12. Aufbruch


Nyoko

Ich runzelte die Stirn, doch ich hatte mich schnell wieder unter Kontrolle, trotz der Fragen, die in meinem Kopf herumschwirrten.
Wegen einem Kind wollen sie erneut in den Krieg ziehen? Wegen einem Kind?!
Sie hatten sich nicht verändert. Die Karasu waren genauso verrückt und einfältig wie die letzten Kriege. Aber das diese Kriege, die so viele Menschenleben, so viel Glück und Frieden forderten, wegen einem einzigen Kind stattfanden, dass hätte ich selbst ihnen nicht zugetraut.
Aadil brauste auf:
"Hört doch endlich auf mit diesen sinnlosen Kriegen! Wir haben kein Kind gestohlen, verdammt!"
Seine braunen Augen glühten.
"Ihr fordert so viele Leben, so viele glückliche Familien, so viele sorglose Kindheiten in diesen Kriegen und wofür?! Für eine Lüge!"
Bevor Majikku oder ich ihm beipflichten konnten, sagte er, an mich gewandt:
"Du wirst doch mit ihm fertig, oder? Dann kann ich mich um die Vorbereitungen für den Krieg kümmern."
Ich nickte, ohne einen Widerspruch einzulegen oder mich geschmeichelt zu fühlen, ob der Selbstverständlichkeit, mit der er das sagte.
Das ich jetzt allein gegen die Krähe antreten musste, wunderte mich nicht, denn eine Organisation mit über fünftausend Mann brauchte seine Zeit und vor allem die Anweisungen eines Anführers, der wusste, was er tat, bis sie bereit zum Aufbruch war. Doch ob Aadil diese Geste mitbekommen hatte, war unklar, denn er war schon verschwunden.
Und zwar so, dass ich es nicht bemerkt hatte.
Der erste Mensch, der das schaffte. Meine Bewunderung galt ihm, auch wenn ich ihn nicht anhimmelte. Obwohl er sicherlich für die meisten Menschen in der Organisation eine sehr gute Partie wäre. Doch mich interessierte keine Macht, keine Position, nur, dass die Karasu starben.
Plötzlich unterbrach Taurus meinen Gedankengang:
"Verdammt! Wohin ist er verschwunden?!"
Ich unterdrückte ein Schmunzeln, wie so oft, sodass es für mich schon zur Normalität gehörte.
Überraschenderweise versuchte er aber nicht, ihm zu folgen, sondern wandte sich uns zu.
"Na ja, umso besser. Dann brauche ich nur noch gegen ein einfaches Mitglied zu kämpfen, um dich mitzunehmen."
Er lachte laut auf.
"Das ist ja so einfach! Ich kann sie einfach mal kurz mitnehmen, ohne einen ernsten Kampf."
"Nicht, solange ich lebe.", sagte ich, unbeeindruckt von seiner Überheblichkeit.
Sie würde ihm schon noch früh genug zu seinem Tod verhelfen.
"Ach ja?! Und woher willst du das wissen, Kindchen?!"
Ich schwieg.
Darauf lohnte sich keine Antwort.
Taurus lachte erneut auf, doch bevor er etwas sagen konnte, unterbrach ihn Majikku:
"Wozu brauchst du mich überhaupt?!"
Der Karasu legte den Kopf schief und durchbohrte sie mit seinen glühend weißen Augen. Ich glaubte für einen kurzen Moment, Angst in Majikku's Augen zu sehen, doch sie zuckte nicht zurück und als ich blinzelte, war ihr Blick klar und sie strahlte eine ruhige, beinahe gelassene, Autorität aus. Sie wirkte ruhig und bestimmt, so, als könne ihr nichts und niemand etwas anhaben.
Auch wenn ich mich nur selten irrte, konnte ich mir kaum vorstellen, dass diese Frau, die wirkte wie eine Königin, aufgerichtet und stolz, wie ihre weiße Stute, die perfekt zu ihr passte, Angst haben konnte.
Doch der Karasu starrte sie weiterhin an und Majikku starrte ungerührt zurück, ja, sie zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Da spürte ich es.
Sie kämpften!  
Nicht mit Waffen, nicht mit Worten, nicht mit Geräuschen und auch nicht mit Magie, wie ich es vermutet hatte, denn es lag keine Energie in der Luft. Nein, die Krähe und die Katze kämpften mit Blicken!
Das Sprichwort ‚Wenn Blicke töten könnten', hat so eine ganz neue Bedeutung., schoss es mir durch den Kopf.
Doch wessen Blick gewinnen würde, worum auch immer sie kämpften, war unklar.
Das Gesicht der Krähe war unter der Kapuze verborgen, doch ich hörte hastige Atemzüge und ein leises Lachen. Ob das bedeutete, dass er gewann, oder, dass er verlor, wusste ich nicht.
Majikku's Blick war ungetrübt, klar und scharf, ihre blauen Augen waren tief und unergründlich wie das Meer. Doch trotzdem glaubte ich, Verachtung in ihrer Körpersprache zu sehen.
Ich riss die Augen auf.
Die Katze verachtete die Krähe! Ich konnte nicht mehr umhin, Majikku mit einer Raubkatze zu vergleichen. So, wie sie verächtlich auf Taurus hinunter starrte, konnte ich beinahe sehen, wie sie auf ihn sprang, seine Kehle zerfetzte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken und sich danach genüsslich und gelassen die Pfoten putzte. Hastig verschloss ich die Augen jedoch, bevor irgendjemand gesehen haben konnte, dass ich die Fassung verloren hatte und als ich sie wieder öffnete, hatte ich mich wieder unter Kontrolle.
Sollte ich, oder lieber doch nicht?
Ich entschied mich dagegen, etwas zu tun, außer, Majikku geriet in Gefahr. Also lenkte ich Linus etwas zurück in den Wald, band ihn an einen Baum und setzte ich mich an einen anderen Baum in der Nähe des Hengstes. Mit einem leicht kratzenden Geräusch zog ich einen meiner Dolche.
Dabei waren es eigentlich keine Dolche, sondern blanke Klingen, in der Form eines Flugdrachens mit denen Kinder gerne spielten. Grimmig betrachtete ich die Klinge, die überraschend leicht in meiner Hand lag. Aber vielleicht war die Klinge gar nicht so leicht, wie sie mir vorkam, sondern war nur so leicht, weil ich täglich trainierte. Diese Klinge, so leicht und beinahe unscheinbar, war eine Waffe.
Ein tödliches Werkzeug. Das Blut, was an der Klinge klebte und die leichten Kratzer, die sich in das Metall gegraben hatten, unterstrichen meine Behauptung. Neugierig, aber langsam, damit es nicht so auffiel, hob ich den Kopf und riskierte damit einen Blick in Richtung der 'Kämpfenden'. Doch wider Erwarten hatten sie sich kein Stück bewegt und starrten sich weiterhin an. Also senkte ich den Blick wieder auf die glänzende Klinge.
Mit einer umständlichen Bewegung zog ich einen der Lappen, die die Klinge wie eine Schwertscheide umschloss, aus meinem Ärmel. Die anderen vier folgten kurz darauf. Mit unter der Oberfläche brodelnden Gefühlen betrachtete ich die schmutzigen, zerrissenen und blutigen Lappen, mitsamt der Klingen. So viele Erinnerungen hingen an diesen fünf Stückchen Stoff, ebenso, wie an ihren Klingen. Schmerz- und qualvolle, demütigende, aber auch einige wenige erfreuliche Erinnerungen an die Vergangenheit. Langsam, beinahe liebevoll strich ich über eine Klinge, doch das Blut klebte nach wie vor fest. Entschlossen benetzte ich einen der Lappen mit meinem Speichel. Der Geschmack und der Geruch der meine Sinne überflutete, als meine Zunge den rauen Stoff berührte, ließ meine Nasenflügel beben.
Allerdings nicht vor Aufregung, sondern vor Wut.
Dieser Geruch... dieser Geschmack... er war mir so bekannt wie mein eigener... Nicht gut... Wenn sich die Katze nicht bald beeilte, würde ich diesen Aasfresser, diesen Unglücksboten einfach von hinten niederstechen, auch wenn mir mein Gefühl sagte, dass das am Ende mehr Schlechtes als Gutes bringen würde.
Mühsam putzte ich den Dolch zu Ende, doch Dank des Geruchs in meiner Nase und des Geschmacks auf meiner Zunge, konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Also packte ich die Lappen wieder so zurück, dass sie die Klingen umschließen und festhalten konnten und legte die Klingen vorsichtig hinein, wobei ich die Ketten, die unter dem Kleid an meiner Hüfte festgeschnallt waren, da sie dort anfingen, sorgsam in meinen Ärmeln verbarg.

Ich stand gerade wieder auf, als Taurus ansetzte:
"Der Magie wegen, natürlich!"
Ich jubelte innerlich.
Wenn er nachgab, indem er den Gesprächsfaden wieder aufnahm, hatte sie offensichtlich gewonnen. 
Da habt ihr sie, Aasfresser! Majikku, die Magierin, den Schlüssel der Prophezeiung und eine natürliche Kämpferin!, frohlockte ich.
"Magie, sicher?!"
Majikku hob eine Augenbraue, ihre Stimme triefte nur so vor Ironie.
Ich hörte, wie Taurus überrascht nach Luft schnappte.
Doch bevor er irgendetwas sagen konnte, sagte sie:
"Ich hatte schon so eine Ahnung, dass ihr verrückt sein müsst, aber Magie?! Dass ihr an Märchen glaubt, hätte ich nicht gedacht."
Jetzt schien sogar die, bei mir Würgereize hervorrufende, Krähe zu bemerken, wie sehr Majikku ihn verachtete.
"Du...! Mach nicht solche Scherze! Du besitzt selbst Magie, dass sieht sogar ein Blinder!"
Ich schnappte entsetzt nach Luft, legte mir aber sofort, erschrocken über diese viel zu offensichtliche Geste, die Hand vor den Mund.
Wie konnte er das wissen?! Diese Art zu sehen, brauchte viele Jahre konzentrierter Übung!
Sie jedoch, schüttelte den Kopf, ihre Augen wieder unleserlich und tief.
Im nächsten Moment schlich sich eine Spur Belustigung in ihre Stimme, als sie fortfuhr:
"Und selbst, wenn es so etwas wie Magie gäbe und ich sie besäße, könnte ich sie nicht kontrollieren. Und mit einer Magierin, die ihre Kräfte nicht kontrollieren kann, könntet ihr auch nichts anfangen."
Taurus wollte sie unterbrechen, doch sie sprach schon weiter:
"Wenn ich tatsächlich 'Magie' in mir haben sollte, warum habt ihr mich dann nicht einfach behalten?"
Die Krähe hörte sich zerknirscht an, als sie sagte:
"Das ist alles Lyla's Schuld! Hätte sie dich nicht so voreilig zu Sensei geschleppt, wärst du wahrscheinlich auch noch dort!"
"Lyla?"
"Die, die dich im Wald gefunden hat. Die Beschreibung von dir in der Prophezeiung passte perfekt, also nahm sie dich mit. Lyla schleppte dich sofort zu Sensei, doch er fand keine Magie in dir, warum auch immer."
Ich schwieg, denn ich wusste ja warum und ich war froh, dass Majikku ihre Magie bei dem ‚Angriff' auf Elias losgeworden war.
Majikku schien das Gleiche zu denken, denn ich sah für einen kurzen Moment Erleichterung in ihren blauen Augen aufblitzen.
Taurus fuhr fort:
"Wütend über Lyla's Unfähigkeit, sperrte Sensei dich in die Taube und hat wer weiß was sonst noch angestellt. Auf jeden Fall habe ich Lyla danach noch nicht wieder gesehen."
Er schauderte.
So ein Idiot, er zeigt uns sogar, dass er sich vor seinem eigenen Sensei fürchtet., dachte ich, ließ mir meine Verachtung aber nicht anmerken.
Taurus holte tief Luft und fuhr gefasster fort:
"Doch jetzt leuchtet die Magie wie ein Waldbrand in dir und deswegen werde ich dich mitnehmen, damit du bei Sensei um Gnade betteln kannst. Vielleicht lässt er es ja sogar zu, dass du für ihn arbeiten und diese räudigen Katzen töten kannst."
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
"Du...! Räudiger Aasfresser!"
Ehe ich's mir versah, hatte ich mein Vorhaben, nicht einzuschreiten, vergessen, zog zwei meiner Klingen und hängte sie hinter meinen Rücken.
Das Gewicht der Ketten und Klingen kaum spürend, fuhr ich fort:
"Wen nennst du hier räudig?! Lass mich raten; dich selbst?!"
Taurus fuhr herum und ich warf die linke Kette in einem großen Bogen über meinen Kopf auf seine rechte Schulter zu. Er zog einen Dolch, doch meine Klinge schlug ihm seinen Dolch aus der Hand.
Der Dolch flog auf Majikku zu und ich wollte schon zu ihr sprinten, doch die weiße Stute schien gewusst zu haben, was passieren würde. Sie bäumte sich auf und der Dolch grub sich mit einem dumpfen Geräusch in ihre Schulter und sie brach zusammen.
Majikku schrie auf, der beherrschte Gesichtsausdruck, für den ich sie bewundert hatte, war wie weggewischt.
"Nein!"
Ich zuckte zusammen, was nur selten passierte. Die Beiden schienen eine tiefere Verbindung zu einander aufgebaut zu haben, als zwischen Pferd und Reiter üblich. 
Sie steckt immer wieder voller Überraschungen., dachte ich. 
Was soll es bringen, sich mit einem Pferd zu befreunden?
Ich wusste es nicht.
Majikku rutschte herunter, sank vor der Stute zusammen und fing an zu weinen. 
Solange diese räudige Krähe noch lebt, kann ich nichts für ihr Pferd tun., dachte ich und stellte mich zwischen sie und Taurus, um eine Art Barriere zu sein.
Unangenehme Bilder blitzen dabei vor meinem inneren Auge auf, die ich versuchte, zu ignorieren, indem ich kurz energisch den Kopf schüttelte.
Es wäre problematisch, wenn Izanami das Pferd nicht wieder zusammenflicken kann., fiel mir ein, dankbar für die kurze Ablenkung, bevor Taurus' Lippen ein Lachen entfloh und er somit meine Aufmerksamkeit wieder beanspruchte.
"Das hast du toll gemacht, wirklich Kindchen! Jetzt bleibt sie, aus Sorge um ihr Pferd!"
Er weiß nicht, dass sie nicht weglaufen könnte?
Gut. Noch ein Vorteil. Dann sorge ich mal dafür, dass das auch ein Vorteil bleibt.
Mit einem energischen Ruck zog ich an der Kette und schwang sie mit einer lässigen Bewegung erneut hinter meinen Rücken.
Ich wartete. Ich wartete auf seinen Angriff.
Da zuckte seine linke Hand und er warf noch einen Dolch. Dieser fuhr nach rechts und sollte wohl einen Bogen machen, um meine Brust zu treffen, doch ich wiederholte meine schwungartige Bewegung und so lenkte ich seinen Dolch erneut aus der ursprünglichen Flugbahn. Das der Dolch diesmal zitternd in einem Baum steckenblieb, nahm ich kaum wahr, sondern riss die Kette wieder nach oben.
Eine sichtbare Welle ging durch die Kette, während sie sich gegen die Schwerkraft wieder nach oben arbeitete. Doch ich hatte das häufig geübt und zweifelte nicht an dem gewünschten Effekt. Jetzt riss ich die Kette wieder nach unten.
Taurus lachte und machte einen Satz nach links.
Das Lachen verwandelte sich in der nächsten Sekunde jedoch in einen herzzerreißenden Schrei, da er meine andere Klinge nicht beachtet hatte, die ich in derselben Bewegung neben seine linke Schulter geschwungen hatte.
Warum neben seine Schulter?
Weil ich diesen Satz zur Seite vorausgesehen hatte.
Ohne auch nur im Mindesten an Geschwindigkeit zu verlieren, grub sich die, sorgsam geschärfte, Klinge in seine Schulter und trennte den linken Arm von seinem restlichen Körper.
Blut spritzte in alle Richtungen und somit auch auf mich, doch ich zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Die Krähe jedoch, brach schreiend zusammen, während sie sich den Stumpf ihrer Schulter hielt.
Als ich kurz über die Schulter blickte sah ich, wie Majikku totenbleich an der Stute lehnte und sich mit dem Handrücken Erbrochenes vom Mund wischte.
Ihre blauen Augen schweiften über mein Gesicht, Entsetzen stand in ihnen, zusammen mit Angst und sie drückte sich stärker an ihre Stute.
Tja, daran wird sie sich gewöhnen müssen, dachte ich kalt. 
Das hier ist ein Kampf um Leben und Tod und kein Spiel. 
Langsam schritt ich auf Taurus zu, riss an den Ketten und die Klingen schnellten zurück in meine Hände. Die Schnitte, die ich mir dabei an den Händen zuzog, spürte ich kaum.
Er blickte auf, bleich vom Blutverlust und wollte aufspringen, doch mit einem gezielten Tritt in seine Leiste brachte ich ihn wieder zu Fall.
Verächtlich starrte ich auf ihn herab und ließ eine der Klingen einen Augenblick über seiner Brust schweben.
"Eigentlich verdienst du keinen schnellen Tod, aber wenn du nicht gleich stirbst, werde ich unleidig.", flüsterte ich und wusste, dass man die Blutgier in meiner Stimme klar und deutlich hören konnte.
Plötzlich hörte ich ein Sirren wirbelte herum.
Der Dolch, der von unten angeflogen kam, war schlecht gezielt und ohne ein großes Maß an Kraft.
Mit einer lässigen Bewegung von Okoyn, meiner Waffe, fiel der Dolch scheppernd zu Boden, ohne mich auch nur berührt zu haben. Meine Augen zuckten umher, doch ich sah den Angreifer nicht.
Wie ungewöhnlich. Normalerweise sah ich meine Widersacher sofort.
Erneut startete der oder die Unbekannte einen Angriff. Diesmal war der Wurf weniger energisch und noch schlechter gezielt, als vorher. Okoyn erledigte die Arbeit, als ich meine Gegnerin, die Majikku war, entdeckte.
Sie war auf allen Vieren bis zu Taurus' Arm gekrochen, bleich wie der Tod und voller Blut, drei Dolche lagen vor ihr auf dem Boden, einen Vierten hatte sie in der Hand. 
Taurus scheint Rechtshänder zu sein, mit den Dolchen in der linken Hand hätte er mich ununterbrochen angreifen können. Tja, aber aus Überheblichkeit hat er es nicht getan. Eine dumme, arrogante Krähe ist ja nicht einmal unterhaltsam. Noch ein Grund mehr, ihn loszuwerden., dachte ich noch, dann konzentrierte ich mich wieder auf Majikku.
"Du...? Warum?"
"Er gehört mir."
Ihre Stimme war wieder beherrscht, emotionslos und doch voller Autorität. 
Rache für ihr Pferd?
Früher hätte ich die Stirn gerunzelt, doch früher war Vergangenheit.
"Ist das eine Drohung?"
Ich betrachtete sie kalt, doch in mir brodelte es. 
Wie kann sie nur?! Wie kann sie mir nur die Erlösung abnehmen wollen, die mir Taurus' Tod nur bringt, wenn Okoyn ihn tötet?
"Nein. Nur eine Feststellung, nichts weiter."
Ich erwiderte:
"Das ist nicht wahr. Er gehört mir. Ich habe mir geschworen, jeden dieser Unglücksboten, jeden dieser räudigen Aasfresser, umzubringen."
Sie hob eine Augenbraue, ihre Stimme kalt wie Eis.
"Tatsächlich...?! Und du glaubst, dass mich dein Schwur davon abhalten wird, ihm eigenhändig seinen eigenen Dolch in die Brust zu rammen?!"
Ihre Stimme war emotionslos wie zuvor und ich bezweifelte, dass sie noch die Selbe wie vor wenigen Sekunden war, die sich beim Anblick seines abgetrennten Armes übergeben musste.
"Natürlich!", erwiderte ich laut, selbst etwas überrascht über die Heftigkeit meiner Reaktion. 
Halt den Rand! Du darfst nie zeigen, was du fühlst, schon vergessen? Idiot!
Erst danach fiel mir ein, dass sie ja nicht wissen konnte, was hier ein Schwur bedeutete. Wenn man hier, innerhalb dieser magischen Kuppe, etwas schwor, war man gezwungen, es zu halten, warum das so war, wusste ich allerdings nicht.
Aber klar war:
Wenn man seinen Schwur brach, starb man.
Und zwar nicht sofort, wie etwa bei einem Schwertstreich, sondern langsam und qualvoll wie bei einer Krankheit oder einem Gift. Die Stärksten schaffen es, eine Woche zu überleben, doch die meisten starben früher.
"Tja, da hast du dich wohl getäuscht!", erwiderte sie, nur leicht war die Wut in ihrer Stimme zu hören.
Ich schüttelte den Kopf, amüsiert über ihre Hartnäckigkeit. Aber die würde ihr am Ende sowieso nichts nützen, denn ich würde ihn zuerst töten.
Ich wandte mich wieder Taurus zu und wollte ihm alle fünf Klingen von Okoyn in die Brust rammen, doch er war weg!
Einfach weg! Wie hatte er das gemacht?! Mir entkam unbemerkt niemand! Aadil war eine Ausnahme.
Da sah ich die Blutspur und wollte ihr folgen, doch Majikku sagte:
"Ist das wirklich so gut, wenn du mich jetzt verlässt? Taurus könnte einfach versuchen, dich von mir weg zu locken, um mich mitzunehmen."
Ich zögerte.
Was sie sagte, klang plausibel, doch ich weigerte mich, es zu glauben.
Ich wollte ihn tot sehen. Nein, ich wollte sie alle tot vor mir sehen, verdammt! Sie hatten angefangen und würden jetzt die Konsequenzen tragen müssen, auch, oder gerade weil, sie ihren Tod beinhalteten!
Aber um das zu bewerkstelligen, musste ich mit dem Schlüssel der Prophezeiung und mit den Neko zusammenarbeiten.
Dennoch... Ich musste es wenigstens versuchen, das war ich meinem Schwur und meinem Stolz schuldig!
Ich wandte mich von ihr ab, sah sie nicht an, als ich die Schultern kaum merklich hochzog und mich einige Schritte von ihr entfernte.
"Nyoko?"
Ich ging schneller, versuchte, sie zu ignorieren.
"Nyoko!"
Ich wirbelte herum.
"Kuso!"
Ein japanischer Fluch, der übersetzt 'Verdammt!' hieß, der meine Lippen da verließ, bevor ich es verhindern konnte. Schon seit ich klein war, mochte ich die japanische Sprache und beherrschte deswegen einzelne Wörter und kurze Sätze. Inzwischen rollten mir deshalb häufiger japanische Ausdrücke über die Zunge, meist unterbewusst. Dieses Mal wusste ich allerdings ganz genau was und wieso ich das gesagt hatte.
Ich hatte geflucht, weil ich wusste, dass sie Recht hatte und weil ich ein starkes Ziehen in meiner Brust spürte. Die negative Auswirkung des Schwurs. Zum Glück hatte ich den Schwur vage genug formuliert, sodass dieser Schmerz mich nicht vergiften, mir aber einige Tage bleiben würde.
Auf einmal hörte ich ein dumpfes Geräusch und meine Augen fuhren zu Majikku.
Sie war mit dem Kopf auf dem Waldboden aufgeschlagen, doch das schien nicht ihr Problem zu sein. Die Magierin wälzte sich auf dem blutigen Boden und hielt sich die Schläfen, so als ob sie furchtbare Kopfschmerzen hätte.
Reflexartig sprang ich auf sie zu, packte sie an den Schultern, ihr Gesicht jetzt kopfüber und auf gleicher Höhe mit meinem und konnte sie noch an Ort und Stelle fixieren, bevor sich die Dolche, die immer noch am Boden lagen, in sie gegraben hätten. Doch ihr Kopf schwang immer noch hin und her.
"Naze desuka?!"
Übersetzt hieß es 'Warum?!'.
Kein ungewöhnliches Wort. Wie Majikku es allerdings sagen konnte, war mir unklar.
"Majikku? Majikku? Bist du in Ordnung?"
Sie stöhnte laut, doch plötzlich wurden ihre Bewegungen schwächer, bis sie gänzlich aufhörten. Trotzdem hielt sie sich immer noch die Schläfen. 

Einige Minuten vergingen, die aber genauso gut einige Herzschläge lang gedauert haben konnten, als sie die Augen aufschlug.
Sie blinzelte. Einmal, zweimal.
Ihre blauen Augen betrachteten mich verwundert, als sie fragte:
"Nyoko? Ist etwas?" 
Wie jetzt? Hat sie sich nicht gerade gewälzt, als ob jemand ihr Messer in den Kopf bohren würde? Hat sie nicht gerade japanisch gesprochen? Warum fragt sie da ob 'etwas ist'?!
Normalerweise vertraute ich meinen Sinnen und meinen Instinkten, doch so eine Situation hatte ich noch nie erlebt.
"Kannst du japanisch?", fragte ich also, anstatt auf ihre Frage einzugehen.
Noch nie war ich so froh, dass ich meine Stimme unter Kontrolle hatte und man mir meine Gefühle nicht anmerken konnte. Na ja, zumindest fast. Es gab eine Situation, da war ich froher, nein erleichterter, dass man mir beim Rekapitulieren meine Gefühle nicht anmerken konnte.
Blut, viel zu viel Blut.
Ich schloss die Augen, um die Erinnerungen, die mich Tag und Nacht wach hielten und mich nie in Ruhe ließen, zurückzudrängen.
"Nein, kann ich nicht. Bist du in Ordnung, Nyoko?"
Diese Worte hörte ich zur Genüge. Die meisten Menschen dachten, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, weil ich nicht verstand, weshalb ich ihnen Sachen erzählen sollte, die nicht wichtig waren oder sie nichts angingen. Doch dieses Mal könnte Majikku sogar Recht haben.
"Ähm, könntest du bitte meine Schultern loslassen? Ich meine, mir war kurz etwas schwindelig, aber das ist kein Grund, mich so festzuhalten."
Etwas zu schnell ließ ich sie los, hob sie auf meine Arme, stand auf und wusste, dass man meine Verlegenheit jetzt nicht mehr sehen konnte. Selbst wenn sie es gemerkt hätte, verlor sie kein Wort darüber.
Plötzlich rief Majikku aus:
"Ayita!"
Dann wandte sie ihr Gesicht zu mir und fuhr fort:
"Nyoko, bitte hilf ihr! Ihr muss geholfen werden!"
Ich zögerte.
"Ich kann sie zu Izanami bringen, doch die heilt nur Menschen, keine Tiere."
Und das war die Wahrheit, die reine Wahrheit, denn ich war eine miserable Lügnerin.
Ich konnte die Wahrheit verbiegen, verschweigen oder ich verstand etwas an der Aussage oder Frage des Anderen falsch und antwortete so, dass der Andere es als Lüge bezeichnen würde, aber direkt und offen lügen?!
Nein, das konnte ich nicht.
Niemandem war mit einer Lüge gedient. Wenn der oder die Andere es herausfand, verletzte es die Person umso mehr, dass ihr die Wahrheit vorenthalten wurde. Und selbst wenn es nicht herausgefunden wurde, erschuf diese Lüge eine unsichtbare Barriere zwischen einander und die- oder derjenige musste immer aufpassen, was er oder sie sagte. Alles nur Gründe, Lügen zu vermeiden.
"Aber Izanami muss es einfach schaffen! Sie muss, um Ayita Willen!"
Ich schwieg.
Etwas zu versprechen, von dem ich nicht wusste, ob es wahr werden oder passieren würde oder etwas zu versprechen, obwohl ich nicht wusste, ob ich es einhalten konnte, war nicht meine Art. Nicht mehr.
Vielleicht... Vielleicht in der Vergangenheit.

Majikku

Entsetzt wandte ich mich an Nyoko:
"Nyoko, bitte hilf Ayita! Ihr muss geholfen werden!"
Mit unleserlicher Miene antwortete sie:
"Ich kann sie zu Izanami bringen, doch die heilt nur Menschen, keine Tiere."
Tränen schossen mir in die Augen, während mich Nyoko weiterhin ungerührt musterte. 
Wieso sagt sie sowas?! Hat sie denn gar keine Gefühle?! 
Wütend und verzweifelt erwiderte ich:
"Aber Izanami muss es einfach schaffen! Sie muss, um Ayita Willen!"
Da hatte ich eine Idee.
Vielleicht... Vielleicht könnte mir ja Linus helfen, Ayita zu Izanami's Garten zu bringen?!
Kurz entschlossen suchte ich nach dem Geist des Hengstes. Sein Geist besaß einen Farbton, der züngelndem Feuer ähnelte, von Rot, über Orange, bis hin zu Gelb.
Ich zögerte nicht, als ich eintrat.
Ein Strudel empfing mich, so wie bisher in jedem Geist, doch diesmal war er so stark und wild, dass er mich umzuwerfen drohte. 
"Hallo?", fragte ich. 
"Wer ist da?" 
Einen Moment wunderte ich mich, dass seine Ausdrucksweise meiner sehr ähnlich war, doch ich konzentrierte mich fast sofort wieder auf das Gespräch. 
"Ich bin Majikku, dass Mädchen neben deiner Herrin. Sag' mal, Linus, könntest du mir einen Gefallen tun?" 
"Linus?! Soll das etwa mein Name sein?!" 
Ich hörte ein verächtliches Schnauben.
Neugierig fragte ich:
"Ist er es etwa nicht? Wie lautet denn dann dein Name?" 
Wieder schnaubte der Hengst. 
"Wenn meine Herrin nicht mal den Namen kennt, mit dem ich gerufen werde, seit ich ein kleines Fohlen bin und der zu mir gehört wie mein Huf, dann werde ich weder ihr noch dir einen Gefallen tun. Wenn ihr meinen Namen herausfindet, dann vielleicht..."
Mit diesen Worten warf er mich aus seinem Geist.
Ich hatte keine Ahnung, wie er das gemacht hatte, doch als ich versuchte, wieder in seinen Geist zu treten, bekämpfte er mich solange, bis ich aufgab und mich zurückzog. 
Na toll, jetzt habe ich einen beleidigten Hengst. Der Plan ist wohl nach hinten losgegangen., dachte ich missmutig. 
Und jetzt?
Ich hatte nicht die geringste Ahnung.
Plötzlich rüttelte mich Nyoko an der Schulter und sagte:
"Ich kann und werde dir nichts versprechen, aber ich kann es versuchen, also beruhige dich."
Sie pfiff mit diesen Worten durch die Finger und wollte wohl damit ihren Hengst rufen, doch der wandte ihr nur provokativ den Rücken zu und begann zu grasen.
Erneut versuchte sie es, wieder ohne Erfolg.
"Linus.", sagte sie, ihre Stimme kalt wie Eis.
Doch der schwarze Hengst ließ sich auch davon nicht beeindrucken, obwohl es mich ängstlich zusammenzucken ließ.
"Wie heißt er eigentlich?", fragte ich, mit einer betont beiläufigen Geste in Richtung des schwarzen Tiers, obwohl ich nicht einmal im Ansatz so entspannt war, wie es wirken sollte. 
Jemand muss endlich Ayita helfen!
Nyoko wandte sich mir zu und als sie anfing zu sprechen, konnte ich tatsächlich einmal die Belustigung in ihrer Stimme hören.
"Linus, aber das müsstest du doch inzwischen wissen."
Ich schüttelte den Kopf.
Die Belustigung in ihrer Stimme wurde noch deutlicher, als sie fragte:
"Nein? Ach, und wie soll er dann deiner Meinung nach heißen?"
Schulterzuckend antwortete ich:
"Keine Ahnung, aber auf jeden Fall nicht Linus."
Als sie etwas erwidern wollte, fuhr ich dazwischen:
"Ich habe mit ihm gesprochen."
Ihre blutroten Augen verrieten nichts.
"Und er hat gesagt, ich zitiere:
'Wenn meine Herrin nicht mal den Namen kennt, mit dem ich gerufen werde, seit ich ein kleines Fohlen bin und der zu mir gehört wie mein Huf, dann werde ich weder ihr noch dir einen Gefallen tun. Wenn ihr meinen Namen herausfindet, dann vielleicht...'"
Ich pausierte kurz.
Also wirst du wohl oder übel seinen Namen herausfinden müssen."
"Ich?"
Ihre Stimme wurde um einige Grad kälter, doch dieses Mal würde ich nicht klein beigeben und mich davon nicht beeindrucken lassen.
Ich straffte mich sichtbar.
"Ja, du."
Insgeheim war ich sehr stolz, dass meine Stimme gar nicht zitterte.
"Ach ja? Und warum ich, wenn ich fragen darf? Und warum dann auch noch nur ich? Du hast mich doch gerade erst in diesen Schlamassel hineingezogen."
Ich blinzelte und überlegte, wie ich ihr begreiflich machen könnte, was in mir vorging. 
"Du musst es doch einfach nur sagen..." 
Es war eher ein Gefühl, als ein Satz. Mein Kopf übersetzte das Gefühl der Belustigung, das Gefühl, dass ich alles komplizierter machte, als nötig, einfach in diesen Satz. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich das gar nicht selbst gedacht hatte, sondern dass diese Gefühle von Ayita kamen.
Ich erstarrte.
Woher hatte sie gewusst, was ich gedacht hatte? Wieso redete sie auf einmal normal? Ich hatte doch gar nicht mit ihr geredet! Und wie hatte sie mit mir geredet?
"Es ist ganz einfach. Ich rede gar nicht mit dir, sondern zeige dir bloß, was ich denke, während du blinzelst. Beim Blinzeln sind die Augen nämlich auch kurz geschlossen. Meine Gefühle übersetzt dein Gehirn in Sätze, weil du diese Art zu reden besser verstehst, obwohl ich eigentlich wie immer denke. Du kannst auch so mit mir reden, dabei musst du nicht einmal ganze Sätze sagen, sondern fühlen. Jetzt versuch' du es einmal." 
Irritiert blinzelte ich.
Nichts sagen, sondern nur fühlen? Was meinte sie damit? Wie sollte das gehen? Und dann auch nur in der kurzen Zeit, wo ich blinzelte?!
Auf einmal schnaubte Ayita, doch es klang eher wie ein Seufzen. 
"Beachte mich einfach nicht. Denk' einfach nur wie immer nach."
Ich runzelte die Stirn.
Was hatte sie denn für komische Stimmungsschwankungen?
Also wandte ich mich wieder Nyoko zu, die mich musterte und immer noch auf meine Antwort wartete. Da wurde mir erst bewusst, dass das Gespräch zwischen Ayita und mir wohl nur ein paar Augenblicke gedauert hatte.
Ob Ayita deswegen wollte, dass wir so miteinander sprachen?
Zustimmung strömte in Wellen von ihr aus.
Doch ich ignorierte sie und sagte, langsam, aber bestimmt an Nyoko gewandt:
"Nur du kannst das tun, ich würde nicht zu ihm durchdringen. Außerdem solltest du verstehen, dass jedes Wesen ein Individuum ist und nicht bloß ein Nutztier. Und ich bin mir sicher, dass es dir auch von Nutzen sein kann, mit ihm zu sprechen, wofür du den Schritt tun und ihn ansprechen musst. Das hier-
Ich machte eine Geste in Richtung des Hengstes und ihr-
"ist eure Angelegenheit. Da mische ich mich nicht ein."
Nyoko sagte, ihre Stimme kalt und verachtend:
"Ihn ansprechen? Er ist ein Pferd. Du tust so, als ob er klar und vernünftig wie ein Mensch denken würde. Wie soll ich ihn denn überhaupt 'ansprechen'?"
"Er ist klüger, als du denkst, glaub mir. Aber ehrlich gesagt, solltest du ihn gar nicht ansprechen, wie ich es mit Ayita gemacht habe, sondern eher denken."
Während ich das sagte, verstand ich plötzlich, was Ayita gemeint hatte.
Es war ja so einfach!
Die Frage war nur:
Wie konnte ich es Nyoko besser und deutlicher erklären, als Ayita es bei mir versucht hatte? "Denken...?"
Sie starrte mich an, als ob ich verrückt geworden wäre.
Ich nickte langsam, während ich versuchte, es besser zu beschreiben, als Ayita es getan hatte.
"Wenn du zum Beispiel über die Karasu nachdenkst, fragst du dich plötzlich, was wohl dein Hengst von ihnen hält, ohne dich auf ihn zu fokussieren. Du brauchst keine explizite Frage an ihn stellen, sondern dich wie immer verhalten. Jedes Mal wenn du blinzelst, sendest du nämlich sozusagen automatisch, was du gerade denkst. Natürlich bedeutet das auch, dass ihr euch völlig vertrauen müsst, damit er dich zum Beispiel in Ruhe lässt, wenn du gerade alleine sein willst und dass er dann auch währenddessen darüber nicht mehr spricht.
Andersherum genauso:
Wenn du wieder einmal nach dem Blut der Karasu dürstest und dich dein Hengst davon abhalten will, etwas Unbedachtes, Unvorsichtiges zu tun, solltest du ihm Gehör schenken."
Inzwischen hatte Nyoko mich bei der Stute abgesetzt, doch ich sah schnell, dass Ayita noch viel Zeit hatte, bis diese Verletzung lebensbedrohlich wurde, also beachtete ich sie nicht weiter.
Innerlich schüttelte ich den Kopf über mich selbst. 
Was für ein Drama ich doch wegen einer kleinen Wunde mache! 
"Warum hast du mir nicht gleich gesagt, dass die Verletzung ungefährlich ist?", fragte ich sie und konnte den leisen Vorwurf nicht gänzlich aus meiner Stimme heraushalten.
"Gegenfrage; glaubst du, ich hätte Nichts gesagt, wenn mir nur noch wenig Zeit bliebe?"
Jetzt musste ich schmunzeln.
Danach kehrten meine Gedanken jedoch wieder zu Nyoko und ihrem Hengst zurück und ich hatte das Gefühl, jetzt, am Ende des kleinen Vortrages, es gut erklärt zu haben und Ayita wirkte auch sehr zufrieden mit mir, doch Nyoko schnaubte nur verächtlich und wandte sich ab.
"Gib ihr Zeit. Du wolltest mir ja zuerst auch nicht glauben." 
Eigentlich wusste ich, dass sie Recht hatte, doch in diesem Moment kam mir Nyoko sehr uneinsichtig vor.
Ich hörte Ayita schnaubend lachen und spürte die Welle der Belustigung über mich so sehr, dass ich selbst laut auflachte.
Nyoko fuhr herum, denn offensichtlich dachte sie, dass ich sie auslachte.
Vorsichtig, aber nicht ängstlich, sagte ich:
"Ich habe dich nicht ausgelacht. Wir haben uns nur über mich lustig gemacht, weil ich zuerst auch nicht glauben wollte, dass man so mit ihr reden kann."
"Wir?"
Sie hob fragend eine Augenbraue.
"Ayita und ich."
Zorn loderte in ihren blutroten Augen und sie schien etwas erwidern zu wollen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Und einen Herzschlag später war ihr Gesicht wieder ausdruckslos.
Stattdessen wandte sie sich dem Hengst zu und versuchte durch List, durch Schauspielerei und auch durch pure Gewalt, den stolzen Hengst ihr unterzuordnen.
Erschrocken riss ich die Augen auf.
Es sah ganz so aus, als ob sie ihre, jetzt nicht mehr erkennbare, Wut auf mich an ihm ausließ!
Ayita widersprach:
"Nein, das liegt nicht an dir. Es liegt einfach in ihrer Art, andere ihr unterzuordnen. Man sieht sofort, dass es ihr Schwierigkeiten bereitet, unter Aadil zu stehen." 
Ich runzelte die Stirn.
Tatsächlich?! Also, ich sah nichts dergleichen.
Ayita schnaubte verärgert, aber ich konnte darunter auch eine Spur Belustigung wahrnehmen.
"Natürlich nimmst du das nicht wahr! Ihr Menschen seid so blind, ihr würdet nicht einmal einen erkennen, dass euch jemand liebt! Nur wenige haben die Gabe, einen kleinen Teil dessen zu sehen, die Körperhaltung, die Mimik, den Ton und die Körpersprache richtig zu verstehen. Doch auch ihnen gelingt es nicht gut genug, sich selbst zu verbergen. Ihnen gelingt es zwar etwas, aber dass ihr Anderen sie nicht versteht, liegt an eurer eigenen Blindheit. Wir Pferde und auch viele andere Tiere, haben feinere Sinne dafür und deswegen sprang mir diese offensichtliche Tatsache sofort ins Auge."
Jetzt war es an mir, belustigt und auch verärgert zu schnauben.
"Angeberin.", sagte ich, aber zu leise, als das Nyoko mich gehört haben konnte.
Da lachte sie wiehernd, so laut und schallend, dass ich meinte, mir müsste gleich der Kopf explodieren. Dennoch konnte ich nicht anders, als mitzulachen.
Mir blieb das Lachen jedoch augenblicklich im Halse stecken, als ich bemerkte, dass wir beobachtet wurden.
Ein blonder Junge mit blauen Augen, er war wahrscheinlich um die zehn Jahre alt, stand hinter einer Kiefer und betrachtete misstrauisch das Geschehen.
Erst jetzt wurde mir bewusst, was der Junge sehen musste:
Ein blutverschmiertes Mädchen, dass angelehnt an einer blutenden Stute saß und trotzdem aus vollem Halse lachte und eine junge Frau, die wie besessen versuchte, ein Pferd zu besiegen. Alles in allem, höchst ungewöhnlich. Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern.
Was ist hier schon normal? 
Sollte ich ihm zeigen, dass ich ihn gesehen hatte?
Ayita war dafür.
Da ich genauso wie Ayita wissen wollte, was er hier suchte und wieso er sich versteckte, hob ich die Stimme und rief:
"He, du! Du kannst ruhig herkommen, ich beiße nicht!"
Der Junge erschrak, gab sich allerdings einen Ruck und schlich in unsere Richtung, wie ein Tier, dass Gefahr witterte, aber aus lauter Neugier nicht fliehen wollte. Sein Kopf zuckte immer wieder zu dem schwarzen Hengst und Nyoko, bis er bei uns ankam. Einen Augenblick musterte er mich noch misstrauisch, Ayita ignorierte er vollkommen, doch dann schien er zu merken, dass ich keine Gefahr darstellte.
Plötzlich tat er etwas, was mich vollkommen aus dem Konzept brachte.
Seine blauen Augen weiteten sich kurz, dann presste er seinen rechten Arm an seinen Bauch und vollführte eine steife, aber dennoch höfliche Verbeugung.
"Entschuldigt, Ma'am, aber die Zeiten werden schwieriger und die Leute immer misstrauischer. Ich hoffe, Ihr könnt mir mein Misstrauen Euch gegenüber entschuldigen."
Ich war überrascht über das förmliche, servierte Benehmen des Jungen.
Wie ein Butler, schoss es mir sofort durch den Kopf.
Doch etwas anderes überraschte mich noch mehr. 
Ma'am? Sind wir etwa im siebzehnten Jahrhundert und noch dazu in England? 
Doch ich hütete mich ihn auszulachen.
Vor meinen Augen sah ich ein Bild auftauchen:
Er, ein junger Mann in einem schwarzen Anzug, mit weißen Handschuhen und einem weißen Handtuch auf dem rechten Arm, den er in einer Verbeugung an sich presste. Vor ihm stand eine Frau, ebenfalls mit blonden, aber hüftlangen Haaren und blauen Augen. Ein bodenlanges, blaues, trägerloses Kleid bauschte sich um sie, wie Wasser und eine silberne Kette hielt einen tropfenförmigen, in Silber eingefassten Saphir auf ihrem blassen, zierlichen Hals. Sie schien einen Knicks anzudeuten, tat ihn aber nicht, sondern nickte ihm nur freundlich, aber distanziert zu. Man merkte kaum, dass sie sich an ihre weiße Stute lehnte.
Ich riss die Augen auf. 
Das bin ja ich! Und dazu dieser Junge! Heißt das etwa, dass ich einen Knicks machen soll? Aber wie? Ich habe kein Kleid an und kann auch nicht aufstehen!
"Nicke, höflich, aber distanziert, so, wie du es da gesehen hast. Er verhält sich dir gegenüber ja auch so. 
Am besten du sagst noch so etwas wie: 
'Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir'." 
Beinahe hätte ich losgeprustet, doch ich hielt den Mund. Dann fielen mir die altertümlichen Waffen ein, dass ich keinen Gehwagen hatte und mir war nicht mehr nach Lachen zumute.
Ich war ja sozusagen wirklich im siebzehnten Jahrhundert!
Aber ich riss mich energisch aus den trübsinnigen Gedanken.
Es wäre schon interessant, sich einmal so mit jemandem zu unterhalten. Außerdem, vielleicht erwartete es Aadil ja sogar.
Also nickte ich dem Jungen mit einem höflichen, aber distanziertem Lächeln zu und sagte:
"Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, junger Herr."
Einen Moment stutzte er, dann verbeugte er sich eilig abermals und beteuerte:
"Die Freude ist ganz meinerseits, Ma'am. Mein Name ist Louis, doch nennt mich doch bitte einfach Lou. Kann ich noch irgendetwas für Euch tun?"
Ich wollte schon abwinken, da fiel mein Blick auf die Stute und ich sagte:
"Könntet Ihr bitte Izanami holen und ihr ausrichten, dass sie alles Nötige mitbringen soll, um meine Stute zu behandeln? Mein Name ist übrigens Majikku."
"Ich weiß, Ma'am."
Er lächelte, doch das Lächeln schien seine Augen nicht zu erreichen.
"Wichtige Dinge sprechen sich hier sehr schnell herum."
Ich war so überrascht, dass ich nicht wusste, wie ich darauf antworten sollte.
Lou zögerte, man sah ihm deutlich an, dass es ihm seine Höflichkeitsfloskeln nicht erlaubten, doch das sein Drang, etwas zu sagen, größer war.
"Mit Verlaub, Ma'am, ich weiß, dass es mir nicht zusteht, so etwas zu sagen, aber sollte sich die Heilerin nicht erst um Eure Verletzungen kümmern, bevor sie sich Eurem Pferd widmet?"
Er zog die Schultern etwas hoch, nahm seine Frage aber nicht zurück.
Ich lächelte und sagte beruhigend:
"Macht Euch keine Sorgen, dass hier ist nicht mein eigenes Blut."
Ich war davon ausgegangen, dass ihn dieser Satz beruhigen würde, doch ich schien das Gegenteil zu erreichen. Lou wurde leichenblass und sah aus, als wolle er schreiend davonlaufen.
"Ein Karasu, Ma'am? Es gab schon den ersten Toten durch Eure Hand?! Oder war es gar jemand von uns, der Euch so erzürnt hat?!"
Entsetzt, über das, was er da von mir dachte, wollte ich ihn anschreien, doch das hätte seine Vermutung nur bestätigt.
Also sagte ich relativ gefasst, wenn ich es auch nicht schaffte, völlig ruhig zu klingen:
"Ja, es war ein Karasu, aber er ist nicht tot und ich habe ihn auch nicht angegriffen."
Damit erzählte ich ihm alles, von dem Moment, als ich die Stimme im Wald gehört hatte, die direkten Gespräche mit den Pferden formulierte ich etwas um und ließ es so dastehen, als verstünde ich einfach nur die Körpersprache der Pferde gut. Seine Augen weiteten sich immer mehr während der Erzählung, doch er unterbrach mich kein einziges Mal.
Als ich geendet hatte, fügte ich noch hinzu:
"Wenn Ihr mir nicht glaubt, dort liegt sein Arm."
Ich deutete auf den Waldboden, doch sein Gesicht, das bei dieser Bemerkung zusehends blasser wurde, blieb unverändert auf mich gerichtet.
"N-nein, danke. Ich glaube Euch und jetzt verstehe ich auch Eure etwas missliche Lage. Entschuldigt bitte vielmals, ich war Euch gegenüber viel zu misstrauisch."
Ich winkte ab.
"Es ist nicht weiter schlimm, aber bitte holt Izanami."
Ich pausierte.
"Lou."
Sein junges Gesicht hellte sich auf und jetzt lächelte er wirklich.
"Ich renne wie der Wind, Ma'am! Ihr werdet nicht einmal bemerken, dass ich fort war, Ma'am!"
Damit rannte er zurück zu der Felswand. Erleichtert seufzend lehnte ich mich, vorsichtig, um sie nicht noch mehr zu verletzen, an Ayita. Ich betrachtete die Kämpfenden und seufzte.
„Und jetzt?"
Es war mehr eine Frage an mich, als an Ayita. 
"Wir warten. Etwas Besseres fällt mir auch nicht ein. Warten."
Ich nickte, eine abwesende Geste.
Auf einmal wandte sich Nyoko vom Hengst ab, mit glühenden Augen und vor Wut knurrend.
Mit schräggelegtem Kopf fragte ich sie:
"Und? Wie heißt er denn nun?"
"Linus, wie immer."
Ihre Stimme war vollkommen ruhig, aber ihre glühenden Augen und ihre energischen Bewegungen straften ihre Worte Lügen.
Ich nickte, denn irgendwie hatte ich nichts anderes erwartet.
Eine Frau wie sie, gab sich nicht so leicht geschlagen, besonders nicht von jemanden, der ihrer Meinung nach unter ihr in der Rangordnung stand, zumindest, wenn ich Ayita's Worten Glauben schenken konnte.


Izanami kam überraschend schnell zu uns, mit dem Korb unterm Arm, darin ihre wohltuenden Salben nahm ich an, ihre grünen Augen glänzten sorgenvoll.
"Majikku?! Wer hat dir das angetan? Dir und auch noch deiner Stute!"
Ich blieb ruhig, als ich antwortete:
"Mir hat niemand etwas angetan, das ist nicht mein eigenes Blut, sondern das von Taurus. Ayita jedoch, wurde von Taurus' Dolch getroffen, als sie mich beschützte. Könntest du dich bitte um sie kümmern?"
Sie nickte nur, kramte ihre Salben aus dem Korb und kniete sich vor Ayita und mir hin. Erst da bemerkte ich Lou, der hinter Izanami stand und sich erneut verbeugte.
"Kann ich irgendetwas für Euch tun, Ma'am?"
Izanami bedeutete mir mit einem Wink, dass ich mich von Ayita entfernen sollte.
Ich lächelte gequält, aber auch etwas schüchtern, als ich darauf zu Lou sagte:
"Wenn Ihr es schafft, könntet Ihr mich dann hochziehen, sodass ich mich an Euch stützen kann, um Izanami nicht im Weg zu stehen?"
Er nickte und sagte energisch:
"Natürlich schaffe ich das! Ich bin zwar erst zehn Jahre alt, aber Ihr seid eine so schlanke Person, dass ich Euch auf jeden Fall hoch helfen kann und es wird mir eine Ehre sein, Euch zu stützen."
Ich errötete, denn obwohl er so jung war, benahm er sich wie ein richtiger Gentleman. Nicht, dass ich etwas für ihn empfinden würde, aber so etwas Charmantes kriegte man nur selten zu hören.
Sein Griff war sicher, zwar nicht so stark wie der, eines ausgewachsenen Mannes, aber dennoch stark genug, dass er mich hochziehen und halten konnte.
Angewidert betrachtete ich meine blutverkrusteten Haare, meinen dreckiges Gesicht und meine befleckten Klamotten und zog eine Augenbraue hoch.
"Und da wollt ihr mich sogar stützen? Ich wäre schreiend weg gerannt!"
Ich lachte leise, während Lou errötete und eine Verbeugung andeutete.
"Aber, Ma'am! Niemals würde ich vor jemanden wie Euch weglaufen!"
Ich lächelte müde.
"Das ist sehr freundlich von Euch, Lou."
Plötzlich wieherte der Hengst und ich erschrak.
Mein Kopf schnellte zur Seite und ich erblickte eine höchst seltsame Szene:
Der schwarze Hengst stand über der am Boden liegenden Nyoko, die Vorderhufen auf ihrer Brust. Er hatte den Kopf nach unten gesenkt, die Schnauze um ein Haar breit von ihrem Gesicht entfernt. Nyoko's blutrote Augen waren glasig, als nähme sie den muskulösen Hengst über sich gar nicht wahr.
Er schnaubte, blies ihr die schwarzen Haare aus dem Gesicht und stieg von ihr herunter.
Im nächsten Moment verschwand der glasige Ausdruck aus ihren Augen und sie sprang auf. Hass glänzte nun in ihnen, als sie mit ihrer linken Hand einen Dolch zog, ihn nach dem Hengst werfen wollte, sich aber, scheinbar unter größter Mühe, beherrschte und den matt schimmernden Dolch in einer flüssigen, halbkreisförmigen Bewegung über ihre rechte Schulter seitlich in einen Baum grub. Ruckartig riss sie an der Kette, der Dolch flog zurück in ihre Hand und sie warf ihn erneut.
Überrascht bemerkte ich, dass sie genau in die vorherige Kerbe getroffen hatte.
Blitzschnell, nur als verschwommener Schemen sichtbar, wirbelte sie nach links, zog zwei Dolche, wiederholte die Bewegung, sodass sich ihre Arme überkreuzten, warf sie und zog nochmal zwei Dolche. Langsam bekam ich Angst.
Wie viele solcher Waffen hatte sie?
Ungerührt warf sie auch dieses Paar Dolche und der Baum bebte unter der Wucht des Wurfes. Jetzt waren links im Baum drei und rechts zwei Dolche, die fünf Ketten bildeten eine Brücke zwischen der Kiefer und ihr.
Nyoko's Augen glänzten, während sie an den Ketten zog und das Ganze wiederholte.
Lou keuchte und mein Kopf schnellte zurück zu ihm.
Seine blauen Augen waren angstvoll, aber auch respektvoll geweitet und er flüsterte:
"Ist das etwa die berühmte Nyoko!? Alle sprechen vor ihr und ihrem Talent, aber ich hatte sie mir irgendwie..."
Er brachte seinen Satz nicht zu Ende, offensichtlich fehlten ihm die Worte.
Ich half ihm auf die Sprünge:
"Anders vorgestellt?"
Als er nickte, lächelte ich wissend, denn ich wusste, was er meinte.
Plötzlich ächzte die Kiefer und ich wandte meinen Kopf wieder zurück zu Nyoko.
Meine Augen weiteten sich entsetzt und aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Lou fragte:
"Ma'am, was ist- die Situation verfasste und sofort verstummte.
Auch Izanami keuchte entsetzt auf, was mich nicht wunderte und rief:
"Nyoko?! Was tust du da?! Hör' sofort auf, das ist gefährlich!"
Doch Nyoko schien niemanden außer sich mehr wahrzunehmen.

Es dauerte noch eine Weile, dann ächzte die Kiefer ein letztes Mal und kippte langsam, aber immer schneller, zur Seite und schlug, zum Glück nicht in unsere Richtung, krachend auf dem Boden auf.
Meine Augen wurden noch größer, als ich erkannte, was die Szene bedeutete:
Nyoko hatte mit ihren Waffen eine Kiefer innerhalb kürzester Zeit gefällt. Wie unheimlich. 
Das war ganz eindeutig eine Waffe!
Jetzt lachte ich trocken.
Natürlich war das eine Waffe! Das waren hier alles Waffen! Die Leute hier befanden sich in einem Krieg! Wann ging das eigentlich endlich in meinen verdammten Schädel rein?!
Nyoko schwang sich die Dolche über die Schulter und ich dachte schon, sie würde sich den Rücken aufschlitzen, doch sie ruckte, scheinbar abwesend, kurz an den Ketten und sie fielen, klirrend, aber völlig ungefährlich, gegen ihren Rücken.
Jetzt fluchte sie.
"So ein Schwachsinn! Sagt er, er hieße Würde und wir stünden im selben Rang! Als ob..."
Am Rande nahm ich wahr, dass Nyoko fortfuhr, doch ich hörte nicht mehr zu.
Eine immense Welle der Übelkeit überschwemmte mich und ich taumelte.
Automatisch entriss sich Lou meine Hände, presste sie auf meinen Mund und bemerkte nur, wie durch eine unsichtbare Wand, dass ich fiel.
Warum nur? Warum passierte mir das so oft?
Auf einmal ging ein Ruck durch meinen Körper und ich hörte Stimmen, doch es war unwichtig.
"Warum nur?! Warum denn nur ich?! Kann denn nicht einmal etwas einfach oder wenigstens normal sein?! Oh, mir ist so schlecht..."
Ich stöhnte.
Plötzlich würgte ich, also drehte ich den Kopf zur Seite erbrach mich.
Der bittere Geschmack der Magensäure füllte meinen Mund und hustete. Da bekam ich eine Ohrfeige und schreckte hoch, immer noch würgend und hustend. Erst, als die Übelkeit etwas nachließ, erkannte ich Lou's verschwommene Silhouette über mir.
"Ma'am?! Ist alles in Ordnung mit Euch?! Was sagt Ihr da?! Ihr seht gar nicht gut aus..."
Die Übelkeit kam wieder und ich erbrach mich erneut.
Mühsam versuchte ich, mich aufzusetzen, doch Lou drückte mich zurück in seinen Schoss. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich am Boden und in seinem Schoss lag.
Auf einmal sagte Ayita: 
"Ich habe einen Verdacht."
Ich runzelte die Stirn.
Was meinte sie?
Doch bevor sie zu einer Antwort ansetzen konnte, fragte Nyoko:
"Majikku? Ist alles mit dir Ordnung?"
Ich brachte nur ein schwaches Nicken zustande und sank zurück in Lou's Schoss.
Izanami war sofort zur Stelle und fragte:
"Wie fühlst du dich?"
"Scheußlich. Mir ist so schlecht..."
Sie runzelte die Stirn.
"Dir ist übel? Hast du etwas Schlechtes gegessen?"
Verneinend schüttelte ich den Kopf.
"Aber es kam schon häufiger vor. Entweder Übelkeit oder Schmerz in den Schläfen, zusammen mit Schwäche."
Izanami sagte nachdenklich:
"Was für ungewöhnliche Symptome... Und dann hast du auch noch keine Ahnung, woher sie kommen könnten... Naja, was auch immer das zu bedeuten hat, wir werden schon früh genug herausfinden. Aber sag mir sofort Bescheid, wenn das wieder passiert."
Wieder nickte ich und wurde mit einem Mal müde. Da war sie, die berühmt-berüchtigte Schwäche.
Mühsam versuchte ich erneut, mich aufzurichten, um mir ein letztes bisschen meiner Würde zu bewahren.
"Wie auch immer wir sollten zu dir, Izanami, um zu Ayita zu versorgen. Am besten, wir brechen sofort auf.", sagte ich und versuchte so, die bleierne Müdigkeit zu ignorieren.
Alle nickten zustimmend, wenn auch nach kurzem Zögern, doch im nächsten Moment wirbelte Nyoko herum und verschwand.
Ich runzelte die Stirn. 
Wo will sie hin?
Da bemerkten auch die Anderen ihr plötzliches, vollkommen lautloses Verschwinden und holten alle gleichzeitig tief Luft, um nach ihr zu rufen, als auf einmal ein tiefes Grollen ertönte. Erst dann zuckte ein greller Blitz über den Himmel.
Ein Gewitter? Und ich habe an ein Tier gedacht.
Ich rollte mit den Augen, belustigt und verärgert über mich selbst.
Ein weiterer Blitz erschien und diesmal krachte es ohrenbetäubend.
Lou, Izanami und ich zuckten zusammen und die Pferde schnaubten nervös.
Doch das war nichts im Gegensatz zu Nyoko, die den Schauplatz des Geschehens soeben wieder betreten hatte.
Ihre Augen wurden dunkel und sie versteifte sich, so sehr, dass ihr der Dolch, den sie umklammert hielt, aus der Hand rutschte und klirrend zu Boden fiel.
"Nyoko?", fragte ich, überrascht, dass sie so schnell wieder zu uns gestoßen war.
Doch sie reagierte nicht, sondern starrte nur gen Himmel, der sich besorgniserregend schnell verdunkelt hatte. Wir mussten los, am besten, bevor ein Blitz in einen Baum einschlug. Nyoko bewegte sich jedoch nicht, reagierte nicht, gar nichts.
"Nyoko?",  fragte ich erneut.
Was war das nur für ein Instinkt, ein innerer Zwang, der mir befahl, sie vor den Blicken der Anderen zu schützen? Offensichtlich hatte Nyoko sich nicht unter Kontrolle und ich wollte nicht, dass die Anderen sie so sahen.
Plötzlich fiel Nyoko's Kopf nach vorne, sodass ihre langen, schwarzen Haare ihr Gesicht verbargen. So, als hätte man den Faden einer Marionette urplötzlich und abrupt durchtrennt, wodurch der Marionettenspieler keinen Einfluss mehr auf seine Marionette hatte. Gruselig. Als ob sie vollkommen anderswo in Gedanken wäre.
Ob ich die Anderen wohl bitten konnte, zu gehen? Oder musste ich es ihnen befehlen?
Falls du überhaupt berechtigt bist, sie herum zu kommandieren., dachte ich spöttisch.
Lou zog mich hoch, er hatte Nyoko noch nicht bemerkt.
Izanami aber schon.
"Nyoko? Was ist mit dir los? Wollten wir nicht aufbrechen?", fragte sie verwundert.
Mist! Jetzt werden sie es bemerken!
Da rappelte sich Ayita auf, gestützt von Würde, drehte sich um und trottete in Richtung der Felswand, da sie wusste, dass ich eine Ablenkung brauchte.
Danke, Ayita!
Ich hatte meine Augen nicht geschlossen und ich hatte auch nicht versucht wie sonst mit ihr zu reden, also war unklar, ob sie mich überhaupt verstanden hatte, denn die einzige Reaktion war ein Schnauben ihrerseits.
"Könnt ihr bitte vorgehen? Ich werde mit Nyoko nachkommen."
Izanami sträubte sich nicht oder verbarg es zumindest gut. Sie nickte langsam und eilte ihrer Patientin hinterher.
Lou jedoch, versteifte sich merklich.
"Warum?"
Er klang fassungslos, verwundert und irritiert.
"Weil ich dich darum bitte."
"Aber Ma'am! Ihr könnt nicht einfach tun und lassen, was Ihr wollt! Ihr tragt eine große Verantwortung, für Euch, für Neko und-
"Als ob ich das nicht selbst wüsste, Louis! Aber ich bleibe nicht lang. Ich werde nur kurz etwas mit Nyoko besprechen, dann komme ich zusammen mit ihr nach. Jetzt geh'."
"Aber-
"Geh."
Ich pausierte und holte tief Luft.
"Das ist ein Befehl."
Ich entriss ihm eine meiner Hände, bückte mich ungelenk und sammelte zwei der vier Dolche auf.
Vorsichtig erhob ich mich wieder und schlug die Dolche in den Baum neben mir, entnahm Lou meine zweite Hand und legte sie auf den zweiten Dolch. Unverwandt starrte ich die raue Rinde vor meiner Nase an.
"Geh."
Instinktiv wollte ich lächeln, doch ich hielt es zurück. Ich hatte es zwar geschafft jedes Gefühl aus dieser Aussage herauszuhalten, aber wenn ich jetzt lächelte, machte ich meinen vorherigen Erfolg zunichte.
Überrascht bemerkte ich, wie sich Lou, anfangs zögerlich und langsam, schließlich aber immer schneller von mir entfernte, bis er beinahe hinter Izanami her rannte.
Kann ich wirklich Befehle erteilen?, dachte ich überrascht.
Da krachte es erneut und ein weiterer Blitz zuckte über den, inzwischen pechschwarzen, Himmel, was mich aus meinen Gedanken riss.
Ohne jede Vorwarnung brach Nyoko zusammen.
"Nein!"
Das Wort war so energiegeladen, voller Wut, Trauer und Schmerz, dass ich instinktiv mitfühlend zusammenzuckte.
"Nyoko, was ist?"
Sie antwortete nicht.
"Schweine! Dreckskerle! Hat irgendwer nicht weggesehen?! Wer hat hingesehen?! Niemand! Schweine! Feiglinge! Dreckskerle! Blut. Dunkelheit. Schmerz. Hass. Wahnsinn. Trauer. Tod. Und wen interessiert's?! Niemanden! Ihr-
"Nyoko? Ich bin hier! Was ist los? Komm schon, sag' es mir!", rief ich, um das Gewitter zu übertönen und um sie zu beruhigen.
Erfolglos.
"Verreckt, verblutet, verbrennt, ersauft, erstickt, egal, Hauptsache alle!"
"Nyoko! Ich bin doch hier!"
Hastig, ja panisch, riss ich beide Dolche aus dem Baum, machte einen unsicheren Schritt in ihre Richtung und fiel. Irgendwie schaffte ich es mich dabei nicht selbst mit den Dolchen aufzuspießen. Doch meine Aufmerksamkeit galt Nyoko.
Was ist nur los mit ihr? Was bringt sie außer Fassung?
Ein weiterer Donnerschlag zerriss den Himmel. Das Krachen war so laut, dass ich glaubte, taub zu werden, während ich aus dem Augenwinkel einen weißen Blitz leuchten sah.
Oh, oh, nicht gut... Das Gewitter wird immer stärker. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann hier ein Blitz einschlägt.
Plötzlich kauerte sich Nyoko auf den Boden, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und winselte.
Ja, die große, mächtige, angsteinflößende, durch nichts aus der Fassung zu bringende Nyoko, winselte.
Aus Sorge um Nyoko versuchte ich schneller zu kriechen, doch es funktionierte nicht wirklich.
Obwohl ich es inzwischen besser wissen sollte, versuchte ich es erneut:
"Nyoko! Ich bin doch hier, es ist alles gut..."
Es war unnatürlich, Nyoko in einem so schwachen Moment zu sehen.
"Nein...", winselte Nyoko, fassungslos, traurig und entsetzt.
"Sie sollten sterben, ja, aber nicht-
Das Krachen des Donners verschluckte den Rest ihres Satzes. Inzwischen war ich fast an ihrer Seite.
"Bitte nicht..."
Ich stockte.
Nyoko winselte wie ein geprügelter Hund und hörte sich an, als sei sie den Tränen nahe.
War das wirklich Nyoko?
"Bitte!"
Diesmal spuckte sie sie das Wort verächtlich aus, sogar eine Spur Wahnsinn schwang in ihrer Stimme mit.
"Hass. Blut. Dunkelheit. Schmerz."
Endlich hatte ich sie erreicht, richtete mich halb auf, sodass ich auf den Knien stand und griff nach ihrem Arm.
"Nyoko, was-
Da passierte alles so schnell, dass ich nicht dazu kam, zu Ende zu sprechen.
Als ich sie berührte, schoss sie wie elektrisiert hoch, Hass und Mordlust standen in ihren blutroten Augen.
"Elendiges Drecksschwein! Stirb!"
Erst da bemerkte ich, dass sie einen ihrer Dolche umklammert hielt, so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Dabei schnitt sie sich in die Handfläche, so stark, dass es sicherlich bald tropfen würde, das schien sie gar nicht zu bemerken.
Reflexartig riss ich meinen Arm hoch, um mich zu schützen, kniff die Augen fest zusammen und erwartete den Schmerz.
Doch er kam nicht.
Stattdessen ertönte ein schmerzhaftes Kreischen von Metall auf Metall und ich spürte, wie mich etwas nach unten drückte.
Vorsichtig öffnete ich ein Auge und zuckte zusammen, als ich Nyoko's Dolch direkt vor mir sah. Sie beugte sich über mich, ihre Augen dunkel und voller Hass.
Mühsam versuchte ich, ihrem Schlag, nein, ihren zu einem Schlag zusammengeballten Gefühlen, standzuhalten.
Nyoko's Mund verzog sich verächtlich, als sie sagte:
"Feigling! Ausbluten sollst du, wie ein Schwein! Das ist das Einzige was du verdienst! Du solltest an deinen Innereien aufgehängt und den Krähen, ach was, den Löwen zum Fraß vorgeworfen werden!"
Abgrundtiefer Hass.
Ich fühlte mich zutiefst verletzt.
Was habe ich ihr denn getan?!
Da bemerkte ich, dass ihre Augen glasig waren, als sähe sie etwas, was mir verborgen blieb.
Sie erkannte mich nicht.
Einen Moment lang durchströmte mich tiefe Erleichterung.
Dieser Hass, stärker, als alles, was ich bisher gesehen hatte, war nicht wirklich auf mich gerichtet.
Dann jedoch Sorge und Angst.
Sie ist immer noch in einer anderen Welt. Und ich kann nicht einmal mit einer Berührung zu ihr durchdringen. Was soll ich nur machen?
Jetzt gewann meine Angst die Oberhand.
Ich wollte, konnte nicht sterben. Nicht so. Nicht, wenn ich Nyoko so im Gedächtnis behalten sollte, vollkommen außer sich, so von Sinnen.
Die Neko brauchten die alte Nyoko und kein psychisches Wrack, wie sie es jetzt war. Ich brauchte sie. Elias und Aadil brauchten sie, als ernste Freundin, als kluge Ratgeberin und für die anderen Mitglieder als Fels in der Brandung.
Da fing ich an zu schluchzen und fasste irrwitzigen Entschluss. Ich würde so oder so sterben. Ich ließ den Dolch abrutschen, schleuderte ihn absichtlich weit weg und ließ den anderen Dolch fallen, während ich mein Gesicht an ihre Brust presste.
Weinend umarmte ich sie und krallte mich in ihr Kleid.
Ich hatte solche Angst. Aber nicht mehr um mich, sondern um Nyoko. Was geschah da nur mit ihr? Das war sie doch nicht!
Das sie sie nicht! Das ist nicht Nyoko!
Da fielen Tropfen auf meinen Kopf, doch ich konnte nicht sagen, was es war, denn in diesem Moment fing es an zu regnen. Waren es Blutstropfen, Regentropfen oder Tränen?
Ich wusste es nicht.
Hemmungslos weinte ich an ihrer Brust, ich konnte einfach nicht anders.
Ich zuckte erschrocken  zusammen, als mit einem klirrenden Geräusch ihre Klinge zu Boden fiel.
Plötzlich umarmte sich mich, so heftig, dass ich meinte zu ersticken und ich zuckte erneut zusammen. Ich konnte nichts tun, als wie gelähmt in ihren Armen zu liegen, während die Tränen stumm weiter über meine Wangen rannen.
Da bemerkte ich etwas, was ich zuerst nicht definieren konnte, riss aber ungläubig die Augen auf, als ich begriff.
Nyoko weinte!
Leise zwar, doch ihr ganzer Körper bebte, als ob sie am liebsten laut geschluchzt hätte.
"Es tut mir so leid... Ich hätte fast... Kannst du mir das je verzeihen? Es-
Das Gesicht nass vor Tränen, schaute ich auf und war verblüfft als ich sah, dass sie tatsächlich weinte. In ihren Augen stand Sorge, Erleichterung und... Zuneigung.
Doch urplötzlich sprangen diese Gefühle in Überraschung, Entsetzen und Wut um. Sogar Panik und unendlich tiefer Schmerz, der sich zusammen mit Trauer in ihre Seele gebrannt zu haben schien, glaubte ich zu sehen.
Allerdings warst du noch nie gut in so etwas. Warum sollte es also ausgerechnet jetzt  funktionieren?, schalt meine innere Stimme mich.
Und offensichtlich behielt sie Recht.
"Du?!", rief Nyoko erschrocken aus, stieß mich weg, weg von sich selbst, Trauer umnebelte ihre Augen.
Ich schlug hart am Boden auf und musste mich auf den Bauch drehen und von da aus auf alle Viere stellen, um nicht wie ein Käfer auf dem Rücken zu liegen.
Zischend vor Schmerz, den dieser Aufprall mit sich gebracht hatte, aber auch vor Scham und vor Wut über ihre abweisende Art, antwortete ich:
"Was heißt hier 'du'?! Wen hast du denn bitte sonst erwartet?! Ich war es immerhin, die dich davon abgehalten hat, mich, den angeblich ach so wichtigen 'Schlüssel der Prophezeiung' umzubringen! Das hättest du dir doch nie verzeihen können, also hör auf, mich so anzufahren! Was war überhaupt mit dir los?! Du schwafelst etwas davon, dass niemand hingesehen habe und aus heiterem Himmel willst du mich umbringen! Was habe ich dir getan?! Du-
Ruckartig stand Nyoko auf.
"Wer außer dir hat mich beobachtet?"
Sie entfernte sich ein paar Schritte von mir, wandte mir den Rücken zu und machte sich nicht einmal die Mühe, mir aufzuhelfen oder sich zu entschuldigen.
"Niemand.", sagte ich und versuchte meine Wut zu unterdrücken.
Ich musste vernünftig mit ihr reden, um Antworten zu bekommen.
"Ich habe alle gebeten vorzugehen, als ich merkte, dass du nicht mehr ansprechbar warst."
Ich hörte, wie Nyoko Luft holte, als ob sie etwas sagen wollte, hielt dann jedoch inne.
Die mühsam unterdrückte Wut und Trauer kamen hoch, überfluteten mich und rissen mich mit, als ich begriff, dass sie 'Danke' hatte sagen wollen, sodass danach alles wie durch eine Wand geschah, als ob mir mein Körper nicht mehr gehörte und sich alles vor mir wie in einem Film abspielte, ohne dass ich eingreifen konnte.
Wutentbrannt warf ich den Dolch nach ihr, der neben mir im Schlamm lag. Normalerweise hätte ich das nicht getan, doch das verletzte mich zutiefst. Zuerst sich bedanken zu wollen, sich dann aber zu unterbrechen, als ob man diesen Dank gar nicht verdiente.
Treffen wollte ich ihre rechte Schulter und diesmal war mein Wurf gezielter, eigentlich hätte ich sie getroffen.
Aber eben nur eigentlich.
Noch während der Dolch flog, schrie ich ihr entgegen:
"Wie wäre es mit einem 'Danke'?! Dich hat keiner außer mir gesehen, was du offensichtlich gut findest! Warum dankst du mir dann nicht?!
Und außerdem:
Wenn ich nicht da gewesen wäre, hättest du alle umgebracht sobald du uns erreicht hättest, mich eingeschlossen, da bin ich sicher! Ein bisschen Dankbarkeit wäre also durchaus angebracht! Du-
Abrupt hielt ich inne.
Nyoko's Hand schoss hoch und sie fing den Dolch zwischen Zeige- und Mittelfinger ab.
Ich riss die Augen auf.
Was?! Den kann sie doch gar nicht gesehen haben!
"Was? Hast du gedacht, dass ich mich von deinem Spielzeug treffen lasse?"
"Du...!"

Eine Weile hörte man nur das unaufhörliche Prasseln des Regens, dann sagte Nyoko, ihre Stimme kalt und hart wie Eis:
"Warum sollte ich dir danken? Du hast doch nur deinen eigenen Hals gerettet, mehr nicht. Und sie werden sowieso erfahren was mit mir los war, weil du es ihnen alles haarklein erzählen wirst, in der Hoffnung, dass sie mehr wissen, hab ich recht?"
Ich zuckte zusammen.
"Also brauche ich dir auch dafür nicht zu danken.
Die Frage bleibt:
Wofür dann?"
Betroffen schwieg ich.
Da mir allerdings immer noch eine nicht zu unterdrückende Frage auf der Zunge brannte, fragte ich trotzdem:
"Hast du mich vorhin für jemand anderen gehalten?"
Sie zögerte.
"Ich dachte, du wärst-
Sie brach ab und versteifte sich.
"Und schon wieder willst du genaueres wissen. Aasgeier."
Tränen stiegen mir bei dieser Beleidigung in die Augen.
"Gar nicht wahr! Ich möchte nur wissen, was mit dir los war! Was prägt dich so, was macht dich so, wie du bist? Ich mache mir Sorgen, denn ich bin ja schließlich deine Freundin!"
Sie schwieg.
"Nyoko! Sag' doch etwas!"
"Du möchtest, hmm?", sagte sie leise, mehr zu sich selbst.

Einen Moment sagte niemand etwas und ich war kurz davor, sie wieder anzuschreien, als sie emotionslos und leise sagte:
"Vergiss es einfach. Das alles, es gehört der Vergangenheit an. Es ist unwichtig, weil es unabänderlich ist. Es ist eingemeißelt in meine Lebensgeschichte und ich kann es nicht ändern. Nichts davon. Egal, wie sehr ich es mir wünsche. Ob ich dem Vergangenen nun nachtrauere oder es verfluche. Also vergiss es. Es  hat keinerlei Bedeutung mehr."
Ich konnte bloß entsetzt und fassungslos zuhören, mehr nicht.

Nach einem weiteren Augenblick der Stille fuhr sie fort:
"Und noch etwas:
Schlag dir das mit dem 'meine Freundin sein' aus dem Kopf. Ich war nie deine Freundin, bin es nicht und werde es auch nie sein. Ich kann niemanden beschützen und gleichzeitig kämpfen, was aber passieren müsste, wenn du meine Freundin wärst. Und da entscheide ich mich ganz bewusst für den Kampf, denn ich war schon immer allein. Und? Ich habe es trotzdem bis hierher geschafft. Such' dir jemand anderen, mit dem du befreundet sein kannst."
Blitzschnell warf sie mit einer einfachen Drehbewegung den Dolch, der darauf knackend im Baumstamm einer Kiefer steckenblieb. Während ich noch erschreckt auf die zitternde Klinge starrte, machte Nyoko einen Satz in den Wald und verschwand.
Das war der Moment in dem die Wand zerfiel und ich wieder klar denken konnte.
"Nyoko! Warte!", rief ich ihr nach, eine Hand in die Richtung gestreckt, in die sie verschwunden war, denn ich verstand sie nur zu gut.
"Warte! Kapsel' dich nicht ab! Du darfst nicht den gleichen Fehler wie ich machen! Ich verstehe dich! Ich bin doch da! Bitte...! Warte doch! Was immer dich so geprägt hat, bleib hier! Ich wollte es auch nicht glauben, aber ich habe es gemerkt! Ich weiß, wie du dich fühlst! Bitte, Nyoko, warte!"
Als ich merkte, dass meine Rufe ungehört blieben, rollte ich mich am Boden zusammen und weinte bitterlich.
Für Nyoko, für mich. Ich wusste, wie sehr das weh tat.
Wie sehr es weh tat, allein zu sein, ausgegrenzt zu werden oder gar ignoriert. Nur zu gut.
Ja, ich wusste nicht, was genau sie durchgemacht hatte, aber es lief dennoch auf das Gleiche hinaus:
Sie war allein. Wie ich. Und sie wurde wie ich ausgegrenzt und ignoriert. Es war nur dieser Zufall, nur diese Prophezeiung, weswegen mich alle beachteten und ja, beinahe verehrten. Bei Nyoko war es wahrscheinlich ihr außergewöhnliches Kampfgeschick.
Ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Hoffentlich würde das den Schmerz etwas lindern, auch für sie und nicht nur für mich.
Es tat weh, mehr, als ich gedacht hatte, von jemandem abgewiesen zu werden, der genauso allein war wie ich.
Aber vielleicht war das ja auch deswegen passiert, weil ich sie verletzt hatte, bei dem Versuch, mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden.
Ob ich das wohl je wieder gut machen konnte?
So lag ich da zusammengerollt im Regen und weinte.

Es dauerte lange, bis die Tränen versiegten, aber als sie das taten, war ich sicher:
Ich würde bei Nyoko bleiben. Und niemand würde von heute erfahren. Außerdem würde ich Nyoko als meine Freundin sehen und auch so behandeln, denn sie verdiente, brauchte, eine Freundin.
Vielleicht... Vielleicht würde sie mir irgendwann aus  freien Stücken von sich erzählen.
Entschlossen kroch ich zu dem ersten Dolch und von da aus zu der Kiefer, in der der zweite Dolch, an dem ein wenig Blut klebte, steckte.
Unwillkürlich zuckte ich zusammen.
Hat sie denn die Verletzung gar nicht bemerkt?
Sie hatte den Dolch nämlich mit der Hand abgefangen, die davor ihren eigenen Dolch umklammert gehalten hatte.
Obwohl, das waren ja wohl eher einfache Klingen, befestigt an Ketten, jetzt, wo ich darüber nachdenke. Es gab gar keinen Griff, nur die Kette.
Egal jetzt.
Ich zog mich an der Kiefer hoch, bis ich auf den Knien stand, dann schlug ich den Dolch in die raue Rinde und zog mich daran ebenfalls hoch, bis meine andere Hand den zweiten Dolch erreichte. Energisch riss ich den ersten Dolch wieder heraus, schlug ihn über dem Zweiten erneut in die Rinde und wiederholte das Ganze so lange, bis ich aufrecht stand.
Ab da hangelte ich mich von Baum zu Baum, ließ die Dolche einfach in dem Baum stecken, während sich eine Unannehmlichkeit nach der nächsten in mein Bewusstsein drängte:
Die Kleidung, kalt, schlammbesudelt und nass, klebte an mir und schränkte meine Bewegung ein. Meine Hände brannten, von der rauen Rinde und den Kraftanstrengungen, die ich von ihnen verlangt hatte. Dazu bebte mein ganzer Körper, vor Kälte, vor Anstrengung, aber auch, weil ich so aufgewühlt war, meine Beine am Schlimmsten.
Verdammt, und ich konnte nichts tun!
Manchmal zuckten meine Beine einfach, sei es weil ich gerührt oder aufgewühlt war, vor Angst, Freude oder Schmerz. Ich konnte allerdings weder unterdrücken, noch sagen, wann es aufhören würde.
Schlicht und einfach gesagt:
Ich konnte es nicht kontrollieren.
Auch ein Teil meiner Behinderung.
Trotzdem hangelte ich mich verbissen weiter, denn ich konnte ja wohl nicht den ganzen Tag an einem Baum stehen bleiben und darauf warten, dass es abebbte und außerdem war ich fast da.
Erleichtert ließ ich mich gegen die Felswand fallen und ignorierte dabei die zusätzlichen Schnitte an den Händen, die ich mir dabei zuzog. Aber da meine Beine immer noch bebten, krallte ich mich gleich darauf wieder in den Fels.
Plötzlich bemerkte ich etwas:
Es gab keinerlei Öffnung im Fels!
Ich riss die Augen auf, während ich über einen Teil der Felswand kroch, um den Spalt vom letzten Mal zu finden.
Vergeblich.
"Nyoko, Elias, Izanami, Lou, Aadil? Ich weiß, dass ihr da drin seid! Lasst mich rein!"
Inzwischen hämmerte ich gegen den scharfkantigen Fels, wie gegen eine Tür. Panik stieg in mir auf. 
Die wollten doch etwas von mir, wie konnten sie mich da aussperren?!
Der Regen prasselte unermüdlich, wurde sogar noch stärker, während die Minuten verstrichen und ich wie verrückt auf den Fels eintrommelte.
"Macht die die Tür auf! Macht gefälligst die Tür auf, ihr braucht mich, schon vergessen?!"
Die Wut stieg in mir auf, wie brodelnd heiße Lava und ließ mich die Höflichkeit vergessen.
"Wisst ihr was?! Ich kann auch gehen! Das werde ich jetzt auch machen! Ich will überhaupt nichts mit diesem ganzen Scheiß zu tun haben! Ich bin schon klatschnass, ich bin müde und mir ist kalt! Entweder ihr macht jetzt diese gottverdammte Tür auf, oder-
Weiter kam ich nicht, denn urplötzlich gab der Fels unter mir nach und ich fiel.
Ich hatte schon Angst, dass ich hart auf dem Steinboden aufkommen würde, als ich von zwei starken Armen aufgefangen wurde. Die Wärme, die von ihnen ausging, war das Erste, was ich wahrnahm, der Geruch ebendieser Arme das Zweite, verstärkt durch die Dunkelheit, die herrschte.
"Aadil wird mich für diesen Regelverstoß umbringen."
Damit zog er, die Stimme gehörte eindeutig einem Mann, mich hinein und schloss, vollkommen lautlos, die Tür.
Er zog mich hinter sich her, als mich plötzlich ein Lichtstrahl blendete.
Offensichtlich hatte der Unbekannte eine weitere Tür geöffnet.
Rasch zog er mich wie einen Koffer hinterher, verschloss auch diese Tür und ging weiter, ohne mich weiter zu beachten.
"Was willst du, Harakiri?"
Ich zuckte zusammen.
Woher kennt er meinen Nachnamen?! Lou sagte zwar, dass 'sich wichtige Dinge schnell herumsprechen', aber so schnell...?!
Erschöpft antwortete ich:
"Ich möchte zu Izanami."
Der junge Mann, dank des gut beleuchteten Ganges konnte ich seine braunen Haare und Augen deutlich erkennen, runzelte die Stirn und blieb stehen.
Weniger energisch, als ich es beabsichtigt hatte, entriss ich ihm mein Handgelenk und rieb es, während er mich eine Weile nachdenklich anstarrte.
Dann seufzte er ergeben und sagte:
"Gut, wenn du schon einmal hier bist, dann kann ich dich auch gleich zu Izanami bringen."
Er hob mich, meinen Protest ignorierend, hoch und trug mich durch einige Gänge, bis plötzlich eine Hüttensiedlung dastand. Nur langsam erinnerte ich mich, dass hier irgendwo eine Tür sein musste, die in den Garten der Heilerin führte. Suchend ließ ich meine Augen schweifen, während er zielstrebig auf die gegenüberliegende Felswand zusteuerte.
Immer noch konnte ich keine Tür sehen, als er plötzlich gegen die Felswand lief.
Ich runzelte die Stirn.
Was macht er da?
Ein paar Mal wiederholte er das Ganze an anderen Stellen der Felswand und sah schon längst nicht mehr so zielstrebig und sicher aus wie zu Anfang, bis mir der Kragen platzte.
"Was soll der Unsinn?! Was machst-
"Die Tür ist versteckt. Und das ist die einzige Möglichkeit, sie ausfindig zu machen."
"Wie ist das möglich? Als ich durch die Tür getragen wurde, konnte ich sie deutlich sehen! Außerdem, wenn man sie einmal gefunden hat, müsste man sie doch gar nicht mehr suchen."
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
"Nein. Die Tür wechselt ihren Standort."
"Was? Wie kann das-
Ich hielt inne und schnappte überrascht nach Luft, die Augen weit aufgerissen.
Es war, als ob man mir ein Tuch von den Augen genommen hätte.
Die Luft über dem Fels flimmerte, wie über einem Lagerfeuer und unter diesem Flimmern konnte ich eine Glaswand erkennen. Eine Glaswand mit einer offensichtlich schweren Eichentür.
Ist der Fels etwa eine nur eine Illusion?
Plötzlich drehte sich alles und mir wurde schlecht.
Nicht schon wieder!
Die leider wohlbekannte Übelkeit riss mich mit und blendete für einen Moment alles aus. Als sie abebbte, war ich froh, mich nicht erbrochen zu haben, doch dieser Freunde folgte Verzweiflung.
Wann wird das endlich aufhören?
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um es zu vermeiden, ich konnte es einfach nur stumm ertragen. Verflucht nochmal, dass machte mich wirklich fuchsig und verzweifelt, doch leider auch hilflos.
"Was ist los, Harakiri?", fragte er und riss mich damit aus meinem Selbstmitleid.
"Ich kann sie sehen.", sagte ich und wandte den Blick ab, meine Stimme rau vor Müdigkeit.
"Wen?
Offensichtlich hatte er nicht bemerkt, dass mir übel war und ich mich schwach und müde fühlte. Gut, dann musste ich ihm das ja nicht noch erzählen.
"Elf Häuser nach links.", erwiderte ich, ohne auf seine Frage einzugehen.
Er zögerte noch einen Moment, dann wandte er sich nach links und schritt die Häuser ab, wobei er jedes Mal kurz mit dem Kopf nickte, als ob er im Kopf mitzählen würde.
Ich jedoch, musste den Blick einfach wieder auf Tür richten, wobei ich tapfer versuchte, die Übelkeit zu ignorieren. Denn die Tür, oder besser, ihre Magie, wickelte mich in einen dichten Kokon der Sicherheit, Liebe, Wärme und Kraft versprach, sodass die Übelkeit an Bedeutung verlor.
Als er an der richtigen Häuserreihe stehen blieb, fragte er leise:
"Und jetzt?"
Offensichtlich hatte er entschieden, dass er mich nicht unnötig stören wollte. Nett, aber ich hatte die Tür ja schon gefunden.
"Setz' mich doch bitte so ab, dass ich mich an der Hauswand festhalten kann."
Er nickte und tat wie geheißen.
Vorsichtig tastete ich mich an der Hauswand entlang, bis ich kurz vor der Felswand stand, machte einen Schritt darauf zu und verlor das Gleichgewicht. Ich fiel, ja, aber ich wusste, dass ich mich mit den Händen an der Wand abfangen konnte. Der Mann jedoch, sah das anders. "Vorsicht!"
Ich fing mich ab, noch bevor er mich erreichte und winkte ihn heran, während ich mühsam versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, schließlich wollte ich ja kein offenes Buch für Andere sein.
Er ging hastig auf mich zu, während er offensichtlich versuchte, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen.
"Ist bei dir alles in Ordnung, Harakiri?!"
"Ja sicher."
Entschlossen packte ich die Türklinke.
"Gut."
Er stieß einen erleichterten Seufzer aus.
"Und was-
Der junge Mann brach mitten im Satz ab, als ich die Tür öffnete, eine Tatsache, die ihn allein schon zu überraschen schien. Da ich mich aber auch noch gegen die Tür lehnte und ihr Gewicht überschätzte, fiel ich aus seiner Sicht vornüber, konnte mich jedoch problemlos an der Türklinke festhalten.

Einen Moment lang geschah nichts, dann rief ich:
"Kommst du? Ich habe schon mal die Tür aufgemacht."
Dabei versuchte ich, den Regen zu übertönen und drehte meinen Kopf nach hinten.
Erst dann kam er, nur stoßweise atmend. Ohne allerdings einen weiteren Kommentar abgeben, hielt er mir seinen Arm hin, den ich dankbar annahm, froh darüber, dass er mich nicht wieder auf die Arme nahm und führte mich durch den Garten zu der schlichten Hütte der Heilerin, der Regen war das einzige Geräusch auf unserem Weg. Vor der Tür blieb er stehen und klopfte.

Nach einer Weile öffnete Izanami die Tür und fragte:
"Wer ist da?"
Da sah sie mich und ihr ernstes Gesicht hellte sich etwas auf. Sie trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Geste.
"Komm herein, setz dich, ich habe dich bereits erwartet."
Während sie mich warm anlächelte, räusperte sich der junge Mann verlegen. Ihr Blick wanderte zu ihm, einen Moment lang starrte sie ihn nur an, bis sich erneut ein Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnete.
"Ab hier übernehme ich. Du kannst zurück auf deinen Posten gehen, Martin."
Er nickte, überreichte mich an Izanami, verbeugte sich kurz, drehte sich um und ging schnellen Schrittes zum Ausgang.
Stirnrunzelnd sah ich ihm hinterher, dann fiel mir etwas auf.
"Woher kanntest du seinen Namen?"
"Komm doch erst mal rein, Majikku.", sagte sie und wich so meiner Frage aus.
Kopfschüttelnd beließ ich es dabei, denn ich wollte auch aus dem Regen hinaus. Wahrscheinlich sowieso nur ein alter Bekannter.
Nachdem die Tür zugefallen war, führte sie mich zu einem der Stühle und ich setzte mich. Erst dann bemerkte ich etwas.
"Wo ist Ayita? Und Nyoko's Hengst?"
Seinen Namen hatte ich schon wieder vergessen.
"Ayita liegt draußen und-
"Was macht sie draußen? Im Regen und auf dem schlammigen Boden wird sich die Wunde doch nur entzünden."
Izanami schüttelte den Kopf.
"Sie liegt auf ihrer unverletzten Schulter und der Regen wird die Wunde gut auswaschen. Im Moment muss sie einfach nur warten und hoffen, dass die Salbe nicht weggewaschen wird. Und-, fuhr sie fort, um auch meinen letzten Einwand noch im Keim zu ersticken-
"auch wenn das Erdgeschoss groß aussieht, könnte es kein ganzes Pferd beherbergen. Außerdem wird ihr der Regen nicht so zusetzen wie du denkst."
"Dann werde ich schnell zu ihr gehen. Ich-
Ich war schon halb aufgestanden, als Izanami mich unterbrach.
"Nein, das wirst du nicht tun. Ayita braucht Ruhe."
Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, als es plötzlich klopfte.
Seufzend wandte sich die Heilerin von mir ab und ging zur Tür.
Widerstrebend schloss ich den Mund und meine Augen folgten Izanami.
Wer mochte der Besucher wohl sein?
Als sie schließlich die Tür öffnete, stand vor ihr ein kleiner Junge, dem Tränen in den Augen standen.
"Izanami, Ben ist von der Schaukel gefallen und hat sich wehgetan! Los, komm' schnell!", sagte er und zog an ihrem Ärmel.
Einen Moment lang starrte sie den Jungen nur an, dann lächelte sie kurz, nahm ihn an der Hand und folgte ihm.
"Später komme ich wieder. Rühr' dich nicht vom Fleck, bis ich wiederkomme.", sagte Izanami, wandte sich noch einmal zu mir um, bevor sie dem ängstlichen, panischen Jungen folgte und die Tür schloss.
Ich stutzte.
Da war keine Spur von Nachdenklichkeit oder gar Sorge in ihren Zügen zu sehen gewesen, nur Belustigung.
Macht sie sich denn gar keine Sorgen um ihren kleinen Patienten?
Während ich noch darüber nachdachte, sagte plötzlich jemand:
"Sie ist weg, du kannst kommen. Ich bin draußen, in der Nähe der Wandöffnung. Und bring das Buch mit."
Suchend sah ich mich eine Weile um, bis ich begriff. 
"Ayita! Geht es dir gut?! Und welches Buch?"
"Natürlich, sonst hätte ich mich schon viel früher bei dir gemeldet."
Erst da wurde mir bewusst, wie treu mir Ayita war. Obwohl sie nicht 'Herrin' sagte, spürte ich eine tiefe Verbundenheit, die zwischen uns herrschte, aber nicht nur die bedingungslose Treue einer einfachen Untergebenen war.
Aber war das Freundschaft? Ich wusste es nicht. Vielleicht, vielleicht aber auch mehr als das. 
"Mach doch mal die Augen auf. Es liegt direkt vor dir." 
Meine Augen schweiften zu dem dicken, in Leder gebundenen Buch, was vor mir auf dem Tisch lag.
Gesehen hatte es schon eindeutig bessere Tage, soviel stand definitiv fest.
Als ich es durchblättern wollte, um es auf Vollständigkeit zu prüfen und um etwas über das Buch in Erfahrung zu bringen, wurde mir schlecht, was ich allerdings krampfhaft zu ignorieren versuchte.
Entsetzt über die erneute Welle der Übelkeit, klammerte ich mich an die Tischplatte und konnte gerade noch verhindern, dass ich auf den Tisch brach.
So viel zum Ignorieren., dachte ich verärgert.
Funktionieren tat es also nicht wirklich, aber so bewahrte ich mir immerhin meinen Stolz. Naja, eigentlich ja nicht, schließlich wusste Ayita, was ich dachte.
Nachdem die plötzliche Übelkeit abebbte, betrachtete ich mürrisch, aber auch dankbar für eine Ablenkung, das Buch genauer:
Es war schlicht, doch es war mit einem Maß an Wissen angereichert, von den Wirkungen, Aufenthaltsorten und Seltenheiten der Kräuter, bis hin zu den Mischungsverhältnissen der Salben, Tinkturen und Umschlägen, dass es ein weitaus prächtigeres Gewand verdient hätte.
Überrascht stellte ich fest, dass das Buch überhaupt keinen Titel hatte.
Das Einzige, was auf der ersten, ansonsten leeren Seite stand, war:
'Alles Gute zum 7. Geburtstag, Izz. Das hier ist für die freundliche, hilfsbereite Leseratte, die meine beste Freundin geworden ist.
Gezeichnet: 
Dein bester Freund'
Izz?
Ich runzelte die Stirn. Dann jedoch, musste ich schmunzeln.
Wie süß.
Widerstrebend schob ich diese Gedanken jedoch fürs Erste beiseite. Ayita hatte Vorrang. 
"Danke."
Ich wusste, dass sie spüren konnte, dass sich diese Dankbarkeit nicht nur an den Hinweis, sondern auch an ihre Treue richtete.
Mühsam schluckte ich weitere Fragen an Ayita herunter, zum Beispiel woher sie von dem Buch wissen konnte und was ich damit anfangen sollte, stand auf und legte das Buch auf den Stuhl. Den schob ich dann durch die Hütte, was zwar nicht schön aussah und auch nicht gut klang, aber seinen Zweck erfüllte.
Als ich schließlich bei der Wandöffnung ankam, konnte ich die weiße Stute sehen, wie sie da im Regen lag und plötzlich ihren Kopf hob, um mich mit ihren dunklen Augen zu mustern. Vorsichtig hob ich das Buch auf und stützte mich mit der anderen Hand an der Wand ab, während ich hochkonzentriert versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Langsam hob ich einen Fuß, um ihn über die zehn Zentimeter hohe Trennwand zu heben, in der einen Hand das Buch und die andere flach an die Wand gepresst.
Ich schwankte, machte einen Ausfallschritt nach vorn und...stand!
Ich stand!
Yes, ich bin nicht hingefallen!
Sicherlich dümmlich grinsend konzentrierte ich mich erneut auf mein Gleichgewicht und zog den zweiten Fuß hinterher. Erst dann löste ich die Hand von der Wand. Schaudernd versuchte ich mich auszubalancieren, sodass ich sicher stand.
Es geht. Es geht! Siehst du?! Ich kann es sehr wohl! Unsicher zwar, doch ich kann es! Ich kann auch laufen, und nicht nur stolpern oder hinfallen!, lachte ich meine innere Stimme aus.
Ich breitete beide Arme zu den Seiten aus und wagte mich Schritt für Schritt näher an die Stute.
Doch kurz vor ihr stolperte ich und fiel.
Dieser plötzliche Sturz brachte mich schweren Herzens auf den Boden der Tatsachen zurück.
Du magst zwar beim ersten Mal nicht gefallen sein, aber das heißt nicht, dass du nie wieder fällst. Trotz deines kurzen Laufs wird die Behinderung nicht einfach so verschwinden., sagte sie, dieses Mal nicht verächtlich, sondern überraschend ruhig.
Ist ja gut Besserwisser., antwortete ich mürrisch und der Tatsachen müde meiner inneren Stimme.
Ich erschrak und wurde somit aus meinen schweren Gedanken gerissen, als ich auf Ayita's Flanke fiel. 
"Verzeih', das wollte ich nicht! Entschuldige bitte Ayita!"
"Es ist alles gut, beruhige dich wieder."
"Das ist gut.", sagte ich, während ich ihre Schulter musterte, auf die ich zum Glück nicht drauf gefallen war.
Die Schulter verunstaltete eine Wunde, die nicht groß, dafür aber umso tiefer war. Sie war sorgsam mit einer übel riechenden Salbe eingerieben worden, sah glücklicherweise aber nicht entzündet aus. 
"Tut es weh?", fragte ich, immer noch besorgt. 
"Ja, aber es wird immer besser. Izanami ist eine Meisterin in ihrem Handwerk. Die Salbe scheint von innen nach außen zu wirken, denn es fühlt sich definitiv besser an, obwohl die Wunde immer noch so aussieht wie zu Anfang. Aber wenn du die Wunde schließt, kann sie noch schneller und besser verheilen."
Sie sagte das so beiläufig, dass ich glaubte, mich verhört zu haben. Doch sie meinte es ernst, das konnte ich spüren.
Was? Wie denn? Ich kann nicht mal mit der Nadel umgehen, ganz zu schweigen von Wunden nähen, aber das müsste sie ja spätestens jetzt wissen.
Sie schnaubte. 
"Natürlich nicht von Hand, du Idiot, sondern mit Magie. Oder was glaubst du, warum ich wollte, dass du das Buch mitbringst?"
Jetzt war ich noch verwirrter als vorher.
Ayita öffnete ihre Augen und starrte mich an, während ich in meinem Inneren eine Mischung aus Belustigung, Verärgerung und Resignation spürte, wohl wissend, dass es nicht meine eigenen Gefühle waren, sondern Ayita's. 
"Lies' das Buch von hinten nach vorne."
"Wie bitte?"
Sie antwortete nicht.
Ich runzelte die Stirn.
War sie in einem Delirium oder was sollte das?
"Ayita?"
Keine Antwort.
Ich warf einen verärgerten Seitenblick in ihre Richtung, doch sie hatte die Augen geschlossen und atmete tief und gleichmäßig.
Wahrscheinlich war dieser Sturkopf vor Erschöpfung eingeschlafen.
Ich rollte mit den Augen und machte es mir auf ihrer Flanke bequem. Widerwillig schlug ich die letzte Seite des Buches auf und las laut vor, wieder genervt von ihren kryptischen Antworten.
"Also... Die Zypresse;
Verbreitung: im Westen Nordamerikas, Zentralamerika, im nordwestlichen Afrika, im Himalaya, im nördlichen Vietnam und im südlichen China.
Wirkungen: krampflösend, wundheilend, gefäßvere-
Ich brach ab.
Mir klappte die Kinnlade herunter.
Es sah aus, als ob jemand einen Vorhang beiseite gezogen hätte, so stand plötzlich statt der Fakten über die Zypresse...ein Lied dort!
Ich jaulte auf, als mir plötzlich jemand ein Messer in den Kopf bohrte.
Instinktiv fasste ich mir an die Schläfen, die schmerzhaft pochten und biss mir auf die Lippe, während Ayita unter mir zusammenzuckte. 
"Was ist los?", fragte sie erschrocken.
Gar nichts war los! Es war mal wieder nur das Messer, was mir in letzter Zeit ziemlich häufig in den Kopf gebohrt zu werden schien.
Immer noch wütend auf Ayita, verstärkt durch meine pochenden Schläfen, ignorierte ich sie einfach, während ich meinen Blick wieder auf das Buch senkte.
"Also, wo war ich-, murmelte ich.
Wieder hielt ich inne.
Dann las ich den Text, nein, das Lied, laut vor, meine pochenden Schläfen mühsam ignorierend.
Verdutzt stellte ich fest, dass ich nicht las, sondern sang.
Sofort stoppte ich mich und wollte diesmal den Text vorlesen, doch ich wurde ein zweites Mal überrascht, als ich sofort wieder instinktiv anfing zu singen.
Und:
Obwohl ich ein und dieselbe Zeile schon zum dritten Mal las, nein, sang, begriff ich einfach nicht, was dort stand. Ich konnte es lesen, ja, und ich erkannte auch, dass ich immer wieder die gleiche Zeile vorlas, doch was dort wirklich stand, was es bedeutete, wusste ich nicht und das war die seltsamste Erfahrung, die ich bisher gemacht hatte. Es verwirrte mich, etwas lesen zu können, es aber nicht deuten, nicht verstehen zu können. 
"Sing es doch einfach vor. Nach der Bedeutung kannst du später immer noch Izanami fragen. Erstmal würde ich gerne wissen, was passiert, wenn du das Lied singst."
Seit wann hast du mir zu sagen, was ich zutun habe?, dachte ich verärgert.
"Seit wann sagst du mir denn, was ich zu tun und zu lassen habe, he?! Jetzt mach schon, oder soll ich dir auch noch eine Postkarte mit Brief und Siegel dafür geben?!"
Ich zuckte zusammen. 
"Ist ja gut. Das ist nur ein wenig unheimlich."
"Und wenn schon. Ich übernehme die volle Verantwortung für die Folgen."
Auch wenn ich mich immer noch nicht wohl in meiner Haut fühlte, tat ich wie geheißen und sang das Lied.
Als ich geendet hatte, war mir kalt und ich öffnete wieder die Augen, ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich sie geschlossen hatte.
Automatisch zog ich die Hand zurück und presste sie an meine Brust, weil sie seltsam kribbelte.
Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, sackte ich auf Ayita zusammen und wurde ohnmächtig.

"Majikku? Was suchst du hier draußen? Komm wieder rein, du wirst dich noch erkälten."
Müde schlug ich die Augen auf.
"W...Was...?", murmelte ich, noch schlaftrunken.
Zwei grüne Augen musterten mich, belustigt, aber auch besorgt. 
"Versteck' das Buch!"
Gähnend schob ich das Buch beiläufig zwischen Ayita und mir, hielt jedoch sofort inne, als mir bewusst wurde, dass ich nicht eingeschlafen, sondern in Ohnmacht gefallen war.
Was wohl passiert war? Irgendwie wusste ich es ja selbst nicht so genau. 
"Nun ja,- sagte Ayita, die ein wenig verwirrt schien. 
"zuerst hast du die Augen geschlossen und gesungen, dann hast du deine linke Hand-
"Jetzt komm schon, wach auf. Ich kann dich ja wohl schlecht im Regen hier draußen liegen lassen."
Da erst begriff ich, dass es Izanami war, die hier vor mir hockte und lächelte.
Es war paradox, ihr warmes, belustigtes Lächeln zu sehen und gleichzeitig ihre Augen, die vor Sorge immer dunkler zu werden schienen.
Schnell, zu schnell, sagte ich:
"Ach was, so schnell erkälte ich mich doch nicht! Ich würde gerne noch etwas bei Ayita bleiben."
Mir brach der Schweiß aus, als Izanami misstrauisch die Stirn runzelte und die Stute mir nur durch ein Wort bestätigte, dass ich genau das Falsche gesagt hatte:
"Idiot."
"Du kommst mit rein. Hast du schon vergessen, dass ich dir sowieso verboten hatte, zu ihr zu gehen? Außerdem musst du dich sowieso noch einmal umziehen, bevor wir aufbrechen."
Hastig zog ich die Hand zurück, nach der sie gerade greifen wollte und fragte, um etwas Zeit zu schinden:
"Wir brechen auf?"
Kurz blitzte ein Bild von meiner Familie vor meinem geistigen Auge auf und mich erfasste starkes Heimweh.
Wie lange es wohl noch dauerte, bis ich sie wiedersehen würde?
Aber die hier werden mich wohl kaum gehen lassen, bis ich diese dämlichen Krähen zu Brei verarbeitet habe., dachte ich und seufzte.
"Tja, dass hast du dir wohl selbst zuzuschreiben. Ich kann und werde das Buch nicht für dich verstecken."
Erst dachte ich, sie meinte meine unfreiwillige Abreise von Zuhause, doch sie spielte auf meine unpassende Erwiderung Izanami gegenüber an.
Wütend starrte ich sie an, während ich sie gedanklich verwünschte. 
"Mir selbst zuzuschreiben?! Du warst es doch, die wollte, dass ich das Buch mitbringe! Und du hast selbst gesagt, dass du die volle Verantwortung für die Folgen übernimmst! Also-
Plötzlich zog Izanami mich hoch und unterbrach so meinen wüsten Wortschwall, den sie natürlich nicht hatte hören können.
"He...!"
Ich war zu überrascht um ernsthaft zu protestieren.
Da versteifte sich die Heilerin und zog mich ohne ein weiteres Wort in die Hütte zurück, während mein Blick noch einmal auf die Stute fiel, ebenso wie auf das Buch. 
"Sie hat es gesehen.", beantwortete sie meine unausgesprochene Frage.
Ich ließ die Schultern hängen und wehrte mich nicht, als sie mich zurück zum Tisch zog.
Wenn sie wütend war, konnte ich es ihr nicht einmal übel nehmen.
Mit dem zweiten Arm zog die Heilerin den Stuhl mit, den ich an die Wandöffnung geschoben hatte.
"Setz dich."
"Izanami-
"Setz dich."
Beschämt ließ ich mich auf den Stuhl sinken, während mir die auf dem Tisch gestapelten Kleidungsstücke ins Auge fielen.
"Zieh das an, das habe ich von der großen Schwester des Jungen mitgebracht."
"Hier?", fragte ich zögerlich.
Sie antwortete nicht, sondern verschwand nach draußen zu Ayita, nein, wahrscheinlich eher zu dem Buch.
Ich nahm die Klamotten, stand auf und hielt mich an dem Tisch, der Wand und dem Regal fest, bis ich schließlich die Treppe erreichte. Dort setzte ich mich auf die unterste Stufe und begann, mich umzuziehen.
Was Izanami gerade wohl fühlt? 
"Willst du das wirklich wissen?"
Überrascht zuckte ich zusammen.
Sicher wollte ich es wissen, aber ich war immer noch sauer auf Ayita und-
"Sie hat Angst."
Ich hielt inne. 
"Zwar ist sie auch wütend auf dich, aber sie macht sich auch Sorgen um dich. Und sie hat Angst. Große sogar."
"Was...? Woher...?!"
"Ich habe es dir schon einmal erklärt. Ich kann es sehen, naja, eher spüren."
"Aber wovor hat sie denn Angst?"
"Ich weiß es nicht. Sie verbirgt ihre Gedanken vor mir, ich kann nur spüren, was sie fühlt."
Nachdenklich schwieg ich, während ich mich weiter umzog. 
"Was habe ich denn nun gemacht, bevor ich ohnmächtig wurde?", fragte ich nach längerem Schweigen, da es mir plötzlich wieder einfiel.
Ayita schwieg. 
"He!"
"Ich weiß es nicht genau. Ich habe allerdings einen Verdacht, also sei so gut und frag' nicht mehr weiter nach. Wenn ich weiß, ob mein Verdacht berechtigt ist, sag' ich es dir ja auch, ich mache das ja nur zu deinem Besten. 
Und noch etwas: 
Sag mir bitte sofort, wie du dich fühlst, wenn ich dich frage, in Ordnung? Und das ohne irgendwelche Ausnahmen."
"Gerade eben hast du aber noch etwas anderes gesagt!"
"Ich weiß, aber wenn ich das Geschehene einfach nur rekapitulieren würde, würde es dir auch nichts bringen, also vertrau mir. Wenn ich es weiß, wirst du es als Erste erfahren."
"In Ordnung.", stimmte ich nach einer Weile zu, auch wenn ich immer noch etwas skeptisch war.
Ich hatte mich gerade zu Ende angezogen, als Izanami wieder zurückkam.
Sofort fragte ich sie, meine Scham beiseite schiebend:
"Woher weißt du, dass wir aufbrechen werden? Und wie soll ich mitkommen, wenn Ayita verletzt ist? Wohin und wann brechen wir auf?"
"Sie ist nicht mehr verletzt. Sie ist sogar wieder kerngesund. Einem Aufbruch steht also nichts mehr im Wege.", sagte sie, ohne jedoch auf meine anderen Fragen einzugehen.
Wie um Izanami's Aussage zu unterstützen, wieherte Ayita draußen laut und scheinbar voller Energie.
"Was? Wie kann das sein...?!"
Spott blitzte einen Moment in ihren grünen Augen auf, verwandelte sich jedoch sogleich in Sorge und Irritation, dennoch sagte sie nichts dazu, während sie mir ihren Arm anbot. 
Wirken ihre Kräuter etwa so schnell? Ich meine, es kann sein, schließlich ging es bei mir auch ziemlich zügig, aber so schnell...?
"Komm. Du musst los. Ich werde nachkommen."
Ich wollte protestieren, überlegte es mir jedoch im letzten Moment anders und fragte stattdessen:
"Hast du Nyoko gesehen?"
Izanami stutze, sagte aber dann:
"Nein, habe ich nicht. Jetzt, wo ich darüber nachdenke ist es seltsam, dass sie nicht bei dir war. Wollte sie nicht mit dir nachkommen?"
"Sie hatte noch etwas zu erledigen.", log ich, während mir die Schamröte erneut ins Gesicht stieg.
"Aha...", erwiderte die Heilerin misstrauisch, harkte jedoch nicht nach.
Sie führte mich zu der weißen Stute, die aufrecht stand, sich jedoch hinlegte, als ich direkt vor ihr stand. Überrascht schweiften meine Augen über ihre Schulter, die immer noch voller Salbe, aber ansonsten völlig gesund aussah. 
"Was ist passiert?", fragte ich Ayita, aber auch mich selbst, während ich schauderte. 
"Ich werde nicht wiederholen, was ich dir vorhin schon gesagt habe. Los, du bist nicht die Einzige, die die Krähen loswerden will."
Wut wallte in ihr auf, doch sie wollte sie mir nicht erklären, das spürte ich sofort, also schwieg ich.
"Und ich hatte mich schon gefragt, wie du wohl alleine reitest. Kannst du dich auch wirklich auf ihr halten?", fragte Izanami besorgt.
Ich nickte nur, während ich, immer noch etwas ungeschickt, aufstieg und die Stute aufstand.
"Wir sehen uns dann später.", sagte ich und ließ Ayita in einem entspannten Trab gehen, plötzlich froh, von Izanami wegzukommen.
Ohne zurückzublicken fragte ich Ayita direkt:
"Du weißt, was passiert ist, habe ich Recht?"
"Wenn du noch einmal fragst, werfe ich dich runter und du kannst zusehen, wie du von hier wegkommst. Ich werde dir dazu nichts sagen, noch nicht, ich schweige ja schließlich nur, damit du dir keine unnötigen Sorgen machen musst."

Mürrisch schwieg ich, bis wir bei der Tür ankamen. Dort ließ die Stute sich ohne eine Bitte meinerseits so nah vor der Tür fallen, dass ich absteigen und problemlos nach der Türklinke greifen konnte.
Ich zog die Tür auf, hangelte mich auf die andere Seite des Türrahmens und sah zu ihr zurück. 
"Ayita? Passt du da durch?"
"Ja, sicher."
Langsam und mit gesenktem Kopf ging sie durch die Tür und kniete sich direkt dahinter wieder hin. Ich stieg auf und beachtete gar nicht, dass die Tür laut knallend zufiel.
Ich war noch voller Tatendrang, bis ich vor den Tunneln mit den vielen Abzweigungen stand.
Und jetzt? Ich kenne den Weg nach draußen gar nicht. Und ich weiß ja nicht mal, ob sie sich überhaupt dort versammeln, wenn wir überhaupt heute aufbrechen. Aber sonst hätte Izanami ja nicht gesagt, dass ich los müsse, oder?
Plötzlich trat Ayita in einen der Tunnel und fragte:
"Wo hast du diesen Martin eigentlich getroffen?"
"Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er mich aus einem Nebenraum gezogen hat. Warum fragst du?", fragte ich irritiert. 
"Na, so schwer wird er nun auch nicht zu finden sein."
Als sie immer noch nicht stehen blieb, rief ich:
"He! Ist dir bewusst, was du da tust? Wenn wir uns verlaufen, finden wir da nicht wieder raus!"
"Du magst zwar einen miserablen Orientierungssinn haben, ich aber nicht. Außerdem werden wir, bevor es wirklich unangenehm wird, schon auf diesen Martin treffen."
Ich seufzte. 
"Wenn sie aufgebrochen sind, bevor wir hier raus sind, bist du Schuld."
Ayita schnaubte. 
"Sie werden wohl kaum versuchen, eine Tür mit purer Gewalt zu öffnen, wenn sie zu ebendieser Tür einen Schlüssel haben."
"Da wirst du wohl recht haben."
Wieder musste ich seufzen.
Zuerst einmal mussten wir überhaupt den Ausgang finden, ganz zu schweigen von meinem kleinen im Fels verborgenen Nebenraum.
Während die Stute zielstrebig von einem Tunnel in den nächsten ritt, hielt ich die ganze Zeit nach irgendeinem Lebewesen Ausschau, doch es war wie ausgestorben.
Wahrscheinlich sind schon alle aufgebrochen. Und die wenigen, die bleiben werden, verabschieden wahrscheinlich ihre Liebsten. Wenn ich das doch auch nur könnte...

Trauer packte mich, hielt mich in seinen Klauen und gab mich erst wieder frei, als mich Martin ansprach:
"Was ist los Harakiri? Willst du etwa auch zum Treffpunkt?"
Ich zuckte zusammen, wobei ich mich innerlich schalt.
Wolltest du nicht aufhören, ein offenes Buch für alle zu sein? Das klappt ja prima! Jetzt reiß dich zusammen und antworte ihm. Und zwar gefasst!
"Ja, sicher. Genau da wollte ich auch hin, schließlich werden die Neko wohl kaum eine Tür ohne Schlüssel öffnen wollen, wenn sie für genau diese Tür einen Schlüssel haben.", erwiderte ich und rezitierte damit in gewisser Weise Ayita.
Apropos...
"Wie hast du hierher gefunden?", fragte ich ungläubig und meinte den Ausgang und Martin, doch das musste ich ihr gar nicht erst sagen.
Ich war so abgelenkt von meinem Wunsch, nach Hause zu gehen, dass ich den Weg überhaupt nicht beachtet hatte. Typisch.
"Deine Erinnerungen. Sie haben mir gezeigt, wo ihr entlanggegangen seid. Und diese Spur musste ich lediglich zurückverfolgen."
"Warum hast du mir nicht gleich erzählt, dass du das kannst?", fragte ich bewundernd. 
"Muss ich dir sofort alles über mich, meine Lebensgeschichte, mein Lieblingsessen und meine Fähigkeiten erzählen?!"
Sie klang plötzlich sehr eingeschnappt. 
"Schon gut, aber es wäre trotzdem hilfreich gewesen, wenn ich vorher von dieser Fähigkeit gewusst hätte."
Ich schauderte. 
"Wie gruselig. Dann hoffen wir Mal, dass das nie einem der Karasu bei einem der Neko gelingt.", dachte ich im Stillen.
Ebenso lautlos stimmte mir Ayita zu, schien jedoch nicht allzu besorgt deswegen zu sein.
Martin lachte leise.
Ich wollte irritiert eine Augenbraue heben, konnte mich jedoch gerade noch beherrschen.
"Was ist daran so lustig?"
"Das du dich als eine Art Schlüssel für eine Tür betrachtest, hätte ich nicht von dir gedacht, Harakiri."
Schweigend folgte ich dem Mann, der sich inzwischen in Bewegung gesetzt hatte, in den kleinen Nebenraum, was sich als etwas umständlich, dennoch als machbar erwies.
Als ich wieder auf Ayita saß, ließ Martin die Tür zufallen und augenblicklich umfing uns pechschwarze Dunkelheit.
"Machst du hier denn nie Licht an?", brummte ich, war jedoch froh, dass er es nicht gehört zu haben schien.
Hör doch endlich mal auf, solch sinnloses Zeug ständig von dir zu geben!, fauchte ich mich selbst wieder einmal an.
"Sei nicht so hart zu dir selbst. Mit der Zeit wird es besser werden. Den Menschen hier fallen die meisten Fehler, die du machst, gar nicht auf. Ich sagte dir doch schon mal, das Menschen blind sind."
"Aber Nyoko-
"Ich weiß, was du denkst, aber sie ist ein Sonderfall. Ja, ihr fallen deine Fehler auf und sie behält sie auch nicht gerade für sich, aber das ist vielleicht ihre Art, dich zu unterstützen. Und das sie selbst so beherrscht, ruhig und verglichen mit allen anderen Anwesenden hier fehlerfrei ist, wird seine Gründe haben.
Martin beispielsweise, hat deinen Kommentar nicht gehört.", fügte sie noch hinzu, bevor sie sich bewegte und meine Konzentration damit abrupt wieder in die Gegenwart zurück verfrachtete.
"Bevor ich jetzt die Tür aufmache, musst du dir bewusst machen, dass die Neko aus über fünftausend Mann bestehen. Dementsprechend solltest du dir ein Bild machen können, wie groß die Menschenmasse sein wird. Es ist ein Wunder, dass Aadil die Menschen so schnell mobilisieren konnte, aber ich schätze, das wohl noch nicht alle anwesend sein und ein einige nachkommen werden müssen. Wenn du jetzt daraus gehst, denk' an Folgendes:
Mach dich groß und halte den Blick aufrecht, wenn auch nicht zu hoch. Das wird den Großteil der Leute für's Erste zufrieden stellen.", sagte Martin und stellte mich damit vor ein Problem, an das ich bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keinen Gedanken verschwendet hatte; die Menschenmassen!
"Fünftausend Mann."
Es klang nach einer gefassten, ja nach einer beinahe gelassenen Feststellung,was mich selbst etwas überraschte, doch in meinem Inneren tobte ein Wirbelsturm von Gefühlen bei dieser Zahl, den nur Ayita mitbekam. 
"Ich weiß, was du fühlst. Und auch, was du denkst."
Ein Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf, Ayita, wie  sie mit mir auf dem Rücken durch die Felsöffnung schritt, hoch aufgerichtet und mit unleserlichem Blick, den Menschen höflich zunickend. 
"Zeig' Würde und verbirg' deine Gefühle hinter einer ausdruckslosen Maske, aber sei höflich."
"Das brauchst du mir nicht zu sagen, du hast es mir doch schon ausgezeichnet mit einem Bild demonstriert. Außerdem kann ich auch fühlen, was du fühlst und weiß meistens, was du denkst."
"Ach, habe ich das? Das habe ich gar nicht bemerkt."
Belustigung erfüllte mich, allerdings war es Ayita, die sich selbst lustig fand.
Verdammt war es schwierig, zu erkennen, wer was fühlte! Es war ungefähr so, als hätte man selbst zwei Persönlichkeiten und nicht so, als wären wir zwei eigenständige Wesen. Und diese Verbindung zwischen uns wurde kontinuierlich stärker.
Plötzlich stockte ich. 
"Sag'mal, wie kannst du wissen, was ich denke? Ich meine, ich kann spüren, dass wir irgendwie miteinander verbunden sind, aber warum geht das nicht bei anderen?"
Ayita zögerte. 
"Es lässt sich ungefähr mit einem Raum vergleichen. Du öffnest mir die Tür und lässt mich fast augenblicklich eintreten, unbewusst schätze ich. Die meisten verschließen ihre Tür, auch wenn ich herein will, wie Nyoko zum Beispiel. Gefühle kann ich jedoch schon davor wahrnehmen, dafür muss mir nicht einmal jemand die Tür öffnen."
"Seltsam. Ich habe noch nie so einen-
Ich hielt inne. 
"Ja?", fragte Ayita und wenn Pferde grinsen konnten, dann tat sie es gerade ganz sicher. 
"Einmal habe ich, glaube ich, so einen Raum gesehen, aber das war nur bei mir selbst. Sonst noch nie bei jemandem. Bei mir sieht so es eher so wie eine große Wasserblase in den verschiedensten Farben aus, lediglich ein Strudel ist die Barriere. Und bei Nyoko vielleicht noch unsichtbare Dolche."
Ich verzog das Gesicht, als ich an diese, höchst unangenehme, Situation denken musste. 
"Öffne ich mich etwa jedem?", fragte ich nervös, da mir das plötzlich einfiel.
"Das weiß ich nicht, aber ich glaube kaum. Wir sind auf eine andere Art verbunden, deswegen kommunizieren wir auch anders. Übrigens, das, wovon du da sprichst, ist die Präsenz. Sozusagen das Anzeichen dafür, dass dieser Mensch oder dieses Tier noch lebt. Mehr aber auch nicht. Und der 'Strudel' sorgt lediglich dafür, dass schwache Tiere sie nicht einnehmen können. Ein Löwe beispielsweise, wird nie von einem Hasen eingenommen werden, umgekehrt jedoch, würde ich mein Leben darauf verwetten, dass er schneller eingenommen werden würde, als der Hase 'Karotte' sagen kann."
"Einnehmen?",fragte ich nur, doch sie wusste, wie ich das meinte. 
"Wenn deine Präsenz eingenommen, vollkommen von der Präsenz des Anderen ausgefüllt worden ist, bist du sozusagen in seinem Bann gefangen. Du bist, um auf das Beispiel mit dem Hasen und dem Löwen zurückzukommen, als der Hase schreckerstarrt, du kannst dich nicht mehr rühren. Ihr Menschen würdet aus Angst, Faszination oder, in selteneren Fällen aus Wut oder Trauer wie erstarrt bleiben. Dann wurde, fachlich ausgedrückt, eure Präsenz eingenommen. Und da Tiere aus purem Instinkt die Präsenz anderer übernehmen wollen, bemerken sie auch am Schnellsten, ob sie Jäger oder Beute sind, denn der Strudel eines natürlichen Jägers, wie beispielsweise der einer Raubkatze, ist stärker als der eines Beutetiers, ein Schaf zum Beispiel."
"Aha...", sagte ich nur, interessiert, und dennoch voller Sorge.

Nach einer Weile fragte ich zögerlich:
"Können Menschen andere Menschen einnehmen?"
Die Vorstellung behagte mir ganz und gar nicht, doch es war wichtig, das zu klären.
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort.

Als sie schließlich antwortete, klangen ihre Worte wohl überlegt:
"Ja, das ist möglich, allerdings tut ihr Menschen das meistens unbewusst, im Gegensatz zu Tieren, die damit um ihr Leben kämpfen. Und diejenigen, die diese 'Fähigkeit' gezielt zu benutzen wussten, waren nicht selten die grausamsten Herrscher ihrer Zeit. Sie unterwarfen so tausende Menschen, die sich nicht im Ansatz gegen sie wehren konnten, erstarrt, sei es nun vor Ehrfurcht, Angst oder Faszination. Was man damals und auch noch heute als Ausstrahlung bezeichnet, sei es nun unheimlich oder faszinierend, ist eigentlich nur die Übernahme, das vollkommene Ausfüllen ihrer Präsenz und so auch ihrer Wahrnehmung, ihres Denkens, ihres Daseins. Das Problem ist, egal was das Tier oder der Mensch dabei empfinden mag, das Resultat ist und bleibt das Gleiche; sie sind alle willenlose Marionetten in der Hand eines Einzigen. Also sei vorsichtig, bevor du das als faszinierende Fähigkeit abstempelst. Und streite es nicht ab, ich habe diese Gedanken längst gesehen. Merk' dir nur, dass diese Fähigkeit große Macht schenkt und diese Macht kann alles besser machen oder alles zerstören."
Eine Weile herrschte ein Schweigen, das man wohl als erdrückend bezeichnen konnte, denn es schien sich unter der Last dieses Wissens zu beugen.
Plötzlich fragte Ayita ungläubig:
"Du hast mit Nyoko und Elias gesprochen?"
"Was meinst du?", fragte ich irritiert.
"Du hast mit ihnen gesprochen, obwohl ihr nur über die Präsenz miteinander Kontakt hattet?"
Ich zuckte zusammen.
"Kannst du bitte aufhören, in meinen Erinnerungen herumzustochern? Das ist-
"Hast du nun oder hast du nicht?", unterbrach sie mich.
"Du weißt es doch schon, also stell' mir nicht solche Fragen! Und? Was ist daran so anders? Reden wir nicht auch so?", fragte ich verwundert, aber auch etwas verärgert.
"Nein. Unsere Kommunikation funktioniert, wie ich dir schon vorhin sagte, auf einem anderen Weg. Wir sind durch unser Unterbewusstsein ununterbrochen miteinander verbunden und gehen sozusagen durch einen Tunnel zu einer Geheimtür des Anderen."
"Wie ist das passiert? Kann man das rückgängig machen?"
Wenn Ayita ein Mensch gewesen wäre, hätte sie eine Augenbraue gehoben, dsas konnte ich spüren.
"Willst du das denn?"
"Ja, äh, nein, ich weiß es nicht! Es macht mir Angst, verstehst du?"
Wohl fühlte ich mich nicht, als ich das sagte, doch es war die Wahrheit.
"Hatten wir das nicht schon ganz zu Anfang geklärt?"
Jetzt klang sie resigniert.
"Wir sind Partner, keine Herrin und Untergebene, gleichberechtigt und kein Gefangener und Wächter. Alles, was wir voneinander hören, fühlen und sehen, bleibt unter uns, okay? Außer natürlich, beide sind einverstanden. Ich werde niemandem ein Sterbenswörtchen erzählen, wenn du das nicht willst, du musst dich also nicht überwacht, sondern einfach nur besser beratschlagt fühlen."
Ich seufzte.
"Danke Ayita. Du bist die Beste."
"Pass' auf, er öffnet die Tür.", war ihr einziger Kommentar, der mich sofort wieder zurück ins Hier und Jetzt katapultierte.
Wieder einmal hatte dieses, sehr erklärende, informative und folgenschwere Gespräch nur wenige Sekunden gedauert.
Praktisch, wirklich.
Für den Bruchteil einer Sekunde grinste ich bis über beide Ohren, wurde jedoch sofort von Ayita zurecht gewiesen und setzte eine ausdruckslose Miene auf, drückte die Schultern durch und richtete Oberkörper grade auf.
Ob es wohl funktioniert?
Da öffnete Martin auch schon die Felswand, wie auch immer er das machte und alle Gedanken waren wie weggeblasen. In meinem Kopf herrschte gähnende Leere, während ich instinktiv den Arm hob, um meine Augen vor dem gleißenden Sonnenlicht zu schützen.
Ayita schritt scheinbar ungerührt weiter, während sich meine Augen nur langsam an die Dunkelheit gewöhnten und erst, als sie das taten, bemerkte ich den ohrenbetäubenden Lärm, der nun von allen Seiten auf mich einzustürzen schien.
Menschen, die alle redeten, sich unter Schreien des Widerwillens und Tränenausbrüchen verabschiedeten, ebenso jemand, der brüllend einem kleinen Jungen hinterher lief, dessen Kleidung bei jedem Schritt verdächtig klimperte, Krieger, Hausfrauen und kleine Jungen, die durcheinander riefen und versuchten, sich mit Lärm Gehör zu verschaffen, Pferde, die wieherten, schnaubten und stiegen, auch Hühner, Hunde, Katzen, und einige Schafe. Haustiere und Nutztiere, egal aus welchen Gründen diese Tiere und Menschen nun hier waren, es war so laut, dass ich glaubte, taub zu werden.
Doch plötzlich krachte es so laut, dass es für einen Moment die ganzen Anwesenden übertönte und alle inne hielten. Erst nach einigen Augenblicken begriff  ich, dass es Donner war und dass es ein Blitz gewesen war, der mich geblendet hatte.
"Regnet es schon die ganze Zeit?", fragte ich Ayita, seltsam desorientiert und öffnete eine Handfläche, um einige Regentropfen, kalt und nass, in meine Hand fallen zu lassen.
"Ja. Jetzt reiß dich zusammen oder willst du dich vor allen lächerlich machen?"
Ruckartig drückte ich die Schultern durch und bemühte mich um ein ausdrucksloses Gesicht, wobei ich bemerkte, dass mich inzwischen einige beobachteten und sich ein Raunen wie ein Lauffeuer unter den Menschen ausbreitete.
Plötzlich stellten viele ihre Gespräche ein und mindestens drei Dutzend Augenpaare richteten sich auf mich. Nur auf mich.
Der einzige Grund, weshalb ich noch nicht schreiend davon gerannt war, war Ayita, durch die ununterbrochen beruhigende Bilder und Worte vor meinem inneren Auge und in meinen Gedanken erschienen und die langsam, aber bestimmt, vorwärts schritt.
Mühsam rang ich mir hin und wieder ein höfliches Nicken in Richtung der Menschen ab und war froh, nicht lächeln zu müssen, denn ich hätte sicherlich nur bei dem Versuch kläglich versagt.
"Das machst du gut. Wir gehen jetzt zu Aadil, der wird dir einen Teil der Last abnehmen können.", sagte sie und es klang, als wolle sie ein verängstigtes Kleinkind beruhigen.
"Gut."
Wenn ich wirklich gesprochen hätte, hätte meine Stimme gekrächzt, wenn ich überhaupt einen Ton herausbekommen hätte. Wie jämmerlich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir bei dem Anführer an und ich räusperte mich. Einmal, dann ein zweites Mal.
Erst da drehte er sich um, bisher hatte er mir den Rücken zugewandt, es war inzwischen wieder geschäftiger und lauter geworden, denn die meisten hatten sich wieder ihren Tätigkeiten gewidmet und deswegen war es beinahe ein Wunder, dass er mein zögerliches Räuspern überhaupt gehört hatte.
"Ich habe von der Heilerin gehört, dass wir aufbrechen. Stimmt das?"
Dämliche Frage! Idiot, Idiot, Idiot!
"Ruhig Blut. Frag' als Nächstes, ob dir irgendeine Aufgabe zufällt."
"Was? Mir? Wieso?"
"Frag' einfach, vorsichtshalber."
"Na gut."
"Fällt mir irgendeine Aufgabe zu, äh-
Ich stockte.
„Aadil. Einfach nur Aadil. Und ja, es gäbe Tatsache etwas, das du für mich tun könntest. Die Neko sind schlecht gelaunt, weil ich sie so plötzlich alle zum Abmarsch getrieben habe und das schlechte Wetter trägt auch nicht gerade zur Besserung ihrer Laune bei. Könntest du ihnen eine Motivation und Zuversicht geben, dass wir die Karasu diesmal schnappen werden?"
"Aber-
Ein kurzer Gedankenblitz von Ayita-
Ich räusperte mich.
"Wie soll diese Motivation denn aussehen?", fragte ich und versuchte, möglichst belustigt zu klingen, so, als seien die erfahrenen Krieger lediglich kleine Kinder, die man bei Laune halten müsste.
"Das überlasse ich ganz dir.", sagte er und wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu, einem kleinen, dicken, kahlköpfigen  Mann, der vor Schweiß glänzte und sich zu beschweren schien.
Und er war nicht der Einzige.
Protestrufe wurden überall laut, Unmut und Klagen über das schlechte Wetter, müde Resignation und auch vollkommene Ahnungslosigkeit. Ja, einige wussten nicht einmal, warum sie hierher bestellt worden waren.
"Was jetzt?", fragte ich Ayita, in stummem Entsetzen.
"Sprich' ihn auf jeden Fall nicht wieder an, das macht einen unsicheren Eindruck."
"Aber das bin ich doch! Alle haben so große Erwartungen, sie wollen so viel, das kann ich doch nicht alles allein!"
Ayita schnaubte.
"Du bist doch gar nicht allein. Du hast mich und noch einige andere."
Bilder von Aadil, Elias, Izanami, Lou und Nyoko blitzten vor meinem inneren Auge auf.
Ich wollte etwas entgegnen, doch sie sagte:
"Alle sind sie unterschiedlich, haben ihre eigene Geschichte, ihre persönliche Vergangenheit, aber alle wollen dir helfen, wenn auch auf ihre Art und Weise."
Eine Pause entstand.
"Und jetzt atme einmal tief durch und hör' mal genau hin, ich glaube, da ruft jemand nach dir."
Ich tat wie geheißen, fühlte mich danach tatsächlich etwas entspannter und setzte wieder eine ausdruckslose Miene auf.
"Majikku? Gibt es hier irgendwen mit diesem Namen? Majikku?"
Ich schickte Ayita eine unausgesprochene Frage und erhielt fast sofort eine Antwort.
"Hier. Wer möchte das wissen?"
Ich hatte meine Stimme erhoben, versuchte jedoch, nicht zu schreien und war überrascht, als die Geräuschkulisse erneut leiser wurde.
Meine Augen suchten die Menschenmenge ab und plötzlich bekam ich von Ayita ein Bild von einem Mädchen, das nicht viel älter als ich sein konnte, langes, braunes Haar und smaragdgrüne Augen hatte.
"Wo?",fragte ich nur.
Ayita drehte sich in Richtung des Mädchens, das inzwischen auch begriff, dass ich ihr Rufen beantwortet hatte.
Unerwartet zögerlich bahnte sie sich einen Weg durch die Menschenmenge, die ihr allmählich Platz zu machen schien, sodass sich eine menschenleere Reihe von ihr zu mir bildete.
Als sie schließlich bei mir ankam, sagte war ihre Antwort nur:
"Ella. Mein Name ist Ella. Und ich nehme dann mal an, dass du Majikku bist?"
Sie ignorierte die Menschenmassen, die uns neugierig musterten und schien gefasster als eben.
"Wenn du in einer solchen Übermacht an Menschen nach einem Einzigen suchen müsstest, von dem du nicht einmal weißt, wie er oder sie aussieht, würdest du auch verzweifeln."
Ich glaubte ihr aufs Wort.
"Exakt. Was wünschst du und woher kennst du meinen Namen?"
Ella schien erleichtert zu sein, dass ich das ansprach, denn sie hielt mir etwas hin und sagte nur:
"Das hier soll ich dir von meiner Freundin Nyoko geben. Sie hatte den Eindruck, dass er für dich eher als für den Abfall geeignet wäre."
Sie verzog das Gesicht bei dieser wenig charmanten Begründung.
Freundin, hm?
Aber so etwas zu hinterfragen gehörte sich nicht, auch wenn ich wahrscheinlich richtig mit meiner Vermutung lag, dass diese Beziehung einseitig verlief.
"Hier, bitte."
Erst jetzt erkannte ich, dass es sich um Nyoko's Langbogen handelte, versehen mit einem ledernen Köcher voller mit Federn bestückter Pfeile und einem Schutz,ebenfalls aus Leder.
Und den wollte sie wegwerfen? Das glaube ich nicht.
Vorsichtig nahm ich den Bogen entgegen, legte ihn auf meinen Schoss und befestigte den Köcher am Sattel.
"Stört er dich so?", fragte ich Ayita.
Sie verneinte.
"Gut."
"Danke.", richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen vor mir.
Ella nickte, drehte sich um und ging wieder davon, während ich ihr noch hinterher sah.
Plötzlich wandte sie sich noch einmal um und sagte:
"Gern geschehen.
Ach, und noch eine Frage von Nyoko:
Was macht eine Raubkatze zu einer Raubkatze?"
Selbst wenn ich eine Antwort gehabt hätte, wartete Ella nicht mehr darauf, sondern ging einfach davon.
Eine Weile starrte ich ihr noch hinterher, dann senkte ich den Blick auf den, inzwischen nassen, Lederschutz des Langbogens.
Ja, was denn? Die Anmut ihrer Bewegungen?Ihre Größe? Ihr taxierender Blick? Die-
"Warte mal! Wenn dich die Raubkatze mit ihrem Blick oder mit ihren anmutigen Bewegungen fesselt, dann hat sie was damit getan?"
"Meine Präsenz eingenommen?"
"Richtig. Und wie kannst du, als wichtigstes Glied der Kette, als Schüssel der Prophezeiung, den Menschen am meisten Zuversicht geben?"
"Keine Ahnung?"
"Indem du sie so von dir faszinierst, dass sie glauben, sobald du etwas tust, kann es einfach nicht schief gehen. Und dadurch hast du dann automatisch ihre Präsenz eingenommen."
"Und wie soll ich das anstellen?"
"Zuerst einmal brauchst du die Aufmerksamkeit aller."
Ohne jegliche Vorwarnung bäumte sich Ayita auf, wobei ich beinahe von ihr herunterfiel.
Nur mit ihrer Anleitung wusste ich, was ich zu tun hatte, sonst wäre ich aufgeschmissen gewesen.
Langsam packte ich den Bogen aus und sagte dabei, laut genug, um den Regen zu übertönen und von allen gehört zu werden:
"Die Karasu haben uns eine Botschaft gesendet. Sie haben von uns etwas verlangt, was wir ihnen nicht geben konnten, haben uns den Krieg erklärt und durch einen Angriff auf jemanden unter uns ein Exempel statuiert."
Ich pausierte, während ein Raunen sich wie ein Lauffeuer in der Menge verbreitete.
"Doch auch wir werden ihnen eine Botschaft schicken."
Das Raunen wurde lauter, als ich den Bogen spannte, in den Himmel zielte und dabei die Augen verengte. Der Pfeil flog von der Sehne und ein überraschter Aufschrei war in der Menge zu hören, als ein erschossener Vogel zu Boden fiel, einen gefiederten Pfeil in der Brust.
Er war schwarz, vermutlich nicht einmal eine Krähe und nur auf dem Weg zu seinem schützenden Unterschlupf, doch es reichte, um eine Sache zu verdeutlichen.
Auf meinen unausgesprochenen Wunsch stieg Ayita erneut.
"Wir sind keine kleinen Kätzchen, sondern Raubkatzen! Wir werden diesen räudigen Aasfressern zeigen, was es heißt, sich mit den schlauen, schnellen, majestätischen Neko anzulegen! Nun lasst uns nicht hier sitzen und warten, bis sie mit ihren gesamten Truppen ankommen, sondern ihnen mit hoch erhobenen Köpfen entgegentreten und ihnen ein für alle Mal klar machen, dass wir Kämpfer und nicht herumzukommandieren sind!"

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So Leute, mein Fehler, dass es schon wieder so lange gedauert hat, aber ich musste das letzte Kapitel rausnehmen und zur Hälfte noch mal neu schreiben, weil Wattpad irgendwie nur einen Teil des Kapitels hochgeladen hat. Hier ist also die neue Version vom zwölften Kapitel, viel Spaß damit!

Eure janine0010

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