19. Stöcke und Gesangsbücher
Ein Blitz erhellte den ansonsten dunklen Saal. Kurz darauf folgte der Donner, als wolle er die entstandene Stille füllen.
"Du weißt, warum du hier bist?"
Die Stimme klingt kalt, unerbittlich.
Doch abgesehen davon zeigte die Gestalt auf dem Sitz keinerlei Regung.
Die vor dem Thron kniende Gestalt senkte ihren Kopf noch weiter.
"Mir sind meine Fehler bewusst – auch wenn ich mir nie anmaßen würde, meine Urteilskraft mit der Euren zu vergleichen und zu glauben, ich könnte Eure Beweggründe verstehen, Sensei."
"Du hast zuerst dieses interessante Mädchen dort gelassen, wo du es gefunden hattest. Und dabei hatte ich die ausdrückliche Anweisung gegeben, alles Interessante hierher zu bringen. Dann hattest du diesen unglaublichen Glücksfall, sie direkt im Wald wieder einzufangen. Ich dachte, ich belohne dich bei deinem Glück damit, dass Mädchen auf seine Magie zu untersuchen."
"Es tut mir untertänigst leid, dass meine beschränkten Fähigkeiten-"
"In der Tat, deine Fähigkeiten sind sehr beschränkt. Hätte ich das einem erfahreneren Magier überlassen, hätte ich nie angeordnet, sie in einer Tiergestalt freizulassen. Es ist also dein Fehler, dass uns dieser Triumph nicht mehr gehört."
Der nächste Donnerschlag schien die versteckte Bedrohlichkeit in den ruhigen Worten der Gestalt nur noch unterstreichen zu wollen.
"Und gleich darauf enttäuscht du mich erneut: Du gibst dir nicht einmal genug Mühe, das Mädchen richtig in dem Tierkörper einzusperren - die konnte bereits innerhalb von Stunden wieder zu ihrer menschlichen Gestalt zurückfinden."
Die Gestalt am Boden hatte sich inzwischen auf den Boden geworfen.
"Sensei, wenn ich das irgendwie wiedergutmachen-"
"Schweig!"
Die Gestalt auf dem Thron hatte sich nicht bewegt, doch ihre Stimme war merklich lauter geworden.
"Als ich dir dann die einmalige Chance gegeben habe, das Mädchen zurückzuholen, hast du erneut versagt und dir von einer Amateurin sogar einen Arm abtrennen lassen", sagte die Gestalt auf dem Thron gefährlich leise.
"Was meinst du, wie sollte deine Strafe aussehen, Taurus?"
Taurus sah auf und Entschlossenheit spiegelte sich in seinem Gesicht.
"Wie immer Ihr wünscht, Sensei. Ihr könnt auf jegliche Art mit mir verfahren, wie es euch und der Organisation von Nutzen ist."
Die Gestalt auf dem Thron schien zu schmunzeln, doch es konnte auch eine Reflexion des Blitzlichts auf dem in Schatten getauchten Gesicht sein.
"Ich bewundere deine Hingabe. Solche Männer brauche ich in der Schlacht. Deswegen erhältst du eine allerletzte Chance - sie wird sowohl mir zum Vergnügen gereichen als auch der Organisation von Nutzen und gleichzeitig eine Strafe für dich sein. Ich denke, damit sollten alle Parteien zufrieden sein."
Die Gestalt bewegte sich zum ersten Mal und winkte Taurus zu sich heran.
Der Mann gab sich alle Mühe, der Aufforderung nachzukommen, ohne die Gestalt direkt anzusehen – denn das war ihm nicht gestattet.
Als Taurus nah genug war, um die Füße der Gestalt küssen zu können, streckte diese die Hand aus und berührte beinah die gesenkte Stirn.
Ein Blitz erhellte die dunkle Halle und nur deshalb war sein Zwilling aus purer Schwärze zu erkennen.
Er sprang von der Gestalt auf Taurus über und sobald er dessen Haut berührte, begann Taurus wie am Spieß zu schreien und sich auf dem Boden hin und her zu werfen.
Ungerührt lehnte sich Gestalt in ihrem Thron zurück und genoss mit geschlossenen Augen die Show.
Majikku
"Ich denke, ich würde zuerst einmal versuchen zu verhandeln."
Ich hatte mir zwar fest vorgenommen, Aadil nicht als Anführer über mir zu behandeln, musste aber verärgert feststellen, dass ich in seiner Gegenwart immer noch ziemlich gehemmt war.
Urplötzlich schlug der Anführer mit seinem Stock nach meinem Hals.
Instinktiv riss ich den Arm hoch war jedoch etwas zu langsam und trug mir schmerzhaft geknickte Finger und vermutlich einen blauen Fleck am Hals ein.
"Was sollte das?!", fauchte ich ihn an.
Der dunkelhäutige Mann blieb ungerührt.
"Auch in Momenten höchster geistiger Konzentration, muss dein Körper wach bleiben und unerwartete Angriffe abwehren können. Sonst bist du ein leichtes Opfer für Attentate."
Ich schnaubte und wechselte das Thema.
"Wieso muss ich überhaupt solche merkwürdigen Fragen beantworten?"
"Die Menschen hier erwarten von dir, dass du Antworten auf ihre Fragen hast – das hast du doch bestimmt schon erlebt. Und spätestens, sobald wir in das Gebiet der Karasu geraten, müssen wir mit jeder Art von Falle rechnen - und es ist denkbar, dass wir sowohl kämpfen als auch verhandeln oder fliehen müssen. Du musst innerhalb von Sekundenbruchteilen wissen, welche Strategie hier die angebrachte ist, denn von deinen Entscheidungen kann die Zukunft der Organisation abhängen."
Ich schnalzte hörbar mit der Zunge.
"Das wird nie und nimmer passieren. Ich habe noch nicht einmal zugestimmt, dass ich mit euch kämpfen werde und du-"
ich beendete meinen Satz nicht, doch uns beiden war klar, was ich damit meinte.
Falls ihn meine Unentschlossenheit oder gar der Vorwurf beunruhigte, zeigte Aadil es nicht.
"Ich habe schon einmal gesagt, dass wir dich zu nichts zwingen werden. Doch die Menschen haben nun einmal eine gewisse Erwartungshaltung, da du dem Profil der Prophezeiung entsprichst - die kann ich nicht zerstreuen. Ich verspreche dir gleichzeitig aber immer noch, dass das hier nicht dein Schaden sein soll. Zum einen erhältst du eine kostenlose Ausbildung – ein Luxus, für den manche hier in eine ärmlichere Wohnung ziehen."
Beim ersten Teil seines Satzes hatte ich noch verächtlich geschnaubt, doch es blieb mir im Halse stecken und ich starrte ihn nur ungläubig und, wie ich vermutete, auch etwas angewidert an.
"Ist das dein Ernst?", unterbrach ich ihn.
"Diese Menschen haben sich der Organisation angeschlossen und verpflichtet und als Gegenleistung dafür müssen sie ihre Ausbildung – ein wesentlicher Bestandteil, damit sie nicht einfach beim ersten Angriff abgeschlachtet werden wie Tiere – auch noch selbst bezahlen?"
Der Anführer sah mir gerade ins Gesicht, ohne jede Scham.
"Die meisten hier sind gewöhnliche Menschen, die nie vorhaben, in das Kampfgeschehen einzugreifen. Sie engagieren sich mit Arbeiten und ermöglichen ihren Partnern oder Kindern auf ihren Wunsch, sich auf bevorstehende Kämpfe vorzubereiten. Im Gegenzug dafür müssen sie nicht für ihre Verpflegung aufkommen – die von Nahrung bis zur Rüstung alle Bestandteile des alltäglichen Lebens umfasst. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich dafür sorgen kann, alle zu ernähren und ihnen ein möglichst angenehmes Leben zu bescheren und gleichzeitig die Mittel zu besitzen, um Händler und Spione für ihre Dienstleistungen zu bezahlen – das hier ist die beste Lösung, auf die der Vertrautenkreis gekommen ist."
Meine Empörung fiel zwar nicht in sich zusammen, wurde jedoch erheblich kleiner.
Unwillkürlich wandte ich den Blick ab, konnte diesen ehrlichen und realistischen Augen einfach nicht mehr entgegensehen.
Wer war ich schon, dass ich mir einbildete, mehr von Organisation und Management zu wissen, wo er doch schon jahrelang mit derlei Problemen kämpfte.
Urplötzlich traf mich der Stock hart in die Rippen und riss mich zusammen mit dem Schmerz der Quetschungen erneut aus meinen Grübeleien.
"He!", rief ich empört aus.
"Deine Konzentration darf nie nachlassen", wiederholte der Anführer mehr oder weniger seine vorher an mich gegangenen Worte.
Die vorher unterdrückte Wut kam erneut zum Vorschein. Hier schien mich jeder mit Leichtigkeit und in regelmäßigen Abständen zur Weißglut zu treiben.
Na hör' mal! Ich bin doch auch nur ein Mensch und keine Maschine!"
Kurz schien ein Schatten über seine Gesichtszüge zu huschen.
"Das ist mir bewusst – doch deine Gegner werden die menschlichen Aspekte auch beiseitelegen, um dich erneut in die Finger zu bekommen und als Mittel für ihre düsteren Zwecke zu missbrauchen. Ich würde dir ja gerne Fehler zugestehen - denn es gibt meiner Meinung nach nichts Menschlicheres - doch das würde dein Untergang sein. Deshalb kann ich darauf keine Rücksicht nehmen."
Ich runzelte die Stirn.
"Wieso wird die andere Organisation von allen hier so sehr verteufelt? Nach meinem Kenntnisstand wollen sie doch lediglich ein entführtes Kind zurückhaben. Was macht sie da so verabscheuenswürdig?"
Nun war es Aadil, der die Stirn runzelte.
"Es ist nicht nur das: Sie haben vor vielen Jahren die Magier in Fallen gelockt, ihnen in Hinterhalten aufgelauert, sie überwältigt und ihnen ihre magischen Waffen und Werkzeuge abgenommen, um sich selbst zu bereichern. Das ist der Grund, warum eine Magierin wie du sie bist, so ein Aufsehen erregt und von beiden Seiten so begehrt ist. Außerdem genießen sie jede Schlacht im Gegensatz zu uns – und es gibt vereinzelte Gerüchte, dass sie diejenigen, die den Kampf verabscheuen, trotzdem dazu zwingen."
Mit mehr Mühe als erwartet schob ich den Abscheu beiseite.
Dies war mit hoher Wahrscheinlichkeit die parteiisch verzerrte Darstellung eines um mein Mitgefühl und Verständnis heischenden Anführers.
"Soll das heißen, sie sind euch im Falle eines Kampfes auch noch haushoch in magischer Ausrüstung überlegen?", fragte ich, um das Thema zu wechseln.
"Wohl kaum", sagte Aadil schnell.
Doch ehe ich einen bissigen Kommentar abgeben konnte, fuhr er fort.
"Magische Waffen können nur von Menschen mit magischem Blut und einer Grundausbildung der Magienutzung kontrolliert werden."
Einige Momente konzentrierte ich mich auf den Stock in der Hand des Anführers und versuchte gleichzeitig nachzudenken.
Am Rande meiner Wahrnehmung hörte ich ein merkwürdiges Geräusch und spürte ein leichtes Brennen durch das Band mit Ayita.
Die Stute preschte zwar nicht nach vorn oder ging gar durch – dafür spürte sie zu deutlich, dass keine Gefahr drohte und sie mich damit höchstens gefährden würde – doch sie geriet trotzdem aus dem Tritt. Mein Ungleichgewicht nutzte der Anführer sofort aus, um mir einen wirklich bösen Streich an die Hüfte zu verpassen.
Dieser Stoß genügte, um mich endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen – immer noch wie ein Stein, hing ich halb seitlich, halb unter dem Bauch des Pferdes.
Ich hatte mir spezielle Gurte anfertigen lassen, um nicht vom Sattel gestoßen werden zu können. Dabei konnte Ayita ein Problem werden, falls sie verletzt wurde und ich nicht schnell genug von ihr herunterkam, doch das Risiko ging ich ein. Größer war da meiner Meinung nach die Gefahr, von ihr herunter zu fallen und niedergetrampelt zu werden, weil ich nicht eigenständig aufstehen konnte.
Doch noch immer würde es mich viele Minuten kosten, wieder zurück auf den Pferderücken zu kommen.
Während ich einen wüsten Fluch ausstieß, rief Aadil:
"Meine Zeit ist begrenzt – wenn deine Auffassungsgabe nicht in wenigen Stunden steigt, ist sie an dich verschwendet. Wie oft habe ich es nun schon gesagt: Weite deinen Blick! Die Gefahr kommt nicht nur aus der Führungshand mit der Waffe. Das gerade eben hätte eine Betäubungs- oder Giftspritze sein können. In spätestens zehn Stunden will ich, dass du die Angriffe aus meinen beiden Händen parieren kannst – auch wenn wir uns unterhalten – und dass du Elias entdeckst."
Gerade eben noch wutschnaubend und stöhnend aufgrund der Schmerzen hob ich mich in einem überraschten Ruck halb hoch.
"Elias beobachtet uns?!"
Mir war es peinlich, dass er mich in dieser Lage sah und ich wollte nicht, dass er unser Gespräch hörte.
Wie, um meinen Gedankengang zu unterstreichen, gaben in diesem Moment meine zitternden Muskeln ihre Arbeit auf und ich sackte zurück.
"Natürlich. Er ist dafür verantwortlich, die Neko und mich zu beschützen. Aber falls es dich beruhigt – er befindet sich außer Hörweite unseres Gesprächs", fügte er noch hinzu, als hätte er meine Gedanken gelesen. Erleichtert atmete ich tief durch und wollte gerade einen neuen Versuch starten, als etwas durch die Beine des Pferdes auf mich zukam.
Wütend und gleichzeitig gespannt, ob ich für meine Tollkühnheit belohnt werden würde, griff ich nach dem vermaledeiten Stab.
"Aber dann besaß der Karasu an meiner Schule magisches Blut?", keuchte ich, während ich zu meinem Erstaunen den Stab zu fassen bekam.
Mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft riss ich daran, doch ich konnte das Holz nur näher ziehen und ihm nicht entwinden.
Aadil nutzte das, indem er nachstieß und mich damit voll in die Brust traf. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass er sich dafür ebenfalls seitlich hinunterbeugen musste, denn sein Gesichtsausdruck war bemüht ausdruckslos. Nur seine glitzernden Augen verrieten ihn, bevor er sich – mit dem Stab – zurück auf seinen Hengst zog.
"Improvisation! Sehr gut! Aber nicht gut genug, wie ich bemerken muss. Wäre das mein Schwert gewesen, wärst du durch den Treffer an der Brust gestorben."
Ich ließ meine Selbstbeherrschung für die Dauer eines befreienden Wutschreis fahren und versuchte erneut, mich ausgehend von den Bauchmuskeln hochzuhieven – ich wollte nicht noch mehr an den Zügeln der armen Stute reißen.
"Nutze auch die Spannung der Muskeln in den Oberschenkeln und dem Oberkörper – nutze alles, was du hast."
Dieser hilfreiche Kommentar kam von Ayita und war gleichzeitig so natürlich, dass meine Fokussierung nicht abbrach.
Ich schickte ihr einen wortlosen Dank und schaffte es tatsächlich mit allen Muskeln und einem stummen Schrei der Anstrengung wieder zurück in den Sattel.
Während ich mir ein paar der schmerzenden Muskeln rieb, nickte Aadil anerkennend und antwortete auf meine Frage.
"Das denke ich nicht. Sie sind ignorant genug, die Waffen und Werkzeuge trotzdem zu nutzen."
Ich wiegte nachdenklich den Kopf und versuchte, einen Blick in das undurchdringliche Blätterdach zu werfen, ohne den Dunkelhäutigen oder seine Hände aus den Augen zu lassen.
"Mir kommt das eher realistisch veranlagt als ignorant vor – schließlich suchen sie nach einem Vorteil euch gegenüber."
Als Aadil diesmal nach mir schlug, schaffte ich es mit knapper Not, auszuweichen – doch das schrieb ich eher meinem Glück als meinem Können zu.
"Wenn sie diese Dinge ohne die nötige Grundausbildung oder gar ohne magisches Blut nutzen, können sich Werkzeuge und Waffen jederzeit gegen ihre Nutzer wenden."
Ich zog verwundert eine Braue hoch.
"Es ist nicht so, dass sie einen eigenen Kopf hätten – doch in ihre Struktur wurde die Magie ihrer Schmiede mit ihren Absichten, ihrer Weltansicht und ihren Werten gewebt. Und da die Nutzer der Karasu diese Absichten nicht kennen, könnten sie jederzeit dagegen verstoßen und im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf verlieren."
Mir entfuhr ein überraschtes Keuchen, bevor ich mich bremsen konnte.
"Wie riskant!"
Der Anführer lächelte, doch es war ein freudloses, hartes Lächeln.
"In der Tat."
Nach einem Moment des Nachdenkens fragte ich:
"Besitzt ihr denn noch magische Waffen? Mir scheint das der einfachste Weg zu sein, herauszufinden, ob ich wirklich eine Magierin bin. Mit einem entsprechenden Schutz darum, versteht sich", fügte ich noch schnell an.
Obwohl ich meine Augen dem Dunkelhäutigen zugewandt hatte, erwischte mich der Schlag mit dem Stock auf die linke Schulter, bevor ich ihn wahrgenommen hatte.
"Autsch!"
Ich rieb mir die Schulter.
So langsam hatte ich genug davon, verprügelt zu werden.
Ohne einen Laut des Bedauerns fuhr Aadil mit der Unterhaltung fort:
"Ist dir das denn noch nicht eindeutig gewesen?"
Ich starrte ihn nur an.
"Wer soll denn sonst Elias an dem ersten Abend verletzt haben,"
Bei dieser Erwähnung zuckte ich schuldbewusst zusammen.
"wie hättest du an dem Tag als Taube wieder aus dem sogenannten Magier-Koma aufwachen können, und wie hättest du vor ein paar Tagen Elias' Faust vor deinem Auge und die Klingen am Wasserfall abwehren können ohne Magie?"
Magier-Koma? Woher weiß er von der Faust und den Klingen von Nyoko?
Soweit ich wusste, war Nyoko immer noch in einem zu schlechten Zustand, um berichten zu können. Doch vielleicht hatten die Heilerin und Elias in den vergangenen Stunden auf den neusten Stand gebracht.
"Trotzdem würde ich es gerne testen, bevor ich einfach davon ausgehe, dass ich Magie wirken kann. Sonst endet noch alles in einem Fiasko", meinte ich und versuchte, Ärger und Furcht zu unterdrücken.
Wieso besprachen sich immer alle über meinen Kopf? Und wieso stellten sie bloß solche absurd hohen Ansprüche an ein vierzehnjähriges Mädchen? Waren sie wirklich so verzweifelt oder war das bloß eine Masche?
"Die einfachste Herangehensweise wird sein, dir ein bisschen etwas über die Theorie der Magie zu erzählen - damit kannst du am wenigsten Schaden anrichten."
Neugierig betrachtete ich ihn von der Seite und erwartete halb einen Angriff, doch diesmal kam keiner.
"Woher weißt du über die theoretischen Grundlagen der Magie Bescheid? Ich dachte, du bist kein Magier?"
Ich verlor für einen Moment das Gleichgewicht, als die Pferde ohne jeden Befehl über einen umgestürzten Baumstamm setzten.
"Auch das muss besser werden – achte mehr auf deine Umgebung!", meinte er streng, aber ich glaubte, kurz ein Funkeln in seinen Augen gesehen zu haben.
"Ich bin in der Tat kein Magier", fuhr er fort, bevor ich etwas erwidern konnte.
"Doch uns Anführern wurde das Wissen schon vor dem Verbrechen der Karasu weitergegeben, damit wir zukünftige Magier erkannten und ihnen die notwendige Ausbildung zuteilwerden ließen."
"Woran erkennt man Magier?", unterbrach ich ihn aufgeregt.
Der dunkelhäutige Mann lächelte kurz, ob meines so offen gezeigten Interesses und meinte dann:
"Sie tragen kein Mal auf der Haut wie du-"
Gerade hatte ich einen zaghaften Versuch unternommen, mich nach Elias umzuschauen und mich dabei halb umgewandt, als mich der elende Stock im Kreuz traf.
Der Spasmus griff automatisch ein und meine sämtlichen Muskeln wurden bretthart, trotz oder vielleicht gerade wegen dem bereits Stunden andauernden Trainings.
Einen Moment schien es, als würde mich die reine Muskelkraft oben halten, doch dann kippte mein Körper erneut über den Pferderücken - doch diesmal war mein ganzer Körper so verdreht, dass der Schmerz wie wild durch meinen Körper jagte und ich nur noch brüllen konnte.
Ayita hätte mir fast ihre Hufe gegen den Kopf gedonnert, da sie so abrupt stehen blieb, als würde sie den Schmerz selbst spüren. Aadil's Hengst hingegen, war nicht so schnell und schon einige Meter weiter voraus, bevor der Anführer ihn zügeln konnte.
Wieder einmal hasste ich mich selbst, doch ich konnte das Brüllen einfach nicht stoppen - die Mischung aus brodelnder Wut, heißem Schmerz und in den letzten Stunden immer größer gewordener Verzweiflung brach sich in diesem urtümlichen Laut bahn und war noch nicht bereit, sich wieder von mir einsperren zu lassen.
"Majikku! Was ist passiert?!"
Schon erschienen graue, schlanke Beine neben meinem Kopf und ich hörte das Schnaufen des Tieres beinahe synchron mit dem Atem seines Reiters.
Ich biss mir auf die geballte Faust, um den Schmerz zu unterdrücken und lockerte meine Zähne erst, als auch der Rest der Krämpfe allmählich nachließ.
Immer noch zitternd deutete ich mit ausgestrecktem Zeigefinger halb hinter das Pferd, wo ich blaue Augen aus dem Dickicht leuchten sah.
"Da ist Elias."
Meine Stimme krächzte und mein Hals fühlte sich rau an, doch ich gestattete mir ein verkniffenes Lächeln.
Meine linke Faust blutete zwar nicht, doch sie trug deutliche Abdrücke der Zähne davon.
Ich spürte zwar Ayita's Fragen, doch ich fühlte mich außerstande, auch nur an sie zu denken, geschweige denn Rücksicht auf sie zu nehmen.
Mit einem Mal packte mich ein kräftiger Arm unter der Achsel und zog mich wieder aufs Pferd.
Als ich mich wortlos abwenden wollte, packte mich der Anführer an der Schulter und drehte mich zu ihm herum.
"Majikku, ich frage noch einmal: Was ist los? Was war das gerade?"
Seine Augen waren besorgt und er schüttelte mich leicht, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sein unausweichlicher Schatten nähergekommen war und mich nun auch eisblaue Augen musterten.
Als ich erneut spürte, wie mir innerhalb kürzester Zeit schon wieder die Augen und die Nasenspitze zu brennen begannen, fauchte ich:
"Habt ihr denn immer noch nicht begriffen?! Ich bin behindert! Ich bin verdammt noch mal nicht gesund! Das ist nichts, womit ich hausieren gehen oder mich normalerweise identifizieren würde, doch hierfür muss ich es offensichtlich noch einmal erwähnen: Ich habe eine sogenannte spastische Zerebralparese - mein Körper wird regelmäßig von Muskelkrämpfen heimgesucht, mal wieder mal weniger stark, dabei sehr häufig und willkürlich. Auch Nyoko musste schon feststellen, dass diesbezüglich gewisse Trainingseinheiten bei mir kontraproduktiv sind. Ich hatte gehofft, dass sie mit euch darüber kommunizieren würde, aber das war wohl zu viel verlangt bei einem Sturkopf wie ihr."
Nun sah ich ihn doch direkt an, obwohl ich genau wusste, dass man mir schon wieder ansehen konnte, dass ich bald wieder wie eine Dreijährige losheulen würde.
"Glaub' mir, ich selbst würde nichts lieber tun, als so zu tun als wäre ich gesund - und eigentlich bin ich das ja auch, solange man mich nicht an Sportlern misst. Doch ich musste jetzt schon sehr häufig feststellen, dass man von mir körperliche Fähigkeiten verlangt, die ich nicht besitze. Normalerweise würde ich sagen: 'Go for it, warum nicht, ich wollte meine körperlichen Fähigkeiten sowieso steigern', doch ihr verlangt praktisch Unmögliches von mir. Natürlich will ich euch helfen-"
Ich runzelte die Stirn.
"Zumindest denke ich das meistens. Aber ich kann damit nicht ändern, dass ich euch körperlich nicht ebenbürtig bin."
Nun weinte ich doch tatsächlich wieder, und konnte nicht aufhören, meine schmerzenden Beine, die Hüfte und das Kreuz zu massieren - in der vergeblichen wie naiven Hoffnung, der Schmerz möge dadurch schwinden.
"Was habt ihr euch eingebildet? Dass der Rollator nur Dekoration war und sowieso überflüssig, seit er nicht hier ist? Dass das Ganze nur eine temporäre Sache ist, wie bei jemandem, der sich den Fuß gebrochen hat? Oder dass ich mich einfach nur anstelle und es schlimmer mache, als es ist?!"
Nun begann ich wieder zu brüllen und starrte zwischen Aadil und Elias hin und her.
"Nun schaut mich nicht so mitleidig an, dadurch kommen wir auch kein Stück weiter und ich habe auch nichts von euren Blicken! Ich will doch normal sein - das will ich mit jeder Minute, die ich in diesem Chaos hier verbringe, mehr als jemals zuvor! Aber es gibt keinen Schalter, den man einfach umlegen kann und dann ist alles gut! Das scheint ihr ja bei eurem ganzen Geschwafel von Magie, Krieg und Organisationen zu vergessen – diese Welt ist immer noch das normale Leben und kein abgefahrener Film!"
Es war beinahe so, als könnte ich mir zuschauen, wie ich mich selbst in Rage redete, doch einmal angefangen, war ich schlimmer als jeder Wasserfall.
"Ich bin jetzt schon wieder seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, habe noch nichts gegessen und das Gefühl, bereits doppelt zu sehen."
Meine Finger gruben sich in die Oberschenkel und verstärkten den bereits vorhandenen Schmerz.
"Aber darauf kann ich ja keine Rücksicht nehmen, denn jeder auf dem Schlachtfeld würde meine Schwäche ausnutzen, nicht wahr?!"
Aus wildem Zorn packte ich nach dem Stock, der mich nun schon seit mindestens drei Stunden traktierte und riss ihm dem verdatterten Aadil aus der Hand.
"Tja, wie wäre es dann mal, wenn ihr einen Moment so tun könntet, als würden wir uns nicht die ganze Zeit auf einem Schlachtfeld befinden?! Schließlich bin ich nachher sonst lediglich so zerschlagen und wund, als würde ich bereits den ganzen Tag kämpfen. Und was hättet ihr dann davon, falls es wirklich zu einem Kampf kommt? Bin ich nicht so etwas wie eure ultimative Trumpfkarte? Ich erwarte ja nicht, dass ihr mich wie eine Königin behandelt, aber wenn eine Trumpfkarte ständig ausgespielt ist, ist sie doch nutzlos. Außerdem wäre es sehr freundlich, wenn ihr mal aufhören würdet, mich die ganze Zeit zu objektivieren - sagte es ja bereits: Ich bin keine Maschine!"
Da die beiden immer noch Maulaffen feilhielten, platzte mir endgültig der Kragen und ich stieß mit dem Stock nach dem Anführer.
"Du wärst jetzt übrigens tot, wäre das mein Schwert", sagte ich mit zuckersüßer Stimme, auch wenn das überhaupt nicht zu mir passte.
"Du hast ja doch noch Mumm in deinen Knochen", knurrte Felicitas beifällig.
Bevor ich auch die Raubkatze anfahren konnte, hatte ich mit einem Mal Elias' Schwertklinge am Hals.
Zu einem anderen Zeitpunkt wäre ich wohl überrascht gewesen, doch diesmal war es beinahe instinktiv, dass es uns beide danach verlangte, sodass Felicitas ihre Pranke in Erscheinung brachte und seinen Schwertarm beinahe lässig wegschlug.
Als wäre die Luft plötzlich elektrisch aufgeladen, schien es zwischen uns zu knistern und wir alle spürten, dass sich das Machtgefüge erneut veränderte - und das betraf nicht nur mich, sondern auch die anderen beiden.
"Ich bin inzwischen nicht mehr hilflos wie früher und das verdanke ich wohl auch euch, trotzdem werde ich mich nicht mehr so von euch herum schubsen und triezen lassen."
Der Stock in meiner Hand wanderte von Aadil, dessen Augen inzwischen wieder undurchdringlich waren, zu Elias.
"Ich will ein paar Antworten und dann mindestens acht Stunden Schlaf - danach unterziehe ich mich meinetwegen auch wieder dieser Folter, die ihr Training nennt. Zumindest, wenn ihr mir meine menschlichen Regungen ab und zu verzeihen könnt."
Meine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus, und ich wusste, dass ich mich wie ein hormongeplagter Teenager aufführte, doch diese beiden inklusive Nyoko, brachten mich mit regelmäßigen Abständen immer wieder an meine Grenzen.
Elias starrte so feindselig zurück, als würde er mir am liebsten hier und jetzt den Kopf von den Schultern schlagen wollen und wer weiß, was sich zwischen ihm und mir, gemeinsam mit der kampflustigen Felicitas wohl entwickelt hätte, wenn uns Aadil nicht alle Drei überrascht hätte:
"Diese elektrische Spannung, die du gerade spüren konntest, ist ein Vorbote der Magie. Ich nehme an, dass du bei deinem Angriff stärkere Signale gespürt haben wirst als vor wenigen Momenten."
Ruckartig fuhr mein Kopf zurück zu ihm, ich starrte in das Gesicht, dass nun viel älter und müder aussah.
"Meinetwegen. Ich hatte dir sowieso versprochen, einige deiner Fragen beantworten. Ich nehme wohl an, dass es Zeitverschwendung ist, dich noch einmal auf unsere schwierige Situation hinzuweisen?"
Er klang kurz sarkastisch, fuhr jedoch schnell fort:
"Die elektrische Spannung ist das Einzige, was damalige Zeugen einhellig berichtet haben. Außerdem sollte man sich zu damaligen Zeiten vor Gesang in Acht nehmen - denn diesem folgten entweder verheerende Zerstörungen oder unglaubliche Wunder."
"Gesang", meinte ich nach einem unangenehmen Moment der Stille und klang diesmal selbst sarkastisch.
Auch Elias hatte wohl kurzzeitig seinen Zorn vergessen und musterte seinen Anführer zweifelnd.
Aadil starrte auf einen Fleck hinter meinem Rücken und legte zum Zeichen des Friedens demonstrativ den Stock hinter sich in den Sattel. Bevor ich mich jedoch wundern konnte, wie er aus meiner in die seine Hand gelangt war, fuhr er fort.
"Es existieren nur mündliche Berichte - doch es ist sicher, dass zu diesen Zeiten kaum noch jemand unbeschwert sang. Schließlich kannte niemand außer den Magiern die Regeln ebenjener Kunst. Selbst wenn sie selbst keine Magie wirken konnten, wussten sie nicht, was ihre Lieder möglicherweise an Herausforderung oder Unterwerfung gegenüber verschiedensten Mächten enthalten mochten. Auch heute singen die Menschen hier selten, da sie sich an Zeiten der Macht der Melodie erinnern."
Ich rollte mit den Augen.
"Eine hübsche Geschichte - dabei war ich so kurz davor, dir endlich einmal zu glauben. Mal ehrlich, aus welchem Film hast du das? Schon vergessen, dass wir uns in der Realität befinden?"
Aadil's Schatten knurrte wütend und rang einen Moment mit sich, bevor er seine Schwertscheide wieder sinken ließ.
Es war fast erheiternd zu sehen, dass ich offensichtlich Elias genauso häufig zur Weißglut treiben konnte, wie er mich.
„Ab diesem Punkt ist man sich kaum noch einig - man geht davon aus, dass der Gesang nicht benötigt wurde, um die Magie freizusetzen. Theoretisch reichten angeblich sowohl Worte als auch reine Gedanken - entscheidend war, dass derjenige seine Gedanken in ausreichendem Maße kanalisieren konnte."
Eigentlich hätte ich mich jetzt vermutlich vorgebeugt oder anders wie meine Neugier zum Ausdruck gebracht, doch meine Muskeln waren immer noch der Meinung, ich sollte mich gefälligst hinlegen und die nächsten drei Jahre nicht mehr aufstehen. Außerdem war ich immer noch sauer, weil sie mich so rücksichtsvoll wie ein Stück Holz behandelten.
Also verzog ich das Gesicht und ging nicht weiter auf ihn ein.
"Die Lieder sollen wohl in erster Linie den Menschen die Angst genommen haben, die die Kräfte dahinter fürchteten. Außerdem hat Gesang öfter eine meditative Wirkung - es kann wunderbar Gedanken bündeln und gleichzeitig die Kraft geben, die angeblich von Generation zu Generation weitergereicht wird. Izanami meinte einmal, dass es entsprechende Gesangsbücher geben soll - je nach Länge der Tradition waren die Bücher natürlich unterschiedlich dick."
Betont gelangweilt studierte ich meine Fingernägel.
"Äußerst interessant - natürlich wisst ihr das alles, besitzt aber keinen Beweis für eure Hirngespinste. Hat einer von euch den wenigstens schon einmal eine Seite eines solchen Gesangsbuchs gesehen?", meinte ich spöttisch.
In diesem Moment hasste ich mich selbst, konnte jedoch diese bittere Erwiderung nicht herunterschlucken - zu lange hatte man mich bereits mit Dingen konfrontiert, die nicht sein konnten, Dinge gefordert, die ebenfalls im Bereich des Unmöglichen lagen und meine Geduld ein paar Mal zu oft überstrapaziert.
Auch wenn es kindisch war, wollte ich zumindest ein einziges Mal sehen, wie der ach so erhabene Anführer die Geduld verlor oder Elias dazu bringen, sich so sehr aufzuregen, dass die Kapuze von seinem Gesicht rutschte.
Doch die Erwiderung kam von denkbar unerwarteter Seite - Ayita stampfte mit einem ihrer Hufe auf und meinte:
"Ich habe ein solches Buch gesehen, und du auch."
Verwirrt starrte ich ihre zuckenden Ohren an.
"Ach ja? Ich wüsste nicht wo."
Der intensive Geruch des Kräutergartens stieg mir in die Nase, bevor ein Bild von Izanami's Hütte vor meinem inneren Auge auftauchte.
Unwillkürlich beugte ich mich ein Stück vor und Schmerz schoss erneut kurz durch meinen Rücken.
Während ich mir leise fluchend das Kreuz rieb, fragte ich zweifelnd:
"Das alte Ding?"
"Alt ist doch gerade das Stichwort – ich frage mich, ob sie es dich nicht noch einmal sehen lässt."
"Wohl kaum", meinte ich und spürte ein einen Rest der damaligen Scham, auch wenn ich seitdem sehr viel mehr erniedrigende und unangenehmere Situationen erleben musste.
Am Rande nahm ich war, dass die beiden erneut auf mich einredeten, doch ich ignorierte sie geflissentlich.
"Würdest du mir vielleicht inzwischen einmal erzählen, was das damals eigentlich sollte? Wieso musstest du wissen, wie ich mich fühle, sobald du danach fragst? Wieso willst du mir nicht erzählen, was damals eigentlich vor der Hütte passiert ist?"
Die Stute legte leicht verärgert die Ohren an und meinte nur:
"An meinen Standpunkt hat sich nichts geändert - aber du dürftest inzwischen richtig vermuten, dass ich einen Zusammenhang zur Magie annehme. Am einfachsten wäre wohl, sich das Buch noch einmal auszuleihen und es auszuprobieren."
"Da wäre bloß noch das kleine Problem, dass man nicht irgendetwas beschwört, was man gar nicht haben will, nicht wahr?", fauchte ich feindseliger, als ich es wollte.
Die Stute erwiderte nichts.
"Nun komm schon, hier lassen mich alle im Dunkeln und jetzt schließt du dich auch noch an!"
"Hallo? Hallo, Erde an den Schlüssel! Jemand zuhause?", meinte Elias beinahe spöttisch.
Wütend funkelte ich ihn an - es fehlte nur noch, dass er mit seiner Schwertscheide an meinen Schädel klopfte.
"Bedaure - Schlüssel bekommen keine eigenen Wohnungen."
Mir war nicht einmal klar, ob er die Anspielung auf seinen Spitznamen für mich verstand, doch das war mir auch egal.
Bevor wir beide wieder aufeinander losgingen, wie die Mischung aus Teenagern und zwei Bulldoggen, erzählte Aadil eine Spur zu schnell weiter.
"Ich habe die begründete Vermutung, dass wir auf dem Weg zu den Karasu auf einige solcher Bücher stoßen werden - auch wenn diese für sie vermutlich ähnlich wertvoll sind wie für uns, können doch erstaunlich wenige von ihnen überhaupt lesen und den Wert eines Buches begreifen, während andere sie mehr hüten werden als ihren Augapfel."
Ich schnaubte.
"Das klingt doch durch und durch positiv! Los, worauf wartet ihr noch? Lasst uns ihr Zuhause stürmen und ihre Bibliothek plündern - da ist doch nichts dabei."
"Ziege."
Zuerst glaubte ich mich verhört zu haben, doch diese zugegeben sowohl primitive als auch effektive Beleidigung hatte tatsächlich der Kerl ausgesprochen, der sich sowieso schon für etwas Besseres hielt, seit ich hier angekommen war.
Ruckartig fuhr mein Kopf zu ihm herum, und die sowieso kalten Augen musterten mich mit neu erwachtem Abscheu.
Schon wollte ich zu einer Schimpftirade ansetzen, mit all den unfairen und unschönen Mitteln des Frauenkampfs auf ihn losgehen, von ihm verlangen, dass er eine bessere Methode nennen sollte oder ihm sogar von Izanami's Buch erzählen, als ich plötzlich das Gefühl hatte, als würde jemand einen Stöpsel aus einem Spülbecken ziehen.
Alle Kraft verließ mich so plötzlich und endgültig, dass es beinahe an eine Ohnmacht grenzte.
Ich konnte einfach nicht mehr – so einfach war das.
Dankbar für die festen Gurte, die mich zum Glück noch im Sattel hielten, ignorierte ich Elias und musterte Aadil stattdessen mit einem winzigen Rest der Wut, der noch nicht von der Schöpfung fortgespült worden war.
Ich wäre für eine Pause."
"Meinetwegen", seufzte Aadil und fuhr sich mit einer Hand über die kurzen, verfilzten Haare.
"Doch ich will dich trotzdem darum bitten, Experimente zu vermeiden wenn sie nicht unbedingt notwendig sind."
Schon wollte ich schnippisch antworten, woran ich denn bitte üben solle, verkniff es mir jedoch.
Elias schien protestieren zu wollen, doch wieder einmal reichte bereits Aadil's entsprechender Blick, um ihn am Sprechen zu hindern.
Der Mann musste wirklich über viele Jahre an seiner Autorität gearbeitet haben, damit selbst so ein kratzbürstiger Widerling ihm zuhörte.
Ob ich jemals auch diese angenehmen Begleiterscheinungen meiner Verantwortung wahrnehmen könnte – nämlich, dass die Menschen auch wirklich zuhörten und einmal den Mund hielten, wenn ich ihr dämliches Geschwätz nicht mehr aushielt?
"Wie geht es Nyoko?"
Während ich fragte, stieß ich Ayita leicht die Fersen in die Flanken und hoffte, dass sie mir nicht mehr allzu böse war. Zum einen hatte ich es nicht so gemeint, wie es am Ende herausgekommen war - was sie vermutlich auch wusste - und ich sollte mich zum anderen nicht gerade mit denen anlegen, deren Hilfe ich früher oder später brauchen würde.
Sie hatte die Ohren immer noch leicht angelegt und schien mir dieses Mal nicht einfach aufgrund meiner Gedanken verzeihen zu wollen. Ich schnappte die Idee eines Gedankens auf, dass man eben nachdenken sollte, bevor man jemanden anfuhr - doch letztlich ging sie trotzdem im Schritttempo los und ersparte mir daher eine durchaus berechtigte Diskussion, für die mir nun aber die Kraft fehlte.
Aadil's leises Lachen riss mich aus meinen düsteren, selbstironischen Gedanken.
"Ihr geht es bereits wieder viel besser, denn sie kann hervorragend über Elias schimpfen und fängt schon wieder mit Kampfübungen an - dabei interessiert es sie natürlich mal wieder nicht, dass Izanami ihr das verboten hat."
Elias neben mir zuckte zusammen und ich war überrascht, dass er sich nicht wieder einmal in die Schatten geflüchtet hatte. Vermutlich störte es ihn, dass der Anführer damit gewissermaßen seine wenig verbliebene Autorität mir gegenüber untergrub - doch da hätte ich ihn beruhigen können, er hatte sowieso schon seit Ewigkeiten jeden Respekt von mir verloren.
Ich lächelte schief.
"Es mag ja sein, dass ich sie noch nicht lange kenne, doch das kommt mir schon typisch für sie vor."
Der junge Mann, der neben uns ging, schnaubte vernehmlich.
Ich sah betont nicht zu ihm hin und fuhr zum Anführer gewandt fort:
"Genauso wie die Tatsache, dass er hier immer eine Kapuze trägt. Ist er vielleicht allergisch gegen Sonnenlicht?"
Aadil grinste leicht, als würden ihn unsere Kindereien erheitern.
"Es würde seinen männlichen Stolz verletzten, würde ich es dir verraten", meinte er augenzwinkernd.
Überrascht starrte ich ihn an – irgendwie passte es so gar nicht und gleichzeitig perfekt, dass dieser ernste Mann auch eine humorvolle Seite haben sollte.
Nur leider konnte ich mich seinem Grinsen nicht anschließen.
Tief in meinem Inneren war ich mir bewusst, dass es einen Grund gab, aus dem ich sein Gesicht sehen wollte. Doch wenn ich ihn bereits gekannt hatte, war er wieder zu stark in meinem Kopf verschüttet worden.
Der Anführer wurde wieder ernst, und sagte über meine Schulter hinweg:
"Steck' das Ding weg, Jungchen. Das Mädchen kann schließlich nichts für meinen schlechten Humor."
Gleichzeitig wütend und entsetzt starrte ich auf die Klinge, die schon wieder zu nah an meinem Körper war.
"Du legst es aber auch wirklich auf eine weitere Begegnung mit Felicitas an, oder?"
Ich hoffte, dass ich zu müde klang, um mich so drohend anzuhören, wie die Raubkatze in mir es zweifelsohne zum Ausdruck bringen wollte.
Gott, wie sollte ich es jemals bloß mit diesem eitlen, selbstgerechten Kerl auch nur länger als eine Stunde am Stück aushalten? Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie wir jemals Seite an Seite kämpfen sollten. Andererseits hatte ich mir das wohl auch bei Felicitas nicht vorstellen können, nicht wahr?
Entschieden wandte ich mich ab, um die Raubkatze in mir nicht noch weiter zu provozieren und Elias keine Genugtuung zu gönnen - der Typ wusste auch schon so, dass er mir in Schwertkunst, Kraft und Geschick überlegen war.
"Dann eben nicht. Sucht eigentlich gerade jemand nach der Spur?", schoss es mir plötzlich durch den Kopf.
"Natürlich - Tanja und ihr vierbeiniger Freund drehen bereits seit Stunden immer größere Kreise um die Stelle herum. Ich fürchte zwar, dass sie nichts finden werden, doch das wird diesmal auch deine Raubkatze vermutlich nicht ändern können."
Verwirrt starrte ich den Anführer an.
"Wie kannst du dann so ruhig bleiben?"
Dunkle Augen musterten mich eine Weile nachdenklich.
"Ich bin weniger ruhig, als es vielleicht aussehen mag. Doch letztlich lernt man insbesondere als Anführer, dass es Dinge gibt, die man nicht beeinflussen kann. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht und sobald etwas unsere Fähigkeiten übersteigt, werden wir die Energien auf eine andere Art sinnvoll nutzen, die uns zur Verfügung stehen. Vielleicht wird es irgendwann möglich sein, dass wir die Spur oder andere Hinweise auf ihre Unterkunft entdecken, vielleicht entfernen wir uns auch immer weiter. Im Moment ist es am wichtigsten, dass niemand in dem Versteck zurückbleibt, um dort von den Karasu entdeckt zu werden und dass du eine Ausbildung erhältst, mit der du zukünftige Kämpfe überstehen kannst – im Endeffekt ist dabei egal, wo wir lang gehen."
Ich wusste nicht wirklich, ob ich erleichtert oder ernüchtert sein sollte.
Elias' überraschtes Einatmen bestätigte mir, dass ich für beide Gefühle eine Berechtigung hatte.
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Neko das ebenfalls so sehen."
''Die Menschen geraten immer wieder in die Spirale aus Gewalt und Hass, die wieder neue Gewalt hervorruft. Damit wir uns nicht alle auslöschen, muss es zwischendurch Menschen geben, denen nicht zu viel an der Gewalt liegt.
Ich habe das Kämpfen in erster Linie zur Verteidigung gelernt und mir immer geschworen, die Neko wie meine Familie zu behandeln. Und die werde ich ganz sicher nicht freiwillig in den Kampf schicken, sondern bis zum letzten Atemzug beschützen. Ja, ich werde ihnen eine Ausbildung zuteilwerden lassen, wenn sie es wollen, und ja, ich werde auch nicht zulassen, dass sie vor lauter Friedfertigkeit den Karasu hilflos ausgeliefert sind. Doch der hauptsächliche Grund, warum wir auf dem Weg zu ihrem Versteck sind, ist, das Missverständnis mit der Kindesentführung aufzuklären und diesen ewigen Zwist zu beenden."
"Zwist nennst du das?!"
Ausnahmsweise war Elias' Zorn nicht gegen mich gerichtet.
Wieder einmal fühlte ich mich, als würde man mir alle Kraft entziehen.
Dieser Streit war wichtig, das spürte ich, doch vielleicht gerade deswegen wollte ich nicht zwischen den beiden stehen, sowohl physisch als auch von meinen Gedanken her.
Doch als hätte ihn der Himmel geschickt, tauchte plötzlich Louis auf.
"Herr, Rufus hat eine Nachricht für Euch."
Er nickte mir zu.
"Ma'am."
Während der Junge anfing, Zahlen und Namen herunterzurattern, fiel es mir immer schwerer, weiter zuzuhören. Und selbst Elias war so in das Gespräch vertieft, dass niemand von uns den untypischen Schatten bemerkte, der mit einem Mal das kleine Grüppchen verfolgte.
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