2. Robin Hood
Majikku
Der Klang meines Weckers riss mich abrupt aus meinem Schlaf, sofort war ich wach, wenn auch mein Körper und meine Zunge es nicht waren.
Ich schwang die Beine aus dem Bett und meine Stirn durchzogen Furchen, als ich die Krücken erblickte. Missmutig starrte ich sie an, als könnten sie dadurch verschwinden. Mir taten alle, denen ich heute noch begegnen würde, jetzt schon leid.
Meistens hatte ich Tage, da war mir meine Behinderung egal, ich nahm sie sogar mit Humor, bezeichnete sie als Bonus und stellte fest, dass ich ohne sie nicht Ich wäre. Ich meine, wer konnte schon von sich behaupten, dass er beim Schreiben von Arbeiten die Hälfte der eigentlichen Zeit noch einmal obendrauf bekam? Nachteilsausgleich nannte sich das und meist war ich wirklich froh über diesen.
Manchmal jedoch, so wie heute, wünschte ich meine Behinderung zum Teufel und nicht zum ersten Mal spielte ich mit dem Gedanken, was wohl mit der Welt passieren würde, wenn Behinderte und ‚normale' Menschen tauschen würden, zumindest für ein Jahr.
Würden sie mehr behindertengerechte Einrichtungen schaffen? Das würden sie dann wohl müssen, wenn sie nicht wollten, dass die Mehrheit der Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Würden die Krankenkassen schneller arbeiten, um Hilfsmittel, Ausweise, Rezepte für Medikamente, orthopädische Schuhe und die ganzen anderen Dinge, von denen ich nicht einmal etwas ahnte, für diesen neuen Ansturm von Menschen bewilligen zu können? Würde sich die Rente aufgrund der größeren Nachfrage von Hilfsmitteln im Alter erhöhen? Und da hatte ich diejenigen, die jetzt schon alt waren und nicht mehr von ihren Kindern und Enkelkindern besucht und versorgt werden konnten, noch ganz außen vor gelassen. Was würde sich wohl noch alles ändern und was würde, entgegen meines Denkens, so bleiben? Schließlich war auch die Psyche ein beachtlicher Teil des Menschen. Würde man sich aufmerksamer gegenüber früheren Kleinigkeiten zeigen, sobald es vorüber war? Würden die Menschen Behinderten also eher unter die Arme greifen? Und wie würden die Menschen mit der Behinderung im Alltag umgehen? Würden sie verzweifeln, wütend werden, unfähig zu glauben, dass ihnen das passierte oder resigniert ihr Schicksal als Karma bezeichnen und annehmen?
Als mich der Gedanke an gereizte, beinahe panische Gesichter auf makabrere Weise erheiterte und ein humorloses Lächeln auf meinem Gesicht erschien, wusste ich, dass ich heute so wenig wie möglich reden musste, um nichts Falsches zu sagen.
Also stützte ich mich am Bett ab, während ich aufstand, die Beine immer noch an diesem und machte mich schon jetzt entnervt daran, in den Alltag zu starten.
Ich packte die vom ständigen Gebrauch glatten Krücken und stiefelte ins Bad.
Mein Gesicht verzog sich, als ich ein vierzehnjähriges Mädchen mit verknoteten, blonden Haaren und vor Zorn dunklen, blauen Augen erkannte. Mich selbst.
Obwohl das noch seltener war, als das ich mir meine Behinderung hinfort wünschte, stellte ich fest, dass ich nicht in die Schule gehen wollte. Lieber würde ich jetzt schwänzen und mich mit ein paar fiktiven Schlägern prügeln. Doch meine Mutter hätte das niemals zugelassen, also versuchte es gar nicht erst, sondern versuchte meine Energie darauf zu verwenden, die Wut in mir ein wenig abklingen zu lassen.
Wie sich später herausstellte, sollte das ein vergebenes Unterfangen sein, denn ich war sofort wieder auf Hundertachtzig, als mich der Busfahrer wieder einmal mit seiner unverwechselbaren Art begrüßte:
„Guten Morgen! Nicht so grimmig, lächeln!"
Und dabei grinste er selbst wie ein Vollidiot, während ich sofort erkannte, dass es seine Augen nicht erreichte. Es war falsch.
Gerade noch konnte ich einen genervten, aber auch enttäuschten Seufzer unterdrücken.
Dieser Busfahrer war extra für Schulkinder organisiert, die nicht selbstständig zur Schule kommen konnten, wie etwa Autisten, geistig und, so wie ich, körperlich Behinderte. Und da es davon im Umkreis nicht so viele gab, hatte ich gehofft, dass zumindest der Busfahrer ein wenig auf mich eingehen könnte. Mich wenigstens so akzeptierte, wie ich war, anstatt an dem für mich typischen Sarkasmus zu nörgeln. Oder wirklich lächelte. Doch offenbar sollte dem nicht so sein.
„Hey! Wo bleibt mein Lächeln?", wollte er mich zurückrufen, doch ich ignorierte ihn, stieg über die Rampe in den Bus und setzte mich an den Fensterplatz.
Schweigend fuhren wir zur Schule und ich zwang mir ein falsches Lächeln auf meine Züge als er die Rampe herunterklappte. Als Belohnung schien er wirklich zu lächeln, doch vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.
Der restliche Tag verlief ereignislos, lediglich die Blicke, die wie immer auf mir lagen, spürte ich heute deutlicher, so, als seien sie plötzlich schwerer geworden.
Immer wieder wurde ich von meinen Familienmitgliedern gefragt, ob ich die Blicke nicht bemerkte und ich erwiderte jedes Mal, dass ich sie ignorierte. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Ich ignorierte sie, ja, aber sie nagten an mir, ließen mein Selbstbewusstsein verschwinden, Zweifel aufkommen und sorgten dafür, dass ich die Menschen immer mehr für dieses Glotzen verachtete.
Umso erleichterter war ich, als ich Stunden später den Gehwagen gegen den Rollstuhl eintauschen und zum Bogenschießen fahren durfte.
Die Krücken benutzte ich aus Platzgründen im Haus, ein Paar im Erdgeschoss und eines im ersten Stock, wo sich mein Zimmer befand, den Gehwagen in der Schule und auch sonst, wenn ich nicht zuhause war und den Rollstuhl verwendete ich zum Bogenschießen oder wenn sicher war, dass ich stundenlang laufen müsste, wie etwa bei einem Ausflug. Frei konnte ich nicht stehen, aber da man beim Bogenschießen beide Hände brauchte, musste ich dafür im Rollstuhl sitzen. Allerdings muss erwähnt sein, dass es reichte mir eine federleichte Stütze zu geben, wie etwa, dass ich meine Hände in jemand anderes legte, ohne mich wirklich auf sie zu stützen, um laufen zu können. Also könnte man fast sagen, dass die Psyche einen großen Teil meiner Behinderung ausmachte. Wobei ich trotzdem nicht so gelenkig war, wie man normalerweise war und ich einen extrem instabilen Gleichgewichtssinn hatte, so, als balancierte ich durchgehend auf einem Seil, weswegen es unmöglich war, mehr als ein paar Schritte frei zu gehen, bis ich entweder hinfiel oder einen Halt brauchte.
Aber wissen tat das niemand außer meiner Familie, denn niemand in der Schule wechselte mehr als ein paar Worte mit mir und selbst die waren zögerlich und unsicher.
Sicher war das auch meine Schuld, aber nicht nur. Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie ich im Kindergarten als Erste zu sprechen anfing, wahrscheinlich, da mir nur meine Stimme zur Verfügung stand, um zu verlangen was ich wollte, wenn ich es mir nicht selbst holen konnte. Damit hatte ich mich selbst ausgegrenzt, wenn ich es auch nicht sofort bemerkte. Ich hatte Erzieher, mit denen ich mich unterhielt und ich war glücklich, sogar die anderen Kinder sprachen langsam mit mir. Doch in der Grundschule wurde das anders. Ich kannte niemanden, da ich die einzige aus diesem Kindergarten war und alle mieden mich, wobei ich selbst jetzt im Nachhinein nicht sagen konnte, ob sie das aus eigenem Antrieb taten oder ob das ihre Eltern von ihnen verlangten. Sie behaupteten immer so etwas wie, dass ein Spiel nur zu dritt zu spielen sei und sie schon zu dritt seien, doch später nahmen sie noch jemand anderen dazu. Und selbst wenn einmal jemand mit mir spielte, war es einmalig, denn den Kindern gingen die Sonderregeln, die sie für mich erfinden mussten, auf die Nerven und dann wollten sie beim nächsten Mal nicht mehr mit mir spielen. Die einzige, die immer zu mir hielt, war meine Schwester. Doch auch sie hatte Freunde und wollte mit denen spielen und nicht ständig mit mir, wenn ich mal wieder allein war. So saß ich meist allein auf der Bank, verfluchte sie alle und zog mich immer mehr in mich selbst zurück.
Der Unterricht war dann so etwas wie eine Erlösung für mich. Er war und würde immer bleiben. Er würde mich nie verlassen oder mir in den Rücken fallen.
Und am Allerwichtigsten:
Ihn kümmerte es nicht, wie ich aussah, ob ich frei laufen konnte oder ob man mit mir normale Spiele spielen konnte.
Also ließ ich mich immer tiefer in ihm versinken, lernte ständig, konzentrierte mich voll und ganz auf den Unterricht, vermutlich, um nicht über fehlende Beziehungen nachdenken zu müssen, genoss es, ein Lob nach dem anderen zu bekommen und überholte so die anderen, was den Unterricht anging, fast, ohne es zu bemerken.
Daraus folgte dann auch, dass ich als Streberin abgestempelt wurde und auch zuhause allein war, denn wie sollte man ohne Freunde mit ihnen spielen? Und das zog sich dann auch über die erweiterte Schule, dort war es größtenteils meine Schuld, dass niemand mit mir sprach, da ich es nicht riskieren wollte verletzt zu werden, doch auch sie machten keinerlei Anstalten, mich in ihre Reihen aufzunehmen. Meine Hobbys waren 'für jemanden wie mich', wie einige es ausdrücken zu pflegten, eher ungewöhnlich, zumindest für Außenstehende. Wie gesagt schoss ich mit dem Bogen, aber ich schwamm auch, hatte sogar ganz normal mein erstes Schwimmabzeichen gemacht. Im Wasser war ich nämlich leichter, außerdem bot das Wasser zusätzlich genug Widerstand, dass ich darin frei laufen konnte und das war es, was ebendieses so himmlisch für mich machte. Und jetzt fuhr ich gerade zum Bogenschießen im Freien.
Endlich angekommen, suchte ich mir alles zusammen, was ich brauchte. Mittelstück, Wurfarme, Sehne, Visier, Köcher, Pfeile, Fingerschlaufe und Fingertab und Arm- und Brustschutz. Ich bespannte den Bogen, schnallte mir den Köcher um und steckte Fingerschlaufe und -tab an meine Hände.
Schließlich rollte ich zur gepflasterten Schießlinie und brachte mich seitlich vor einer zehn Meter entfernten Scheibe in Position. Sorgfältig rief ich mir noch einmal alles ins Gedächtnis, was man mir über das Bogenschießen beigebracht hatte.
Ich hob den Bogen, den rechten Arm ausgestreckt, mit offenen Fingern, den Bogen mit dem Ziehen der Sehne in die Hand drückend. Ziehen, Spannung in den Armen aufbauen sodass die Schulterblätter zusammengehen und Schuss. Und schlussendlich drei Sekunden nachhalten, um den Schuss nicht zu verreißen, ohne auf die Scheibe zu schauen.
Erst jetzt senkte ich den Bogen und starrte verdutzt auf die Schießscheibe, wo der hässliche Karbonpfeil im Gold der Papierauflage steckte.
Glück., dachte ich nüchtern, erlaubte mir trotzdem ein kurzes Lächeln.
„Pah, das kann doch jeder! Schau her, Jonas, ich kann das sogar besser!", hörte ich den zehnjährigen Jungen vor mir prahlen.
Nur zu gut kannte ich das Verlangen, sich zu beweisen und gut in etwas zu werden, doch wenn er weiterredete, würde er den Schuss sicher nicht hinbekommen, den dadurch, dass man den Kiefer bewegte und die Bogensehne dort anlag, musste er sich ständig auskorrigieren und das kostete Kraft, die ein Zehnjähriger nicht aufbringen konnte.
„Wenn du den Bogen noch länger hältst, wirst du nicht still genug halten können. Setz ihn ab.", riet ich ihm freundlich.
Der Junge schnaubte und zog einmal kräftig am Bogen, wobei seine Schultern bebten.
Schulterzuckend nahm ich einen neuen Pfeil und ersparte ihm so die Schmach, die sich Jonas nicht nehmen ließ:
„Hahaha, du Lusche hast ja nicht einmal ins Rote getroffen! Soviel zu: Ich kann das besser!"
Freunde schenken sich wohl nichts, hm?, dachte ich bedrückt.
Verärgert über den Fehler, sich ablenken zu lassen, harkte ich den Pfeil einmal aus und wieder ein. Konzentration. Alles andere ausblenden. Ausrichten, spannen, Kraft aufbauen, Schuss, halten.
Merkwürdig knirschend fand der Pfeil sein Ziel und mir klappte die Kinnlade herunter, als ich einen Robin Hood erkannte. Ich hatte einen Pfeil in den anderen geschossen, wie die Profis! Mindestens so überrascht wie ich waren die Jungs und etliche andere Erwachsene. Selbst für die geduldigen unter ihnen war ich schon als hoffnungsloser Fall abgetan worden, obwohl ich ständig an mir arbeitete.
„Glückwunsch, Majikku!", waren ihre Reaktionen, während mich die Jüngeren neidisch nach dem großen ‚Wie?' fragten.
Plötzlich begann mein linker Unterarm zu brennen und wenn meine rechte Hand nicht mit der Schlaufe am Bogen festgemacht wäre, hätte ich ihn sicher fallen gelassen. Angeschossen, also mit der Bogensehne den bei mir rechten Haltearm getroffen haben konnte ich nicht, es war schließlich der Linke, der brannte. Bevor ich jedoch weiter darüber rätseln konnte, kam die Trainerin vorbei.
„Glückwunsch, hoffentlich erlebst du noch viele Erfolge.", sagte sie freundlich, schien aber ebenfalls überrascht.
Ich lächelte mit roten Wangen.
„Ach was, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn. Ich werde ihn einrahmen, dass funktioniert sicher nicht nochmal.", erwiderte ich verlegen.
„Darf ich meine Scheibe weiter nach hinten stellen?", fragte ich nach einer Weile.
Die Trainerin und auch die anderen Schützen schienen ob meines Übermuts nicht begeistert, letztendlich erlaubte sie es mir aber trotzdem, da ich mir heute die Scheibe mit niemandem teilen musste, der noch bei der vorherigen Distanz bleiben wollte oder musste.
Als ob ein Schalter in meinem Innern umgelegt worden war, schoss ich die nächsten zwei Pfeile in einer Entfernung von fünfzehn Metern wieder ineinander und konnte niemandem die Frage beantworten, woher dieses plötzliche Talent kam, weder der verdutzten Trainerin, noch den neidischen Jungs und am wenigsten mir selbst.
Noch einmal ließ ich mir die Scheibe insgesamt zwanzig Meter nach hinten schieben und verschoss meine letzten beiden Pfeile erneut als den dritten Robin Hood.
„Ich denke, das reicht für heute.", erwiderte die Trainerin schließlich – ich verstand nur zu gut, dass sie weiteres Aufsehen vermeiden wollte.
Wie gelähmt stimmte ich zu, denn auch ich mied nach Möglichkeit das Rampenlicht, auch wenn das wegen der Behinderung selten klappte. Als ich in Mutters Auto stieg, die Blicke aller im Rücken, kam mir da erst die Erkenntnis – mit einem Mal konnte ich so gut schießen, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Nun war mein Selbstwertgefühl beachtlich gestiegen und ich konnte mich der Illusion hingeben, mich mit dem Sportbogen gegen eventuelle Fieslinge verteidigen zu können.
Gutgläubig wie sie manchmal war, glaubte Mutter dass ich heimlich trainiert hatte, um es allen zu zeigen und lächelte seit Langem auf der Fahrt nach Hause wieder gemeinsam mit mir.
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Und direkt die zweite Überarbeitung, weiter bin ich allerdings noch nicht.
Schönes Wochende
Nuoli
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