Elias, Louis und ich hatten gemeinsam gesprochen und noch, während die letzte Silbe verklag, verknotete sich mein Magen und mir wurde schwindelig.
Ich wankte leicht, und klammerte mich an den Sattelknauf.
Ayita verlangsamte automatisch ihren Schritt und das war vermutlich auch gut so – zwar war ich an ihren Sattel gebunden, doch trotzdem konnten mich ihre Hufe versehentlich erwischen, wenn ich zur Seite kippte.
"Alles in Ordnung, Majikku?", fragte der Anführer besorgt.
"Jetzt ist mir schlecht und schwindelig", meinte ich mit zusammen gebissenen Zähnen.
Sofort zog der Anführer an den Zügeln seines Pferdes und machte kehrt.
"Ich hatte mir schon gedacht, dass dieser Name ausländisch ist, doch jetzt weiß ich es mit Sicherheit."
Ich lachte schroff.
"Was soll denn an der Würde ausländisch sein? Wobei, ich habe sie hier schon so oft verloren, dass sie mir vorkommt, als müsste sie zu einem anderen Ort der Welt gehören", meinte ich hart.
"Der Würde?", echoten Elias und Aadil gleichermaßen verwirrt.
Verärgert sah ich zwischen den beiden hin und her.
"Haha, sehr witzig", fauchte ich.
"Geduld, dieses Missverständnis kann ich aufklären", kam auf einmal die Erwiderung aus unerwarteter Richtung.
Ich ignorierte die Stute.
"Macht es euch eigentlich Spaß, mich zu piesacken?!"
Obwohl mir die Galle durch diese Anstrengung noch weiter den Hals hochkroch, brüllte ich auf einmal.
Elias machte einen scheinbar wütenden Schritt vor, doch Aadil hob die Stimme:
"Aber du hast doch gerade eben noch etwas ganz anderes gesagt, und zwar Würde!"
Schon wieder begann alles ein wenig schwanken, als würde ich mich auf einem Schiff befinden und am Rande registrierte ich, dass Louis ähnlich verwirrt aussah.
Ich presste mein Gesicht an Ayitas Hals, um den sich untypisch bewegenden Boden nicht mehr zu sehen.
"Wir drehen uns im Kreis. Genau das meine ich doch."
Meine Stimme klang merkwürdig heiser, weil ich die Übelkeit unterdrückte, die den Schwindel fast immer begleitete.
"Schreibt den Namen auf!"
"Schreibt den Namen auf!"
Nun gesellten sich auch noch nervige Kopfschmerzen dazu, als ein merkwürdiges Echo in meinem Kopf entstand, als Louis und Ayita zeitgleich diesen Satz aussprachen - natürlich hatte nur ich die Stute hören können.
Elias verschränkte lediglich die Arme und ignorierte Lou, doch der Anführer warf ihm einen gleichzeitig enttäuschten und wütenden Blick zu, stieg ab und gab ihm die Zügel und ignorierte, dass der Grauschimmel nervös wurde, ebenso wie sein Schatten.
Er nahm den Stock vom Sattel und grub Buchstaben in die Erde, die einen Namen ergaben:
Kamulyan.
Verwirrt starrte ich auf die Runen, denn es schien sich die ganze Zeit entweder ein Schleier darüber legen oder lüften zu wollen, bis wieder ein anderes Wort dort stand:
Würde.
Hastig wandte ich den Blick ab, um den Schwindel zu bekämpfen und musterte stattdessen den blonden Jungen.
Er wirkte ein wenig so, als sei er plötzlich mit Kurzsichtigkeit geschlagen und versuche, die Buchstaben deutlich zu erkennen. Doch er war nicht die geringste Spur blass im Gesicht und ihm schien nicht schwindelig zu sein.
"Was stimmt denn mit mir nicht?", krächzte ich.
Der Anführer wirkte mit einem Mal angespannt.
"Was siehst du denn?"
Ich schüttelte den Kopf - wer konnte schon einfach so erklären, dass er verrückt geworden war?
Dankbarerweise übernahm Louis die Aufgabe:
"ich weiß zwar nicht, wie es der Lady geht, aber meine Augen sehen abwechselnd das Wort 'Würde' und 'K-a-m-u-l-y-a-n' – und auch meine Ohren hören abwechselnd beide Worte aus Eurem Mund."
Er hatte die Buchstaben des Namens einzeln genannt, um Rücksicht auf mich zu nehmen – das nahm ich zumindest an.
"Und wie ist es bei Euch?"
Der dunkelhäutige Mann sah mich an.
Die Wut verließ mich so schnell, wie sie gekommen war.
"Ich kann nur das erste Wort hören, den Namen nicht. Und so war es auch beim Französisch-Unterricht, zumindest vermute ich das. Ich hörte noch für einen Bruchteil einen französischen Satzanfang, doch nach dem Schwindelanfall war er verschwunden. Und als die Lehrerin wieder mit der ganzen Klasse sprach, überfiel mich der zweite Anfall - da wird sie wohl Deutsch gesprochen haben."
Ich machte eine kurze Pause und dachte über die Konsequenz dessen nach, was wir gerade erfahren hatten.
"Aber dir wird nicht schlecht, Louis?", fragte ich den Jungen dann.
Der Blonde schüttelte zur Antwort den Kopf.
"Und du kannst immer noch beide Sprachen lesen und hören?"
Er verzog das Gesicht.
"Ja - auch wenn es mir Kopfschmerzen bereitet, weil es anstrengend ist."
"Doch du kannst die Sprachen auseinanderhalten? Wieso hast du dann nicht ständig Kopfschmerzen?"
Louis legte den Kopf in den Nacken und dachte eine Weile darüber nach.
"Ich nehme mal an, dass sonst niemand gleichzeitig zwei Sprachen in meiner Umgebung gesprochen hat. Und auch Bücher habe ich ja nicht versucht, in mehreren Sprachen gleichzeitig zu lesen."
"Aadil hat doch nicht einmal versucht, eine andere Sprache zu sprechen - das war doch nur ein Name!", sprach Elias genau den Punkt aus, der mich am meisten beunruhigte.
So sehr ich ihn im Moment auch verabscheuen mochte, das war das Schlimmste daran.
"Aber warum kannst du dir dann meinen Namen und auch die Namen der beiden Organisationen anhören?", warf Aadil ein, bevor ich auch nur dazu kam, mir den Kopf zu zerbrechen.
"Mein Name bedeutet 'Gerechtigkeit', und ich weiß aus Überlieferungen, dass der Name unserer Organisation so viel wie 'Katze' und der der Karasu so viel wie 'Krähe' bedeutet. Hättest du nicht nach dieser Logik auch diese Bedeutungen die ganze Zeit hören müssen?", fuhr er unnachgiebig fort.
"Wann habt Ihr denn zum ersten Mal von den Namen gehört?", ging Louis dazwischen.
Er schien das Ganze eher aufregend zu finden.
Kurz war ich ungehalten, beantwortete dann aber seine Frage:
"Von den Karasu habe ich das erste Mal in meinem Zimmer gelesen - ich hatte die Schriftzeichen auf dem Mantel gesehen und hatte wissen wollen was sie bedeuteten. Deinen Namen-
Ich sah in Anführer kurz an-
habe ich durch Elias direkt nach dem gescheiterten Angriff des Karasu gehört."
Der Anführer sah seinen Begleiter streng an, doch falls es diesen störte, konnte man es unter der Kapuze auf jeden Fall nicht erkennen.
"Den Namen der Organisation habe ich das erste Mal auch von ihm gehört, als er mir recht ungeschickt erklären wollte, wie ich in Zukunft bei euch eingesponnen werde."
Diesen kleinen Seitenhieb konnte ich mir nicht verkneifen.
"Was sollen diese theoretischen Grübeleien schon bringen?", fragte Elias eingeschnappt.
"Vielleicht nichts - doch wir sollten es im Hinterkopf behalten.", meinte Aadil nachdenklich.
"Wir sollten einmal mit Markus sprechen - vielleicht kommt die Übelkeit auch erst mit dem Alter. Ich kann mich zwar nicht erinnern, dass er jemals über Übelkeit geklagt hätte, aber er war auch noch nie der gesprächigste Mensch."
Louis blies empört die Wangen auf, verkniff sich jedoch einen Kommentar, von dem wohl selbst er verstand, dass er jetzt kindisch gewesen wäre.
"Vielleicht leidet unser 'Schlüssel'-
Elias musterte mich gehässig-
"aber auch einfach nur an einer übermäßigen Migräne und hat etwas Schlechtes gegessen."
Er musste sich einfach bewusst sein, dass das absolut lächerlich klang, nachdem er das bereits das Argument genutzt hatte, um mich hierher zu schleifen. Doch diesmal weigerte ich mich, mich auf dieses Niveau herab ziehen zu lassen und ignorierte ihn.
"Doch das mal beiseite – die Anwesenheit deiner Mutter hat Vorrang. Wie könnten wir sie wieder loswerden und wie hat sie uns überhaupt gefunden?"
"Sie hat uns gar nicht gefunden.", wandte Louis hastig ein.
"Sie sucht nach der Lady, wie ich bereits sagte – die Polizei durchkämmt die Schule und die Umgebung. Sie haben keine Ahnung, dass wir uns so weit weg im Harz befinden."
Seine Augen leuchteten stolz, doch als er mein Stirnrunzeln sah, schlug er beschämt die Augen nieder.
Der Anführer runzelte die Stirn und sah einen Moment hinauf zum Blätterdach.
"Trotzdem - wir müssen sie im Auge behalten. Denn sobald sie versehentlich die Barriere übertreten, könnten sie Dinge sehen, von denen es besser wäre, dass sie nichts davon wüssten."
Ich musterte den dunkelhäutigen Anführer düster.
"Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass sie ausgerechnet bis in den Harz vordringen sollten."
"Sei dankbar dafür."
"Sei dankbar dafür."
Manchmal war es wirklich unheimlich, wie ähnlich die Reaktion zwischen Menschen und Tieren war. Diesmal hatten überraschenderweise Elias und Felicitas dieselben Gedanken zum Ausdruck gebracht.
Von dem Pumaweibchen schlug mir Wut, Blutdurst, und eine dunkle Freude, gemischt mit unerwarteter Sorge entgegen. Elias hingegen klang merkwürdig tonlos - als wäre er mit den Gedanken woanders.
So gerne ich den beiden widersprochen hätte, war mir klar, dass sie Recht hatten. Natürlich wollte ich meine Familie nicht inmitten eines potentiellen Gemetzels wissen.
Doch gleichzeitig konnte ich nicht abstreiten, wie ich meine Mutter und meine Schwester vermisste.
"Ehrenwerteste! Großer Anführer!"
Schon an dieser Anrede erkannte ich, wer da auf uns zugelaufen kam.
"Ich mag es ja nicht, Euch zu stören, doch ich wollte Euch darauf hinweisen, dass Markus auf dem Weg zu Euch ist und ein Gespräch wünscht", schnaufte Quentin und schlug die Augen nieder.
Ich zog verwundert eine Augenbraue hoch.
War das nicht ein etwas zu perfektes Timing, wo wir doch gerade von ihm gesprochen hatten?
Aadil schien zwar meine Meinung zu teilen, sagte aber nichts dazu.
"Worum geht es denn?", fragte er stattdessen.
Der Mann zögerte und war sichtlich nervös.
"Nun, wie soll ich es ausdrücken, Herr. Ich hatte Euer Gespräch zufällig mit angehört und mir gedacht, dass Ihr von einer Beratschlagung mit ihm profitieren könntet."
Der korpulente Mann, der sowieso schon von seinem Lauf gerötete Wangen gehabt hatte, errötete noch mehr und senkte den Kopf ein Stück tiefer.
Elias trat einen energischen Schritt vor und fuhr den Mann an:
"Es mag ja sein, dass Ihr gute Absichten habt, Quentin, aber den Gesprächen Eures Anführers zu lauschen gehört sich nicht, egal wie man es betrachtet."
Aadil schwieg kurz und neigte dann sowohl dankend als auch besänftigend den Kopf in Richtung seines Schattens.
"Auch wenn mein Begleiter sich mal wieder etwas ungeschickt ausgedrückt hat, so hat er doch recht. Ihr solltet nicht so unbedacht Gespräche belauschen, die nicht unbedingt für jedermanns Ohren gedacht sind", fügte der Anführer ruhig zu.
Ein Schweißfilm sammelte sich auf der Glatze des Mannes, doch er erwiderte möglichst würdevoll:
"Natürlich, ich Unwürdiger hätte es wissen müssen. Herr, Erhabene-
Er nickte mir zu.
"Selbstredend werde ich fernbleiben, wenn Ihr dies wünscht und nur noch kommen, solltet Ihr mich rufen."
Überrascht registrierte ich, dass er Elias komplett ignorierte.
"Das ist ein Test. Der Überlebenskünstler will wissen, wie weit ihr beide euch von den restlichen Neko abschotten wollt."
Da es mir immer noch ein wenig leid tat, dass ich die Stute vorhin ignoriert hatte, sagte ich nun:
"Du hast Recht. Auch wenn ich annehme, dass das Aadil ebenfalls bewusst sein wird."
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte Aadil:
"Seht mich an, Quentin."
Der Angesprochene sah überrascht hoch.
"Ich will damit nicht sagen, dass Ihr nicht jederzeit bei Fragen oder Problemen zu mir kommen könnt. Ich bitte Euch lediglich, mit Bedacht vorzugehen, bevor Ihr eigenmächtige Entscheidungen bezüglich der gesamten Organisation trefft. Denn sogar ich muss mich mit meinen Beratern besprechen und die Mehrheit von dem ihnen überzeugen, bevor ich neue Dinge umsetzen kann. Falls Euch daran gelegen ist, selbst mehr am Schicksal der Neko direkt mitzuwirken, dann biete ich Euch erneut an, dem Vertrauenkreis beizutreten."
Elias stieß einen erstickten Laut aus, den ich nicht deuten konnte. Doch diesmal enthielt er sich jeden Kommentars.
Quentin senkte erneut den Kopf und erwiderte unterwürfig:
"Aber Herr! Jemand Beschränktes wie ich könnte doch niemals einem so ehrenwerten Bund beitreten! Das würde doch nur Euer Ansehen in den Schmutz ziehen und das ist das letzte, was ich mir für Euch wünsche - lieber will ich im Hintergrund mit meinen bescheidenen Mitteln ab und an eine Hilfe sein. Es geziemt sich nicht für jemanden wie mich, so im Rampenlicht zu stehen - es gibt nichts, das an mir ein gutes Beispiel neben Euch sein könnte...
Der untersetzte Mann führte seinen Sermon noch eine Weile fort, bis ein hochgewachsener Mann mit blondem Haar und ansatzweise grauen Schläfen zwischen den Bäumen zu sehen war - vermutlich Markus - und Quentin sich mit einer tiefen Verbeugung in Aadil's und meine Richtung verabschiedete und in der Menschenmasse hinter uns verschwand.
"Ihr habt nach mir gerufen, Anführer?"
Auch dieser Mann wirkte respektvoll, aber nicht ansatzweise so kriecherisch wie Quentin.
Der dunkelhäutige Anführer sah seinem Gefolgsmann noch einen Moment hinterher, bevor er sich wieder dem Blonden zuwandte und erwiderte:
"Ich habe dich nicht direkt gerufen, aber du kommst sehr gelegen. Sag, erinnerst du dich noch an unser Gespräch darüber, als ich sagte, du würdest wohl von außerhalb Sprachen gelernt haben?"
Markus runzelte die Stirn, nickte aber.
"Ich erinnere mich. Worauf wollt Ihr hinaus?"
Kurz verdunkelten sich die Augen des Anführers, und ich vermutete, dass es etwas damit zu tun hatte, dass der blonde Mann nicht auf das Angebot eingegangen war, ihn mit einem vertraulicheren 'Du' anzusprechen.
"Wir glauben, des Rätsels Lösung gefunden zu haben. Sowohl dein Sohn als auch Majikku hier-
Er deutete abwechselnd auf uns beide-
"Beschreiben ein Phänomen, das deinem sehr gleicht. Sie können auch beide fließend die Sprachen wechseln, und merken das meist ebenso wenig, wie du das tust."
Der Vater musterte erst einen Nachwuchs mit einer Mischung aus Stolz Besorgnis, und nahm dann mich scharf ins Auge.
"Ihr seid die Magierin, nicht wahr?", meinte er nicht unfreundlich, doch mit einem Mal war eine Wachsamkeit in seinem Blick zu sehen, die vorher noch gefehlt hatte.
Ich neigte zustimmend Kopf.
"Ihr braucht mich nicht zu siezen – zwar ist das höflich, und Aadil würde sich wohl wünschen, dass ich diese Barriere um meiner Autorität willen aufrechterhalte, doch in den letzten Tagen ist mir langsam klar geworden, dass so jemand keine Person ist, der ich mein Vertrauen wirklich schenken würde. Vor allem, da Aadil offensichtlich erwartet, dass Ihr mir gemeinsam mit der gesamten Organisation in einen Krieg folgt."
Ich warf einen vorsichtigen Blick auf den Anführer und fragte mich, ob ich wohl zu weit gegangen war, doch Aadil sah mich nur kurz überrascht an, bevor er seinerseits den Kopf neigte und damit wohl meine Entscheidung respektierte, bevor er sich wieder an seinen Gesprächspartner wandte.
"Das ist sie, Markus. Weißt du etwa bereits Bescheid?"
Der Blondhaarige schüttelte den Kopf.
Mit Erheiterung nahm ich wahr, wie enttäuscht Louis ob dieser Erwiderung war.
"Quentin sagte lediglich, dass Ihr eine wichtige Angelegenheit bezüglich der Magierin mit mir zu besprechen habt, auch wenn ich nicht weiß, wie Euch dabei helfen kann."
Aadil nickte.
"Wir wollen wissen, ob du Übelkeit spürst, wenn du mit den Reisenden sprichst."
Markus schüttelte hastig den Kopf.
"Würde ich das tun, hätte ich wohl früher gemerkt, wenn ich die Sprache gewechselt hätte."
Der Mann legte nachdenklich den Kopf in den Nacken und sah zum Blätterdach auf.
"Wobei, jetzt wo ich darüber nachdenke, gab es wohl doch einige Hinweise. Ich erinnere mich noch daran, wie mich ein Mann 'společný jazyk' nannte."
"Společný jazyk?"
Meine Stimme klang dünner als beabsichtigt, denn es fühlte sich an, als hätte ich mir an dem ungewohnten Wort die Zunge verknotet und ich ahnte bereits, dass der nächste Schwindelanfall nicht lange auf sich warten lassen würde.
Markus sah mich verwundert an.
"Was habt Ihr gerade gesagt?"
Ich lächelte schief, und Aadil lachte donnernd.
"Damit wären wir beim Kern des Problems, mein lieber Markus. Weder du noch dein Sohn oder dieses Mädchen hier scheinen zu merken, wenn einer von euch die Sprache gewechselt. Wir versuchen noch herauszufinden, nach was für Regeln man eine Fremdsprache als solche wahrnimmt oder eine automatische Übersetzung stattfindet", antwortete der Anführer immer noch lächelnd.
Markus' Augen begannen interessiert zu leuchten und plötzlich sah er fast so jung wie sein Sohn aus.
"Das klingt kompliziert", erwiderte er, plötzlich wieder nüchtern.
"Was bedeutet denn nun 'společný jazyk'?", ging ich dazwischen, auch wenn mein Körper mich wohl in fünf Sekunden dafür hassen würde.
"Genau das, was Ihr bereits sagtet: Es bedeutet wortwörtlich so viel wie 'gemeinsame Sprache' und deswegen hat er mich sinngemäß 'Volkszunge' genannt."
Alle außer Markus sahen mich so gespannt an, als sei ich eine tickende Zeitbombe – und war ich das mit meinen unkontrollierten Schwindelanfällen nicht auch irgendwie?
Doch zu unser aller Überraschung und meiner endlosen Erleichterung passierte diesmal nichts.
Konnte das nicht immer so sein? Doch diesmal hatte mein Hirn nichts von allein übersetzt, oder?
Die Erleichterung währte nur kurz, dann vergrub ich das Gesicht in den Händen und stöhnte.
Da mich sofort alle bedrängten, sagte ich schnell:
"Es ist nichts – aber gerade das ist ja das Problem, nicht wahr? Wenn es das nicht ist, wann passiert es denn dann?! Ihr habt ja keine Ahnung, wie anstrengend es ist, ständig gegen Schwindel und Übelkeit zu kämpfen und sich nicht einmal dagegen wappnen zu können!"
Die Männer um mich schwiegen und wirkten betroffen, während ich mir mit schlechtem Gewissen auf die Unterlippe biss.
Und schon wieder war ich nur am Jammern, während die anderen mir zu helfen versuchten – wie erbärmlich.
"Vielleicht sollte ich erst einmal darüber schlafen – dann kann ich vielleicht auch wieder klar denken", meinte ich leise.
"Ich bin einverstanden – eine Sache allerdings noch."
Der dunkelhäutige Mann blickte ernst in die Runde.
"Ihr alle-
Sein Blick schloss sowohl Louis als auch Markus und mich ein-
"solltet euch Notizen machen, wann ihr die Sprache gewechselt. Und wenn ihr einen Verdacht habt, fragt Menschen um euch herum. Wenn ihr alle euch Notizen gemacht, werden wir sicherlich schnell Klarheit erhalten."
Aadil wartete ab, bis ein jeder von uns im Einvernehmen genickt hatte. "Lasst uns dafür Izanami aufsuchen - sie dürfte eine der wenigen sein, die an solche Dinge wie Papier gedacht haben."
Der Anführer lächelte etwas gezwungen.
Ich richtete mich etwas auf, trotz der Erschöpfung.
Das dürfte eine der wenigen Gelegenheiten sein, nur mit ihm und der Heilerin zu sprechen.
Doch in all meiner Begeisterung dämpfte mich Felicitas:
"Mag ja sein, dass mich die alte Schachtel gerettet hat, doch deswegen werde ich noch lange nicht friedlich im Raum mit dieser Brudermörderin sein, solange es nicht sein muss."
Erneut wollte mich Erschöpfung in ihren allumfassenden Griff ziehen.
"Hör zu, Felicitas. Kann ja sein, dass ihr beiden noch eine Rechnung offen habt, doch ich brauche Antworten. Ich werde versuchen, Izanami zum Gespräch in einen anderen Raum zu bringen, aber ich bezweifle, dass sie meiner Bitte Gehör schenken wird - also reiß dich bitte zusammen."
Das Pumaweibchen knurrte lediglich als Antwort.
Soll sie mich doch kindisch finden - doch das geht weit darüber hinaus, dass man einander einen dummen Jungen-Streich gespielt hat.
Erneut konnte ich den Geruch aus ihren Erinnerungen wahrnehmen, diesmal jedoch vermischt mit fassungslosem Entsetzen, Unverständnis und Wut.
Im gleichen Maße wie meine Neugier, wuchs auch meine Bestürzung.
Was hatte Nyoko bloß getan?
Ich spürte wie aus weiter Ferne die Befriedigung der Raubkatze, die es mir natürlich wieder einmal ein wenig übelnahm, dass ich ihre Erinnerungen gesehen hatte.
Kurz überlegte ich, ob ich mich entschuldigen sollte, doch dann fiel mir wieder ein, dass es sinnlos war.
Zum einen würde sie mir sowieso wieder nicht glauben, dass das ein Versehen gewesen war und zum anderen würde sie schon bald in meinen Gedanken herumstöbern. Da durfte sie genauso gut wissen, dass ich ebenfalls immer noch nicht gut auf die Ratgeberin des Anführers zu sprechen war.
"Zeitverschwendung", murrte Elias, dem es ganz offensichtlich nicht passte, von etwas so Wichtigem ausgeschlossen zu sein.
Doch glücklicherweise ging diesmal niemand auf ihn ein, nicht einmal die immer noch wütende Felicitas.
Stattdessen nickten alle anderen, und der kleine Tross setzte sich in Schrittgeschwindigkeit in Bewegung.
Um mich vom Einschlafen abzuhalten, fragte ich Aadil:
"Könnte ich Tanja kennen lernen?"
Der Anführer warf mir einen überraschten Blick zu.
"Natürlich. Aber wieso?"
Ich lächelte schief.
"Vermutlich ist sie euch gegenüber loyal und dementsprechend nicht so unparteiisch, wie ich es im Moment gerne hätte - aber man muss eben mit dem vorliebnehmen, was man kriegt."
Misstrauen und Skepsis kehrten schneller als erwartet in ihre Gesichter zurück und verletzten mich tiefer, als sie es wohl sollten.
Darum fuhr ich schnell fort:
"Hört zu, zwar ist Situation für uns alle auch überfordernd, aber wir hatten schon Tage Zeit, uns mit dem Gedanken zu befassen, den Test durchzustehen. Allerdings finde ich, dass wir mehr Meinungen einholen sollten, ob das sinnvoll und wünschenswert ist. Als damals alle freudig zugestimmt haben, waren sie wie im Rausch und ich glaube kaum, dass immer noch alle so begierig sind, sobald sie sich alleine in ihren regennassen Zelten befinden. Aber vielleicht irre ich mich auch - deswegen ist es so wichtig, noch mal mit jemand vergleichsweise Unbeteiligten zu reden."
Der Mann auf dem Grauschimmel sah mich überrascht und mit neuem Respekt in den Augen an, bevor er innerhalb kürzester Zeit ein zweites Mal zustimmend den Kopf neigte.
"Du hast recht, Majikku. Das sollte eigentlich meine Aufgabe sein, doch ich merke in letzter Zeit, dass mir oft das Wesentliche nicht mehr auffällt."
Nun sah ich Aadil überrascht an.
Wie es aussah, hatte ich mir wohl endlich etwas mehr von seinem Respekt verdient. Sonst hatte mich der Anführer ebenso wie die anderen nur im Affekt bei meinem Namen genannt und sich sonst in gewisser Weise von mir distanziert, indem er mich 'Schlüssel' oder 'Magierin' genannt hatte.
Natürlich konnte es sein, dass es nicht einmal gemerkt hatte.
Ich sollte mir wohl nicht allzu viel darauf einbilden, doch in gewisser Weise baute es mich mehr auf als viele andere Dinge, die in dieser kurzen Zeit passiert waren.
Nun mischte sich überraschend Markus wieder in das Gespräch ein:
"Ja, richtig, im Lager geht das Gerücht eines Tests um. Ich selbst war zu weit entfernt, um die Ansprache Eurer Beraterin zu hören. Inzwischen haben sich die Tatsachen so sehr verselbstständigt, dass niemand mehr wirklich in der Lage ist, sie von Mythen zu trennen. Ist es beispielsweise wahr, dass blutrünstige tote Seelen uns übernehmen werden?"
Der blonde Mann zog selbstironisch eine Augenbraue hoch, doch seine Augen blieben ernst.
Aadil verzog das Gesicht und sah den älteren Mann an, wobei sein Ausdruck die gleiche Mischung aus Selbstironie und Ernst widerspiegelte.
"Ja und nein. Damit ist es wohl wie mit so vielen Gerüchten - es ist nicht gelogen, sondern enthält einen kleinen Teil der Wahrheit, der jedoch aus dem Kontext gerissen und verzerrt ist, sodass er nicht mehr mit den Tatsachen übereinstimmt."
Markus wirkte noch verwirrter als zu Beginn seiner Frage, doch er schwieg.
"Es ist korrekt, dass bei diesem Test die Möglichkeit besteht, sich in ein gewünschtes Tier zu verwandeln - dabei scheint es so zu sein, dass man beim zweiten Mal eine bereits verstorbene Tierseele in sich aufnimmt. Dazu zählen sogar vergangene Erinnerungen. Wie blutrünstig diese Tiere sind, hängt wohl ganz von ihrer Vergangenheit und ihrem Charakter ab, ähnlich wie bei Menschen."
Dabei sah Aadil mich vielsagend an, als warte er auf eine entsprechende Ergänzung.
"Das stimmt", fing ich an.
"Manche sind angriffslustig, andere verspielt und wieder andere einfach nur grausam. Und wieder andere..."
Plötzlich konnte ich nicht weitersprechen, denn die Geschichte der Schlange rührte mich mehr an, als ich zugeben wollte.
"Wieder andere?", fragte Louis neugierig.
Ich senkte meinen Blick auf die Mähne von Ayita – ich konnte ihnen nicht in die Augen sehen.
"Eine von ihnen ist freiwillig ... weitergegangen."
Schweigen senkte sich über die Gruppe.
"Wie ist es passiert?", fragte Aadil schließlich vorsichtig.
Was war denn das für eine Frage? Wie? Mich beschäftigte Moment eher das warum.
"Ich konnte sie nicht aufhalten. Sie ist mir einfach... entglitten", antworte ich trotzdem.
Meine Stimme krächzte, sodass ich sie kaum selbst wiedererkannte.
"Was soll das heißen?! Hast du einfach zugesehen und Däumchen gedreht?! War wohl ziemlich bequem, dass du keinen weiteren Vertrag abschließen musstest-
Ich würde nicht behaupten, dass ich schon sonderlich viel vom Training mitgenommen hatte, oder sich gar Bewegungsabläufe eingeprägt hätten.
Doch als Elias mir diesen Vorwurf an den Kopf knallte, hatte ich den Bogen so schnell wie noch nie in meinen Händen und auf ihn gerichtet, bevor ich auch nur einen bewussten Gedanken zugelassen hatte.
"Noch ein Wort..."
Ich ließ die Drohung unausgesprochen, sodass sie sich wie eine schwere Decke zwischen uns ausbreitete.
Es da begann mein Hirn wieder zu arbeiten und ich war entsetzt von mir selbst.
Bevor ich den Bogen jedoch sinken lassen konnte, registrierte ich eine überraschende Konstellation:
Aadil hatte seinen Grauschimmel wenden lassen und zwischen uns gestellt, wobei er wütend und enttäuscht auf seinen Schatten hinabsah. Elias hatte im ersten Moment - wohl reflexartig - sein Schwert gezogen, ließ es jedoch fallen und hob die Hände. Ich hätte gewettet, dass er unter der Kapuze nun überrascht, verletzt und vielleicht sogar ein wenig beschämt aussah.
Louis starrte Elias erschrocken an, während er tief getroffen wirkte. Er musste wohl so etwas wie ein Vorbild in ihm gesehen haben, dass sich nun anders verhielt als erwartet.
Sein Vater dagegen, starrte unschlüssig zwischen Elias und mir hin und her, die Hand an der Waffe. Dabei schien er vor allem abzuwägen, ob Aadil eine Gefahr drohte.
Verwundert wollte ich den Bogen vollends sinken lassen, und fing an:
"Hört zu, es-
"Nein, warte", unterbrach mich Aadil hart.
"Ich habe dir vieles durchgehen lassen, da du als Leibwächter und Mitglied des Vertrautenkreises auch einer großen Belastung ausgesetzt bist – doch das hier geht entschieden zu weit, Junge."
Elias versteifte sich, und auch ohne seine Augen zu sehen, erkannte ich den Trotz in seiner Haltung.
Der Anführer streckte die Hand aus.
"Gib mir dein Schwert."
Elias keuchte erschrocken auf.
"Aber-
"Ich werde mich nicht wiederholen", unterbrach Aadil ihn leise.
Mit einem Mal wirkte der Reiter größer, düster und mächtig und ich ahnte zum ersten Mal, warum sie ihn zu ihrem Anführer gemacht hatten.
Langsam und mit vor Widerstreben eckigen Bewegungen nahm Elias sein langes Schwert vom Boden auf. Als er es scheinbar ungerührt in die Scheide steckte, verdüsterte sich die Miene des Anführers.
Doch nach einigen spannungsgeladenen Moment schnallte Elias den Schwertgurt ab und reichte ihn Aadil.
Ohne Regung im Gesicht fuhr der Dunkelhäutige fort:
"Offenbar musst du erneut lernen, was es bedeutet, ein Schwert zu tragen. Solange, bis du weißt, wofür du es ziehst, wird Saile in meiner Obhut verblieben. Außerdem bist du bis auf Weiteres aus dem Vertrauenkreis ausgeschlossen."
Elias gab einen Laut des Protests von sich, doch Aadil beachtete ihn gar nicht.
Den Schwertgurt über den Sattel gelegt, wendete er den Grauschimmel und musterte beifällig meinen immer noch gezogenen Bogen.
"Meinetwegen kannst du ihm eine Lektion erteilen – diesmal er es verdient", meinte er ungerührt.
Überrumpelt von Aadil's drastischer Bestrafung und von der damit verbundenen Sympathiebekundung mir gegenüber, ließ ich den Bogen nun doch sinken.
Es kam mir kindisch vor, ihn jetzt noch selbst bestrafen zu wollen, doch meine Wut war noch nicht verraucht.
Also sagte ich zu Elias:
"Hast du jemals die Gedanken und Gefühle von jemandem gefühlt, der sterben wollte? Ich jedenfalls nicht – ich hatte keine fünf Sekunden, doch in diesen wenigen Momenten war ich kurz davor, mir selbst ein Messer in den Schädel zu jagen, um dem Leid ein Ende zu setzen."
Aadil und Louis starrten mich erschrocken an, sogar Markus wirkte beunruhigt, doch ich registrierte leidglich Elias' aufkeuchen wirklich.
"Alles war anstrengend, mein Körper schwer und taub und die Trauer um ihren Gefährten und die drei Jungen hatte sie so sehr gefangen, dass sie nie mehr gefressen hätte.
Die Mutlosigkeit und die Verzweiflung hatten meine Welt farblos gemacht und der Schmerz war so übermächtig, dass ich meinte, den Verstand verlieren zu müssen", fuhr ich mit hartem Klang in der Stimme fort.
"Und als ich wieder begriff, dass das nicht meine eigenen Gefühle und Gedanken waren und ich anfing, ihr zu sagen, warum ich sie brauche, hat sie nicht einmal reagiert."
Ich musste schlucken, denn plötzlich war meine Kehle eng.
"Wie hätte ich sie da zurück in ein zweites Leben zwingen können? Und das war auch das Einzige, was ich ihr gesagt habe - dass ich sie nicht zwingen werde.
Ich habe sie nie aufgefordert, mich zu verlassen, bloß, um es mir leichter zu machen."
Nun erhob ich die Stimme wieder.
"Wir werden ja sehen, wie du dich bei deinem Gefährten verhältst. Und selbst, wenn das Tier eine bösartige Bestie ist, glaub ja nicht, dass es so einfach wird, etwas in dir zu töten.
Solange du noch von nichts eine Ahnung hast, solltest du also einfach deine große Klappe halten."
Da ich vor Wut und Schuldgefühlen mit einem Mal nicht mehr weitersprechen konnte, widmete ich mich dem Bogen und verstaute ihn wieder – sicher, aber in Griffweite.
"Ihr solltet das wohl vorerst für Euch behalten", brach Markus überraschend das spannungsgeladene Schweigen.
Der blonde Mann sah nachdenklich und etwas beunruhigt zu mir und Aadil auf.
"Ich glaube nicht, dass die Mitglieder einen Zweikampf oder anderweitige Existenzkrisen in ihrem Körper bei dem Test erwarten."
Ich lachte bitter auf, verkniff mir jedoch einen zynischen Kommentar.
Faruk einmal beiseite genommen, was war denn der Vertrag mit Felicitas gewesen? Ein kurzzeitiger Waffenstand in einem stundenlangen Kampf um die Herrschaft in ihrem Körper.
"Möglicherweise."
Dieses leise Wort von Aadil riss mich wieder aus meinen Gedanken.
"Ich bin dagegen."
Erneut sahen mich alle überrascht an und diesmal wurde mir dabei unbehaglich.
"Ich bin eindeutig dagegen", verlieh ich meiner Aussage Nachdruck, "denn nicht jeder ist grausam, hinterlistig oder aggressiv."
Ich sah in die Runde und sah nur vereinzelt Verständnis aufblitzen.
"Versucht euch doch an die Stelle derjenigen zu stellen, vor denen ihr es verheimlichen würdet. Ich jedenfalls würde uns dafür hassen, ins kalte Wasser geschmissen worden zu sein. Jeder sollte für sich entscheiden, ob er oder sie diesen Kampf aufnehmen will - ohne versteckte Gefahren."
Diesmal runzelte der Anführer die Stirn.
"Normalerweise bin ich auch ein Freund der Ehrlichkeit - allerdings haben wir ja bereits an Markus gesehen, dass die einfachsten Gerüchte die wildesten Triebe hervorbringen und die Wahrheit furchtbar verzerren können. Wer weiß, was dann für Gerüchte aufkommen - niemand wird mehr den Test machen wollen, bevor sie selbst auch nur die Erfahrung gemacht haben."
Ich zuckte mit den Schultern.
"Und wenn schon - Gerüchte werden sich so oder so verbreiten. Selbst wenn nicht jeder den Test machen will, werden die Warteschlangen noch lang genug sein. Und wenn dann genug positive Berichte die Runde machen, wird die Zahl der Teilnehmer noch weiterwachsen. Eure Ehrlichkeit wird euer Trumpf sein - zu oft schon sind weitaus kleinere Beziehungen aufgrund von Heimlichkeiten zerbrochen."
"Du machst es dir aber auch mal wieder ziemlich einfach, Schlüssel. Du hast ja schließlich auch nicht das Problem, wenn Mitglieder der Neko abspringen oder sich gar unseren Gegnern anschließen."
Ich warf Elias einen giftigen Blick zu.
"Das mag sein - ich versuche nur, euch auf mögliche andere Probleme hinzuweisen, und euch meine Abwägungen zu erklären."
Wir diskutierten noch gut eine Stunde über mögliche Vor- und Nachteile, bis wir einen guten Rastplatz fanden.
Aadil hätte sicherlich das Gespräch noch weitergeführt, hätte ich ihm nicht klargemacht, dass wir uns bereits seit einer Viertelstunde im Kreis drehten und er mir außerdem ausreichend Schlaf versprochen hatte. Doch selbst nach einer erstaunlicherweise kurzen Diskussion wollten meine Gedanken nicht zur Ruhe kommen.
"Kannst du mir verzeihen, wenn wir jetzt nicht zur Jagd gehen? Ich bin so müde, dass ich fürchte, dich dabei nur zu stören."
Ein unwilliges, aber nicht aggressives Knurren war die Antwort.
"Morgen muss ich aber auf jeden Fall mit Tanja sprechen, außerdem mit der Heilerin und auch mit Nyoko wieder so weit ins Reine kommen, dass wir trainieren können. Ich muss unbedingt herausfinden, wie die Magie dieser Volkszunge funktioniert und außerdem muss ich endlich anfangen, den Bogen von dem Rücken der Stute aus zu benutzen - es wäre gut zu wissen, wie weit das Mal der Schützin das Bogenschießen mich übernimmt. Zusätzlich-"
"Mensch", knurrte da plötzlich Felicitas.
"Ja?", fragte ich etwas verwirrt.
"Man kann auch zu viel nachdenken, besonders mit einem so kleinen Schädel. Jetzt leg dich hin - du kannst morgen immer noch erledigen, was dir durch den Kopf geht. Außerdem bekomme ich nur unnötig Hunger, wenn du mich mit deinen Grübeleien wachhältst."
Ein weiterer Punkt auf meiner Liste - wann war Felicitas bewusst in meinen Körper und nahm meine Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse wie zum Beispiel Hunger war wann nicht? Konnte ich das irgendwie blockieren? Konnte ich-
"Majikku."
Ich hatte mit gefalteten Händen an meine Zeltdecke gestarrt, als plötzlich ein Knurren den Raum füllte. Außerdem hatte sich eine meiner Hände in eine ihrer Pranken verwandelt, und die andere leicht mit den Krallen geschnitten.
"Genug jetzt."
Ich schmunzelte leicht.
Manchmal benahm sie sich doch erstaunlich fürsorglich.
"Glaub doch was du willst, du schwaches Menschlein."
Das zweite Knurren war nur noch in meinem Kopf und bevor ich mir eine passende Erwiderung einfallen lassen konnte, war ich schon eingeschlafen.
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Ich hoffe, es gefällt euch.
Eure Nuoli
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