11. Training
Majikku
"Was habe ich getan? Ich habe versprochen, an einem Krieg teilzunehmen und zu siegen, obwohl ich nicht einmal weiß, gegen wen hier überhaupt gekämpft wird?!", stöhnte ich und sank zu Boden, sobald ich, möglichst würdevoll, bei Nyoko untergehakt, den Trainingsplatz verlassen hatte.
Ich schlug die Hände vors Gesicht.
"Ich fass' es nicht! Ich, ein behindertes, minderjähriges Kind, ziehe in den Krieg!"
"Das war ein sehr kluger Schachzug, besonders für eine Anfängerin wie dich.", sagte Nyoko leise und hockte sich neben mich, ihre blutroten Augen strahlten reines Mitgefühl aus.
"Ich bin also eine Anfängerin? Naja, irgendwie stimmt es wohl schon."
Plötzlich hob Nyoko mich auf ihre Arme und lief den Tunnel entlang. Sofort sträubte ich mich, wie eine wild gewordene Katze.
"Was soll das?! Ich kann ja wohl selbst laufen! Lass' mich runter!"
"Kannst du nicht. Außerdem bringe ich dich einen Ort, wo du nur schwer wirst laufen können.", sagte Nyoko ungewöhnlich sanft, doch jedes Wort fühlte sich an, als würde sie mir ein glühendes Messer in die Brust rammen.
Tränen schossen mir in die Augen, doch ich drängte sie entschlossen zurück.
Was soll das denn? Habe ich etwa erwartet, dass es hier anders wäre?! Dass man mich nicht nur als behindertes Mädchen betrachten und mich nicht ständig meine Behinderung erinnern würde?!
Das bewies, wie naiv ich war. Um Nyoko nicht zu zeigen, wie verletzt ich war, schwieg ich.
Nach einer Weile sagte Nyoko nur:
"Ich wollte dich nicht verletzen, aber das zu sagen, ist jetzt wahrscheinlich auch sinnlos.", und starrte auf die Bäume, zwischen denen wir uns nun bewegten.
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir nach draußen gegangen waren. Neugierig betrachtete ich Nyoko. Sie hatte wunderschöne, ebenmäßige blasse, fast weiße Haut. Dazu schwarze Haare die gut gepflegt waren und auch die Wimpern waren schwarz, dicht und lang. Am Auffälligsten waren ihre blutroten Augen, die nichts preisgaben.
"Du trägst keine Kontaktlinsen, oder? Das ist deine natürliche Augenfarbe. Bist du so etwas wie ein Albino?", fragte ich neugierig.
Zum ersten Mal seit ich sie kannte, zuckte Nyoko zusammen.
Dennoch sagte sie ruhig:
"Nein. Meine Augen waren davor braun. In den letzten Wochen haben sie sich verändert, wie genau das passiert ist, kann ich dir nicht sagen. Niemand, niemand hat auf natürliche Weise rote Augen. So etwas gibt es nicht."
"Doch! Es gibt Leute, die keine Farbe in ihrer Iris haben und deswegen sieht man das Blut in den Augen. Deswegen gibt es tatsächlich Leute, die rote Augen haben. Dafür brauchst du dich nicht zu schämen.", rief ich aufgeregt.
Plötzlich fuhr sie mich an:
"Aber das ist es ja! Versprich' mir, dass du es niemanden erzählst!"
"Gut. Aber warum? Ich meine, was wäre daran so schlimm, wenn sie wüssten, dass du rote Augen hast?"
Nyoko schloss die Augen, als hätte sie erst jetzt gemerkt, dass sie zu viel gesagt hatte.
"Versprich' es einfach, ja?"
Betroffen schwieg ich. Ich schaffte es offenbar nicht einmal, eine anständige Konversation zu führen. Stattdessen machte sie wütend.
Ich startete einen neuen Versuch:
"Wo gehen wir denn hin?"
"Trainieren.", antwortete sie jedoch nur einsilbig.
Ich gab auf, ein Gespräch mit ihr führen zu wollen und schwieg.
Nach und nach wurden die Bäume immer dichter und wir, beziehungsweise Nyoko, kämpfte sich immer mehr durchs Unterholz. Ich war schon knapp davor sie zu fragen, ob wir nicht vom Weg abgekommen waren, als wir plötzlich mitten auf einer Lichtung standen.
Einer Lichtung, die über und über mit Löwenzahn bedeckt war. In der Mitte der Richtung stand eine einzelne Eiche, die sehr alt wirkte. An ihrem Stamm wand sich eine Holztreppe mit hölzernen Geländer bis hinauf zur Baumkrone, so hoch, dass man ihr Ende gar nicht mehr sehen konnte.
"Wo sind wir hier?", war das Einzige was ich erstaunt herausbringen konnte.
"Das ist nicht weiter relevant. Das Einzige, was zählt, ist, dass ich dich hier trainieren werde."
"Du trainierst mich?!"
Blitzmerker! Das fällt dir erst jetzt ein? Das hat sie doch schon vorhin gesagt!
"Warum denn das? Hätten wir das nicht auch am Trainingsplatz machen können?"
"Nein. Die Methoden im Kampf, die dir jetzt beibringen werde, jetzt und im Laufe der nächsten Tage, hätten die anderen misstrauisch gemacht. Allerdings sind die einzigen Methoden, von denen ich weiß, sie dir helfen werden."
"Was soll das denn heißen? Warum solltest du mir andere Methoden beibringen, als der Rest der Leute hier? Warum sollte es sie misstrauisch machen? Und warum sollten die einzigen Methoden sein, die wirklich effektiv sind?", fragte ich und wurde langsam misstrauisch.
"Was soll das? Hast du mich etwa hierher geschleppt, weil es abgelegen von der Organisation ist und du mich den Karasu übergeben willst? Oder was soll der Aufstand dann? Wieso müssen wir dann hierher gehen um zu trainieren, anstatt zu trainieren, wo alle trainieren?"
Nyoko blinzelte.
Später, viel später, würde ich erst begreifen, wie sehr sie diese Frage getroffen hatte.
"Niemals würde ich dich den Karasu übergeben.", sagte sie, leise und bestimmt.
"Ich werde dich einfach nur besonders ausbilden, nichts weiter. Schließlich bist du der Schlüssel der Prophezeiung und somit der wichtigste Teil der ganzen Armee, des ganzen Krieges und der ganzen Hoffnung. Wenn du stirbst, sterben die Neko. Wenn du stirbst, dann sterben alle, die gegen die Karasu kämpfen. Ist es da so verwunderlich, dass ich dir eine besondere Ausbildung zuteil werden lasse?"
"Das führt mich zu einer Frage, die ich mir schon seit ich hier bin stelle:
Warum kämpfen die Karasu und die Neko gegeneinander? Warum könnt ihr nicht einfach Frieden schließen?"
Nachdenklich sagte Nyoko:
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die Karasu angefangen haben. Für genauere Informationen musst du Aadil fragen, aber das Training hat Vorrang.", sagte sie plötzlich wieder ernst.
"Und auf was oder wofür willst du mich trainieren?", fragte ich sie niedergeschlagen und rechnete damit, dass sie mich erneut auf meine Behinderung ansprechen würde.
"Nun ja,", sagte Nyoko mit einem kaum wahrnehmbaren belustigtem Unterton,
"vielleicht sollte ich dir erst mal den Trainingsplatz zeigen und aufbauen."
Zügigen Schrittes lief sie die lange Wendeltreppe entlang und ignorierte dabei die Äste, die sich in ihrer Kleidung und ihren Haaren, ebenso wie in meinen, verfingen.
"Bist du sicher, dass diese zierliche Wendeltreppe unser oder besser mein, Gewicht aushält?", fragte ich zögerlich, während ich über das zart geschwungene Geländer aus Holz strich.
Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen antwortete Nyoko:
"Ich weiß, sie sieht nicht sehr stabil aus aber sie hat sogar schon Bären ausgehalten."
Erschrocken riss ich die Augen auf.
"Bären?! Wie jetzt?! Hier leben Bären?! Und die klettern auf dieses Baumhaus?! Ist das nicht gefährlich?!"
Völlig ruhig antwortete Nyoko:
"Zuerst einmal haben wir den Bären nicht gesehen, nur seine Spuren auf dieser Treppe gefunden. Zweitens sind die Bären in diesem Wald friedlich, unter der Bedingung, wenn wir uns ebenfalls friedlich verhalten. So einfach ist das."
"Wir?", fragte ich erstaunt.
Nyoko schüttelte den Kopf.
"Ich meinte natürlich ich."
"Ich habe es jetzt einfach mal angenommen, aber ich möchte trotzdem sicher gehen:
Wir sind doch auf dem Weg zu einem Baumhaus, oder?"
Nyoko nickte.
In dem Moment erreichten wir schon das Baumhaus.
Ich hatte es mir eher wie ein Häuschen vorgestellt, das nur spärlich zusammen genagelt war, doch es war ganz anders. Es war, als ob man nur darauf geachtet hätte, dem Baum so wenig wie möglich zu schaden, egal wie das Haus am Ende aussah. Ein natürlicher Vorhang aus Flechten markierte den Eingang.
Nyoko schob diesen beiseite und trat ein, während ich nicht anders konnte, als mit offenem Mund in den Raum zu starren.
Überall waren Unebenheiten:
Am Boden, an den Wänden, an der Decke, sowie einzelne Astlöcher, die offenbar als Fenster benutzt wurden.
An der Wand standen die verschiedensten Dinge:
Bögen, Schwerter und andere Waffen, Verbände, Salben und Tinkturen, ebenso wie Rezepte und etliche verstaubte Bücher. Natürlich waren zum Beispiel Verbände, Salben und Tinkturen getrennt von den Waffen angeordnet, aber es gab keine Regale oder Tische, wodurch man den Baum beschädigt hätte. Ein paar Kissen lagen ebenfalls auf Boden, die man offenbar entweder als Schlafplatz oder als Sitzgelegenheit benutzen konnte.
"Sag' mal, was essen wir eigentlich, wenn wir hier tatsächlich länger bleiben sollten? Ich sehe nirgendwo etwas. Und wo sollen wir beide schlafen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier für uns beide genug Platz zum schlafen ist."
"Meistens hole ich mir das Essen aus dem Wald wie Früchte und Wurzeln oder auch nahrhafte Kräuter. Aber für den Notfall"- sie deutete auf einen geflochtenen Korb, den ich vorher noch nicht bemerkt hatte-
"habe ich dort noch getrocknete Beeren Wurzeln oder Kräuter. Also dasselbe, nur in getrockneter Version. Und glaub' mir, wenn es wirklich zu einem Notfall kommt, dann wirst du das als Festmahl bezeichnen."
"Kein Fleisch? Warum nicht? Außerdem hast du mir immer noch nicht gesagt, wo wir schlafen sollen. Doch nicht wohl etwa am Fuß des Baumes? Ich denke nicht, dass das sehr sicher wäre."
Nyoko schüttelte den Kopf.
"Nein. Es gibt kein Fleisch, denn ich bin Vegetarierin. Du kannst von mir aus dein eigenes Fleisch erlegen, aber ich werde es nicht für dich tun."
Sie machte eine Pause.
Mein Fleisch erlegen, das konnte ich ja wohl kaum selbst. Also würde es bei meinem gesamten Aufenthalt hier kein Fleisch geben, zumindest, solange ich bei Nyoko blieb.
Es freute mich nicht sonderlich, aber solange mich diese Sachen auch wirklich satt machten, würde ich sie widerspruchlos zu mir nehmen.
"Ich denke, ich werde oben schlafen.", wechselte Nyoko das Thema.
"Oben? Es gibt noch so etwas, wie eine obere Etage? Kann ich die sehen?"
Auf Nyoko's Zügen bildete sich ein feines Lächeln, wenn ich mir auch nicht sicher war, ob es echt war.
"Wieder falsch. Ich schlafe auf den Ästen der Baumkrone, zusammen mit Vögeln und Nagetieren. Glaube mir, wenn du keine Höhenangst hast und keinen allzu leichten Schlaf, ist es dort oben wirklich angenehm."
Mir klappte die Kinnlade herunter
"Du schläfst auf der Baumkrone? So mitten zwischen den Ästen? Ohne herunterzufallen? Das ist doch nicht dein Ernst, oder?!"
"Dann glaub' es mir halt' nicht.", sagte sie, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.
"Und was willst du jetzt für einen Trainingsplatz aufbauen? Woher willst du überhaupt wissen, was ich kann und was nicht und was ich üben muss?"
Nyoko's Blick war unergründlich, als sie antwortete:
"Das ist nicht schwer, man muss einen Menschen nur lange genug beobachten, dann findet man alles über ihn heraus."
"Also im Kampf hat man ja wirklich nicht Zeit, um jemanden lange zu studieren...", murmelte ich, eingeschnappt über die knappe Antwort.
Nyoko hatte mich trotzdem gehört und bei dieser Bemerkung erschien ein zufriedener Glanz in ihren Augen.
Damit sieht sie viel jünger und... erreichbarer aus., durchzuckte es mich.
"Sehr gut mitgedacht, Majikku! Du wirst dich prima einfügen, das verspreche ich dir. Was du sagst, ist wahr, allerdings kann man mit etwas Erfahrung Einiges schon auf den ersten Blick sehen, was einem helfen könnte. Nehmen wir ein Beispiel:-
Sie ergriff eines der Kissen, platzierte es in der Mitte des Raumes, legte mich vorsichtig darauf ab und griff in die Ärmel ihres schwarzen Kleides. Sie zog, mit einem leisen, kaum vernehmbaren, Geräusch an eisernen Ketten befestigte Dolche hervor.
"Was kannst du über mich sagen?"
Ich war noch nie gut darin, aus Gesehenem Schlüsse zu ziehen, aber vielleicht würde ich es ja jetzt, durch Nyoko's Training, lernen.
"Nichts?!"
Es war mehr eine Frage, als eine Aussage.
"Falsch.", antwortete sie schlicht, doch ich konnte sehen, dass sie etwas enttäuscht war.
Plötzlich wiederholte sie ihre Frage:
"Überleg' noch mal: Was kannst du über mich sagen?"
"Nichts.", war sofort meine Antwort.
Ich konnte so etwas einfach nicht. Irgendwann würde sie es schon einsehen.
Da trat sie vor und gab mir eine Ohrfeige. Nicht besonders energisch, aber dennoch brennend. Wütend fasste ich mir an die Wange:
"Was sollte das denn jetzt?!"
"Na was wohl?", fragte Nyoko mich sarkastisch.
"Denk' gefälligst nach, versuche es wenigstens, bevor du mit Nichts antwortest!"
Widerwillig gab ich mir einen Ruck und betrachtete sie genauer:
Sie hatte langes, schwarzes Haar, das gut gepflegt war und eine ebenmäßige, weiße, fast zu blasse Haut. Dazu zählten überraschenderweise auch ihre Lippen. Ich hatte damit gerechnet, dass sie Lippenstift benutzen würde. Sie hatte einen sehr weiblichen Körper mit perfekten Proportionen und dazu ein bodenlanges, schwarzes Kleid, dass ihre Figur sehr gut betonte. Die schwarzen Schuhe und ihre sorgsam gepflegten, unlackierten Fingernägel rundeten das Bild ab:
Sie war eine Frau, die darauf achtete, wie sie aussah.
"Mehr, als dass du auf dein Aussehen achtest, kann ich leider nicht erkennen, aber ich mache das auch zum ersten-
"Ist schon in Ordnung.", unterbrach Nyoko mich schlicht, doch ich konnte erkennen, dass sie jetzt noch enttäuschter war als vorher.
"Was machen wir als nächstes?", fragte ich sie niedergeschlagen.
Nyoko's Miene hellte sich auf und sie sagte:
"Ich würde sagen, wir üben ein bisschen in der Praxis. Warte einen Moment und ich-
"Wie jetzt? Ich kann meine körperliche Einschränkung doch nicht einfach verschwinden lassen!"
Unbeirrt antwortete Nyoko:
"Sicher, aber ein bisschen etwas dagegen tun, kann man immer. Bei manchen mehr, bei manchen weniger."
Beschämt ließ sich den Kopf sinken. Natürlich hatte sie recht.
"Fang!", rief sie plötzlich und da flog auch schon ihr Langbogen auf mich zu, doch ich war zu langsam und er fiel scheppernd neben mir zu Boden.
"Entschuldige, aber ich habe ihn nicht kommen sehen!"
"An deiner Reaktionsfähigkeit müssen wir auch noch arbeiten.", sagte Nyoko so leise, dass ich sie fast nicht gehört hätte und wirkte noch niedergeschlagener als vorher.
Verständlich.
Hastig nahm ich den Bogen auf den Schoß.
"Was soll ich denn jetzt mit deinem Bogen?"
"Ach ja!", rief Nyoko aus und wirkte so, als hätte ich sie gerade aus ihren Gedanken gerissen.
"Du sollst natürlich damit schießen. Ich nehme den Bogen und baue einen Trainingsplatz für dich auf, später hole ich dich."
"In Ordnung."
Ich beobachtete noch, wie Nyoko sich ihren Langbogen schnappte, zusammen mit Köcher und Pfeilen versteht sich, und nach unten rannte.
Als ich sie weder hören noch sehen konnte, wurde mir langweilig und ich kroch auf allen Vieren zum Ausgang des Baumhauses. Dann zog ich mich an dem Geländer hoch und begann langsam den Abstieg, wobei ich zu ignorieren versuchte, dass das Geländer und die Stufen vom ständigen benutzen poliert waren und ich so jederzeit abrutschen und die Wendeltreppe hinunter stürzen könnte, aber zum Glück war das Geländer stabil.
Irgendwann kam ich unten an und ließ mich ungeschickt am Stamm zu Boden gleiten. Zögerlich berührte ich die wunderschöne Wiese und erst da wurde mir bewusst, dass ich mich mitten in der Natur befand.
Das, was ich mir schon immer gewünscht hatte!
Da legte ich mich einfach ins Gras und genoss dessen Weichheit, wobei mir leider auch bewusst wurde, dass der Sommer mit seinen wunderschönen Blüten, sich dem Ende zuneigte. Leider kannte ich keinen der Bäume mit seinem Namen, was mir etwas die Zeit vertrieben hätte, denn ich hätte niemals damit gerechnet so sehr von der Zivilisation abgeschieden in der Natur zu sein.
Das war für mich immer ein unausgesprochenes Tabu, eine goldene Regel:
Verlasse niemals die Zivilisation, denn nur dort wirst du überleben können. Deswegen hatte ich mir auch nie die Mühe gemacht die Natur genauer kennen zu lernen, denn das hätte die Sehnsucht nach ihr geschürt, auch wenn das vielleicht wie eine Ausrede klingen mochte. Ich nahm mir vor, die Natur genauestens zu studieren. Wer wusste schon, ob das nicht von Vorteil sein könnte? Nur leider hatte ich kein Buch oder gar Internet um zu wissen was für eine Pflanze oder was für ein Tier ich gerade vor mir hatte.
Apropos Tier... Ich konnte mich doch in ein Tier verwandeln oder? Es war ja ein Versuch wert, besonders, wenn ich mich dann mit Tieren unterhalten konnte. Plötzlich wollte ich mich unbedingt in ein Tier verwandeln, doch in was für eins? Fast sofort entschied ich mich für ein Eichhörnchen. Klar, dass Nagetier hatte eine Menge Feinde, aber es konnte sehr leicht vor ihnen fliehen. Außerdem wollte ich sehen, inwiefern die Behinderung meine Tiergestalt beeinflusste und ein Eichhörnchen war dazu auch noch ziemlich schnell, was sich als Mensch nie sein konnte. Aufgeregt wie ein kleines Kind schloss sich die Augen und stellte mir vor wie mein Körper immer mehr schrumpfte, wie ich einen buschigen Schwanz, kleine Vorderpfoten und große Hinterpfoten für einen eleganten Sprung hatte. Wie ich schneller als der Wind durch die Bäume rannte und von Ast zu Ast sprang. Fast sofort spürte ich die ruckartige Veränderung, die durch meinen Körper ging. Als sich die Augen wieder öffnete, war der Löwenzahn fast so groß wie ich und eine Treppenstufe so hoch wie ich, sogar höher. Es hatte geklappt!
Im nächsten Moment überschwemmte mich eine Welle der Schöpfung und ich sackte ein bisschen zusammen.
Erschrocken fuhr ich wieder hoch. War das jedes Mal so?! Wenn ja, warum hatte ich es bei der Verwandlung in eine Taube nicht gemerkt?! Vorsichtig machte ich ein paar Schritte. Es ging! Mein Gleichgewichtssinn machte mir keinen Strich durch die Rechnung!
Das hieße... natürlich! Der erste Flugversuch aus dem 'Gefängnis' wäre fast ein Absturz geworden, weil da die Erschöpfung mich fast überwältigt hätte, nicht weil meine Behinderung damit zu tun hatte!
Das war ja wunderbar und bedeutete, dass meine Behinderung keinen Einfluss auf meine Tiergestalt hatte!
Plötzlich verschwand die Erschöpfung, wie weggewischt von der plötzlichen Freude und sofort packte ich mit meinen Krallen den Stamm und zog mich hoch. Zuerst war es noch etwas komisch, sich senkrecht den Baum hoch zu bewegen und sich nur auf seine Krallen zu verlassen, doch das Gefühl verflog schnell. In rasender Geschwindigkeit rannte ich den Baum hoch, so hoch bis ich die untergehende Sonne sehen konnte und gerade so hoch, dass die Zweige mich gerade noch tragen konnten.
Der Baum war riesig!
Er war der Größte in dem ganzen Wald, das konnte ich sehen. Die äußersten Äste, was ganz wenige waren, reichten jedoch weit genug, dass ich den nächsten Baum mit einem großen Sprung erreichen konnte. Zumindest hoffte ich das. Ich kroch an einem der dicksten der Äste immer weiter hinaus, bis zur Spitze des Astes, der sich inzwischen schon beträchtlich nach unten neigte, jedoch war ich zu leicht, als dass der Ast brechen könnte.
Doch noch immer war der Ast des nächsten Baumes weiter als einen Katzensprung von meinem jetzigen Ast entfernt. Ich musste zugeben, dass ich mir für meinen ersten Sprung als Eichhörnchen, einen weniger weit entfernten Ast gewünscht hätte, doch jetzt wieder herunter zu klettern und mir einen anderen Baum zu suchen, kam einer Niederlage gleich und ich hasste Niederlagen! Davon hatte ich schon viel zu viele in meinem behinderten Leben gehabt und würde noch genug haben! Vorsichtig schielte ich nach unten.
Ach du lieber Himmel! Ein Glück, dass sich keine Höhenangst hatte!
Jetzt erst wurde mir bewusst, dass der Baum an die zehn Meter hoch sein musste. Schließlich gab ich mir einen Ruck, steckte all meine Kraft in meine Hinterbeine und sprang. Ich musste mir alle Mühe geben, die Augen nicht zusammen zu kneifen, denn ich musste ja sehen, wohin ich sprang. Ich streckte die Pfoten aus und erreichte geradeso die Spitze des Astes. Fast hätte ich mir die Kralle herausgerissen und wäre die vierzig Meter hinuntergestürzt, doch ich riss mich zusammen und klammerte mich an Ast fest.
Da fiel es mir wieder ein und vor allen Dingen merkte ich es jetzt:
Ich war viel leichter, als in meinem menschlichen Leben. Also riss ich mich zusammen und zog mich hoch.
Zitternd hockte ich auf der Astspitze und klammerte mich noch immer an dem Ast fest.
Als der erste Schock verflogen war, überströmte mich ein ganz anderes Gefühl, als meine Angst: Unbändige Freude und Aufregung! Ich konnte Dinge tun, die ich mir niemals erträumt hätte! Freudig keckernd, wie es nun mal Eichhörnchen taten, rannte ich über die Zweige der Bäume und sprang über Äste, als würde ich das schon immer tun. Plötzlich bemerkte ich eine schwarze Gestalt am Waldboden und blieb überrascht stehen. Es war Nyoko, die die Arme voller Tannenzapfen hatte. Plötzlich hatte ich eine Idee und keckerte leise, so als würde ich lachen. Ich sprang von dem Baum, in der Absicht auf ihrer Schulter zu landen.
Ich sprang gerade die ersten Meter hinab, als Nyoko blitzschnell die Tannenzapfen fallen ließ und ihre Dolche zog. Bevor ich auch nur realisierte, was geschah, warf sie schon den ersten Dolch nach mir und erst im letzten Moment zog sie den Dolch genauso schnell wieder zurück, wie sie ihn auf mich zu geschossen hatte.
Verschreckt hätte ich am liebsten umgedreht und wäre weg gerannt, doch mitten im Fall war das schlicht unmöglich. Also landete ich auf ihren Armen, die sie inzwischen nach mir ausgestreckt hatte, so fiel ich relativ sanft.
"Na, was machst du denn da? Es ist gefährlich, für ein so süßes Eichhörnchen wie dich, einfach so den Baum hinunterzufallen!", sagte Nyoko mit einem liebenswürdigen Ausdruck im Gesicht. Wahrscheinlich mochte sie Tiere, was zumindest ihre Reaktion erklären würde. Im nächsten Moment jedoch, wurde ihr Blick für eine Sekunde glasig und dann starrte sie mich ernst an.
"Was machst du denn hier!? Du hättest sterben können! Ich erwarte eine ernsthafte Erklärung!" Wusste sie etwa, dass ich Majikku war? Woher sollte sie das denn wissen?
Als ob Nyoko meine Gedanken gelesen hätte, antwortete sie:
"Deine Aura verrät dich. Nur Magier haben eine solch leuchtende Aura."
Aura? War das nicht so etwas wie die Energie, die einen Menschen umgab?
Verwirrt sprang ich aus ihren Armen und setzte mich vor ihr auf den Waldboden.
Sie hockte sich hin und starrte mich an, fast wütend.
"Verwandle dich zurück. Jetzt, sofort."
Ich schaute sie mit schräg gelegtem Kopf an, doch ich schloss die Augen und tat wie geheißen. Als ich wieder ein Mensch war, konnte ich es jedoch nicht verhindern, dieses Mal zusammenzubrechen.
Trotzdem fragte ich sie leise:
"Woher wusstest du, dass ich es bin und was ist so schlimm daran, dass ich mich in ein Tier verwandelt habe?"
"Es ist deshalb schlimm, weil die Information, dass du dich ein Tier verwandeln kannst, sehr schnell in falsche Hände geraten kann."
Wütend entgegnete ich:
"Willst du mir jetzt für den Rest meines Lebens verbieten, mich in ein Tier zu verwandeln, nur weil mich ein Karasu entdecken könnte!? Dazu hast du kein Recht! Ich habe gerade erst herausgefunden, dass meine Behinderung meine Tiergestalt nicht beeinflussen kann und dass ich dadurch laufen kann! Das kannst du mir doch nicht verbieten! Das ist die einzige Möglichkeit, wie ich laufen kann!"
Nyoko seufzte und sagte ungewöhnlich sanft:
"Nein, das kann ich wohl nicht und das will ich auch nicht, aber du solltest es nur dann tun, wenn du hundertprozentig weißt, dass sich niemand außer dir oder jemanden der davon weiß, in deiner Nähe aufhält."
"Mitten im Wald konnte ich mir nie in sicherer sein! Also was soll dieser Unsinn?! Du willst mich doch nur davon abhalten, einmal Freude über das vorhandene Gleichgewicht zu verspüren!" Nyoko schüttelte den Kopf.
Nichts läge mir ferner."
Wütend schnaubte ich, doch ich entgegnete nichts mehr, da ich wusste, dass es zwecklos war, ihr begreiflich zu machen, was in mir vorging.
"Wie dem auch sei...
Ich hielt inne, denn da merkte ich, dass ich keinen Fetzen Kleidung mehr am Leib hatte.
"Wie...?"
Nyoko besaß die Unverfrorenheit, zu schmunzeln.
"Das scheint wohl eine Nebenwirkung der Verwandlung zu sein. Ebenso wie der Energieverlust. Aber das hat auch etwas Positives: Du beherrschst die Verwandlung in eine Tiergestalt perfekt."
"Na immerhin etwas... Aber das bringt mich jetzt auch nicht weiter, da ich keine Kleidung dabei habe."
"Aber ich habe welche, da ich so etwas hier vorausgesehen hatte, denn ich hatte sowieso vor, die Verwandlung mit dir zu üben."
"Ach so..."
Aus ihrem Kleid zog sie urplötzlich ein schwarzes Kleid mit dazugehöriger Unterwäsche und drehte sich um, während ich mich so gut es ging, auf dem Waldboden anzog.
Ich hob eine Augenbraue, sagte aber nichts, einfach nur froh, das sie etwas dabei hatte, egal, wo sie das jetzt her hatte.
Als ich fertig war zog Nyoko ihr Kleid zurecht und drehte sich zu mir um, während ich schon dabei war, die Tannenzapfen vom Boden auf zu sammeln.
"Wie hast du es eigentlich geschafft, so schnell auf meinen Sprung zu reagieren?"
"Eine Frage der Reaktionsfähigkeit.", antwortete Nyoko schlicht.
"Etwas, was wir bei dir auch noch perfektionieren müssen.", fügte Nyoko noch hinzu, während sie ebenfalls die Tannenzapfen vom Boden auf sammelte, doch diese Bemerkung schien nicht für meine Ohren bestimmt zu sein.
"Und worin besteht meine Aufgabe gleich?", fragte ich, niedergeschlagen ob diesen Kommentars, aber auch neugierig, da ich mir keinen Begriff von Training machen konnte, außer Kampfübungen.
"Eigentlich hatte ich vor, dich diese Tannenzapfen erschießen zu lassen, aber ich habe meine Pläne geändert.
Ich nenne dir Fertigkeiten, die du lernen musst und du kannst wählen:
Gelenkigkeit, Kraft, Reaktionsfähigkeit, Beobachtung und Deduktion, deine Kampffertigkeiten, Naturkunde und sagen wir, geistige Konzentration und Vorstellungskraft."
Ich überlegte lange.
Schließlich sagte ich entschlossen:
"Gelenkigkeit."
Ich hatte diese Fertigkeit ausgesucht, weil ich wusste, dass ich zuerst die scheinbar unwichtigen Sachen perfekt beherrschen musste, bevor ich so etwas Kompliziertes wie die Kampffertigkeiten üben konnte.
"Dank meiner Spastik war ich nie besonders gelenkig. Ich denke daher, dass du dir an mir die Zähne-
Weiter kam ich nicht, denn Nyoko legte ihre Tannenzapfen ab und hob mich hoch.
"Hey! Ich dachte, wir gehen trainieren?!"
"Gehen wir doch. Wir gehen zurück zur Lichtung."
"Oh.", war das Einzige, was mir einfiel.
Nach ein paar Minuten erreichten wir diese und sie setzte mich ab.
"Los."
Ich runzelte die Stirn.
"Was los?! Was soll ich machen?!"
Langsam verlor ich die Geduld.
"Verwandle dich. In eine Raubkatze."
"Was?! Ich dachte wir trainieren die Gelenkigkeit?! Nyoko, ich respektiere dich in deine Trainingsmethoden wirklich, aber das Verwandeln eine Raubkatze hat wirklich nichts mit meiner Gelenkigkeit als Mensch zu tun!"
"Stimmt."
"Hä?!" Ich schämte mich etwas für meine plumpe Ausdrucksweise, aber jetzt war ich wirklich am Ende mit meinem Latein.
"Nun mach' schon."
Etwas widerwillig gehorchte ich und schloss die Augen.
Dann stutzte ich.
Ich sollte mich in einer Raubkatze verwandeln, aber in was für eine? Sofort kam mir das Bild eines schwarzen Pumas in den Sinn. Der geschmeidigen Raubkatze die eigentlich nur in den Bergen oder in der Wüste lebte. Also stellte ich mir die majestätische, schwarze Raubkatze vor und verwandelte mich.
Als ich sie wieder öffnete, zuckte ich zusammen:
Ich hatte schon wieder Energie verloren.
Außerdem war Nyoko größer als ich und ich konnte die riesige Richtung mit schneller umrunden, als es mir als Mensch möglich gewesen wäre. Fast schon unheimlich. Rasch ging ich zurück zu Nyoko und setzte mich vor sie hin.
Ich sah, wie sie den Mund bewegte, aber es kann nur unverständliche Geräusche daraus. Verwirrt legte ich den Kopf schief.
Erstickte sie? Was machte man in so einem Fall?
Ich stellte mich hinter sie und hob die Pfote, um ihr auf ihren Rücken zu klopfen. Doch dann sah ich die langen Krallen und besann mich eines Besseren. Ich würde ihr nur den Rücken zerfetzen, also stellte ich mich wieder vor sie. Obwohl mir nicht gerade wohl dabei war, setzte ich mich wieder hin und wartete. Wartete, dass die seltsamen Geräusche, die klangen, als ob sie erstickte, verstummten.
Irgendwann taten sie das auch und Nyoko legte ihrerseits den Kopf schief, als verwirrte sie irgendetwas.
Plötzlich erklangen die Geräusche umso lauter erneut, hörten aber schneller wieder auf. Auf einmal winkte sie mich heran. Zögerlich trat ich näher, alle Sinne auf Alarmbereitschaft. Nyoko hockte sich hin, sodass ich wir auf einer Augenhöhe waren. Jetzt winkte sie mich hinunter.
Was wollte dieser Mensch nur? Trotzdem legte ich mich hin.
Plötzlich streckte der Mensch die Hand nach mir aus.
Ich legte die Ohren an, fuhr die Krallen aus, peitschte mit dem Schwanz und wich fauchend zurück. Jetzt wusste ich es! Wahrscheinlich hatte der Mensch einen Giftpfeil im Ärmel versteckt und wollte ich mich durch die Berührung mit diesem infizieren! Der Mensch riss die Augen auf, wich zurück und zog harte, glänzende Gegenstände aus seinen Ärmeln, die mit anderen glänzenden Dingen an ihm befestigt waren. Was waren das nur für Dinger?
Auf einmal warf er einen nach mir. Er streifte mich an der Schnauze und hinterließ eine brennende Spur, während Blut daraus lief. Der Schnitt war nicht besonders tief, aber sehr schmerzhaft.
Es war also eine Art Kralle! Aber sie konnte sie nach Belieben von sich weg bewegen! Wie unfair! Dieses kleine Menschenkind wollte also ein Kampf?! Den konnte es haben!
Fauchend sprang ich auf, fuhr die Krallen aus und wich zurück, außerhalb der Reichweite in ihrer glänzenden Krallen. Naja außerhalb ihrer Reichweite, könnte man wohl nicht sagen, denn ich wusste nicht, wie lang diese Krallenverlängerung tatsächlich war. Ich plusterte mein Fell auf, fauchte, legte die Ohren an und fauchte erneut, umso bedrohlich wie möglich zu wirken. Vielleicht begriff das Menschenkind ja dann, dass ein Kampf gegen mich aussichtslos war. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wie es das anstellte, riss das Menschenkind die Augen noch weiter auf. Dann schloss es diese und konzentrierte sich. Schon im Siegestaumel, rannte ich auf das Menschenkind zu und wollte mit den Krallen über dessen zierlichen Körper fahren, um dessen erbärmlichen Leben ein für alle Mal ein Ende zu setzen.
Doch völlig unerwartet, wurde der Menschenkörper in ein gleißendes, weißes Licht getaucht. Und im nächsten Moment fuhr meine Kralle, statt über einen Menschenkörper, über den Kopf einer goldbraunen Löwin!
Fauchend warf sie sich gegen mich, warf mich um und nagelte mich für einen Moment am Boden fest.
Über das höchste Maß konzentriert, dachte ich nach:
Dieses, offenbar weibliche, Menschenkind hatte verlängerte Krallen, perfekte Reflexe und offenbar eine Tiergestalt als Löwin. Wie konnte so etwas möglich sein? Dann müsste sie ja ein Mischling sein! Nein, selbst das ginge nicht, denn dann wäre sie ja zur Hälfte ein Tier gewesen und jetzt ein Mensch geblieben!
Also lief alles auf die Frage hinaus:
Mit was für einer Kreatur hatte ich es hier gerade zu tun? Rasch zog ich meine Hinterläufe an mich, spannte die Muskeln an und warf das Menschenkind, die Löwin oder was auch immer ich für eine Kreatur nun vor mir hatte, in hohem Bogen über mich hinweg.
Ich hörte das überraschte Fauchen, das Geräusch Blumen, die ausgerissen wurden und von ausfahrenden Krallen und vermutete, dass die Löwin verzweifelt versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Ich nutzte den Moment und sprang auf, während ich mir den Dreck aus dem Fell schüttelte. Dieses Menschenkind war gar nicht mal so schlecht.
Erneut fauchte ich und sprang sie an. Doch sie tauchte unter meinem Sprung weg, sodass meine Pfoten die Leere zerfetzten. Ich wollte entsetzt weglaufen, da ich die Falle erkannt hatte, doch sie zog mich an meinem Schwanz zurück. Sie warf sich auf meinen Rücken und zog tiefe, blutige Kratzer über meinen Rücken, die von meiner Schulter bis zu meiner Schwanzwurzel gingen. Mich erfasste die Panik, als sie sich über meinen Nacken beugte.
Ich spürte ihren Atem meinem Genick und erwartete den tödlichen Biss, doch er kam nicht.
Stattdessen sagte die Löwin:
"Ich werde dich nicht töten, falls es das ist was du denkst. Was ist bloß mit dir los, Majikku?"
Die Stimme hallte merkwürdig und es klang, als spräche sie aus meinem Inneren heraus.
Ich schauderte.
Dann fragte ich mich:
Wer war Majikku? Ich jedenfalls nicht. Diese Kreatur hatte eindeutig einen geistigen Schaden. Blitzschnell wand ich mich unter ihrem Griff, drehte mich herum und fuhr mit meinen Krallen von ihrem Brustfell bis zu ihren Hinterbeinen über ihren Körper.
Die Pupillen der Löwin wurden immer kleiner, während ich sie mit meinen Krallen bearbeitete. "Warum?", fragte sie leise.
Ich ignorierte sie und warf sie von mir. Als sie sich wieder hingestellt hatte, warf sie sich in meine Richtung, doch ich war vorsichtiger als vorher und wich aus. Ich fuhr ihr über die Schnauze, als sie herumwirbelte und ihrerseits verpasste sie mir einen kräftigen Schlag gegen den Kopf, sodass ich zurück taumelte. Immer wieder versuchten wir, eine Lücke in der Deckung des anderen zu finden und den so zu besiegen, während die Sonne endgültig hinter dem Horizont verschwand.
Als ich es wieder einmal schaffte, die Löwin unter mir fest zu nageln fragte ich sie:
"Was willst du hier?! Das hier ist mein Territorium! Verschwinde, sofort!", forderte ich sie auf und registrierte nur am Rande, das ich nicht sprach.
Keine unserer Schnauzen bewegten sich, trotzdem kommunizierten wir instinktiv irgendwie miteinander.
"Ach ja? Und wo sind dann deine Duftmarkierungen?"
"Du hast sie schon längst überschritten! Darum bemerkst du sie nicht! Der ganze Wald hier, das alles gehört mir! Und was hast du hier zu suchen?
Ich wiederhole:
Verschwinde!", fauchte ich.
"Ich bin hier hergekommen, um mir mein neues Zuhause anzusehen das wird doch wohl nicht verboten sein, oder?"
"Du...! Das hier ist mein Territorium und nicht dein neues Zuhause, also verschwinde!"
"Ich denke nicht einmal daran!"
Mit diesen Worten warf sie mich im hohen Bogen von sich weg und stand auf. Ich sprang auf sie zu, doch sie riss ihre Krallen über mein Gesicht, sodass ich Blut schmeckte.
Rasch trat ich zurück, fauchte herausfordernd und rief:
"Wenn du spielen willst-
Ich spuckte mein Blut direkt vor ihre Pfoten-
"dann komm her, Kätzchen! Mit dir bin ich noch lange nicht fertig!"
Ich kletterte den Baum in der Mitte der Lichtung bis zu den tiefsten Ästen hoch, machte es mir aber nicht lange bequem, sondern sprang direkt auf die Löwin zu. Zu meiner Überraschung sollte ich aber nicht ihren Rücken treffen, denn sie warf sich auf diesen, sodass sich auf ihrem Bauch landete, ihren Schwanz vor meiner Nase und sie meinen Schwanz vor der Nase. Wir zerkratzen die Bäuche des Anderen und packten beide die Schwänze des Anderen, sodass wir eng umschlungen Kreis liefen, während wir dem anderen fest auf diesen Bissen, in der Hoffnung, dass der andere den eigenen Schwanz loslassen würde.
Mit meiner Pfote holte ich aus, traf ihre Beine und brachte sie so zu Fall, da wir sehr dicht beieinander gestanden hatten. Ich zerkratzte ihren Rücken und riss ihr ein paar Fellbüschel aus, bevor ich rasch zurücktrat, damit sie mich Ihrerseits nicht treffen konnte.
Als sie knurrend auf mich zu lief, wurde mir etwas klar:
Ich würde nicht zurückweichen. Niemals, nie mehr.
Sie holte von rechts aus, also hob ich die rechte Pfote und verpasste ihr blitzschnell einen ordentlichen Schlag gegen die rechte Seite, sodass sie das Gleichgewicht verlor und fiel. Aus Reflex wollte ich ihr noch eins über die Ohren ziehen, um ihr Respekt beizubringen, doch ich wollte mich nicht vom Triumph blenden lassen. Das einzige was ich wollte, war, dass diese Löwin verschwand.
"Gibt es noch etwas, was du hier willst? Erwartest du vielleicht Junge?"
Ihre Augen wurden dunkler.
"Nein."
"Dann bitte ich dich ein letztes Mal: Bitte verschwinde von hier."
"Warum sollte ich?! Ich habe kein Zuhause und ich werde mich nicht von meinem neuen Zuhause vertreiben lassen!"
Jetzt konnte ich meine Instinkte nicht mehr bremsen.
"Wie kommst du darauf, dass das hier dein Zuhause ist?! Es ist Meins! Ist dir einmal in den Sinn gekommen, dass ich dann kein Zuhause mehr hätte?!"
Sie nickte bloß.
"Und hättest du dann Mitleid mit mir?"
"Nein. Warum sollte ich auch?"
"Siehst du!? Warum sollte ich dann mit dir Mitleid haben?!"
Bevor sie antworten konnte, fuhr ich dazwischen:
"Wenn du Junge erwarten würdest, hätte ich dich vielleicht für eine Weile hier wohnen lassen! Aber so...!"
Ich ging auf sie los, alle meine guten Vorsätze vergessend.
Wir kämpften immer weiter, jeder erwischte den anderen erneut, doch keiner brachte den anderen zu Fall. Irgendwann waren wir so erschöpft, dass wir uns darauf konzentrieren mussten, nicht umzufallen. Doch trotzdem kämpften wir verbissen weiter.
Doch als die Sonne wieder anfing aufzugehen, wurde ich trotz all meiner Bemühungen ohnmächtig. Das Letzte, was ich wahrnahm, war, wie die Löwin ebenfalls schwerfällig auf die Seite fiel und ohnmächtig wurde.
Geweckt wurde ich durch die leisen Worte:
"Es tut mir leid."
Überrascht schlug ich die Augen auf.
"Nyoko? Was tut dir leid?"
"Oh. Du bist also wach."
Eine Weile schwieg sie, fuhr dann aber fort:
"Hast du es so schnell wieder vergessen? Naja, vielleicht ist es auch besser so."
Erst da kam die Erinnerung an den gestrigen Kampf zurück.
"Oh Gott! Wie konnte ich das vergessen?!"
"Wie gesagt, vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest dich gar nicht daran erinnert."
"Ich frage mich, wie wir überhaupt so die Kontrolle verloren haben...", murmelte ich leise.
"Am wichtigsten ist es im Moment, dass wir zurück zur Neko gehen. Ich weiß, wir sind noch nicht weit mit dem Training gekommen, aber unsere Verletzungen haben Vorrang."
"Verletzungen?!"
"Du scheinst es doch vergessen zu haben."
Zögerlich, ängstlich, was ich sehen würde, sah ich an mir hinunter.
Ich hatte sechs blutige Striemen an Bauch und Rücken, von denen sich einige schon entzündeten. Meine linke Schulter war ausgerenkt und fühlte sich heiß und dick an. Auch mein linker Fuß war verletzt, wahrscheinlich gebrochen, denn er stand in einem unnatürlichen Winkel von meinem Bein ab.
Und das Gesamtbild rundeten etliche blaue Flecken und Beulen ab:
Ich war ziemlich übel von Nyoko zugerichtet worden.
Nyoko hatte es nicht weniger schlimm erwischt:
Sie hatte Striemen im Gesicht, Beinen und Armen. Dazu hatte sie offenbar gebrochene Rippen, da sie sich die Seite hielt, ebenso wie die rechte Seite ihrer Hüfte, die auch gebrochen war. Und wie ich, war sie über und über mit Beulen und blauen Flecken übersät. Zumindest vermutete ich dass, denn ich konnte ja nicht unter ihre, komplett weiße, Kleidung schauen. Aber da sich an ihrer Hüfte und ihren Rippen rote Flecken bildeten, lag ich mit meiner Vermutung wohl richtig.
Da warf sie mir ebenfalls eine weiße Bluse und eine weiße Hose zu und drehte sich um.
"Warum hast du eigentlich immer Kleidung da, wenn ich sie brauche?"
"Auch wenn du es dir wahrscheinlich nicht vorstellen kannst:
Es gibt deutlich unschönere Situationen, in denen man Kleidung benötigt.", sagte sie leise und versteifte sich, kaum merklich.
Während ich mich anzog und über ihre Worte nachdachte, fiel mir noch etwas ein:
"Warum ziehen wir denn weiße Sachen an, wenn wir so verletzt sind? Da werden alle in Panik geraten! Außerdem können wir schlecht erklären, wo wir diese Verletzungen her haben."
"Wir werden einfach sagen, dass wir von einem Bären angegriffen wurden. Außerdem habe ich keine andere Kleidung da."
"Aber das geht doch nicht!", rief ich aus.
Vor meinen Augen sah ich ein Bild auftauchen:
Alle würden sich in eine Raubkatze verwandeln, ihre Instinkte, wie wir, nicht bremsen können und sich gegenseitig zerfleischen.
"Alle würden sich verwandeln und zerfleischen wie wir!", fuhr ich entsetzt fort.
Nyoko sagte, ernst und ohne jedes Gefühl in der Stimme:
"Du hast recht. Dann sollten wir hoffen, dass sie noch nicht angefangen haben, sich zu verwandeln und uns beeilen."
Mit diesen Worten drehte sie sich um und hob mich hoch, sackte jedoch, wahrscheinlich dank meines Gewichts und ihrer Verletzungen, wieder zusammen.
"Es tut mir leid.", sagte ich leise, voller Mitgefühl über ihren Schmerz, während ich verzweifelt versuchte, meine Schmerzen zu ignorieren.
"Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich ‚Es tut mir leid' gesagt habe.", sagte Nyoko und ich konnte mich des Eindrucks nicht verwähren, dass sie keuchte.
Ich nickte, während Nyoko wieder aufstand und voranschritt.
Allerdings wurden ihre Schritte bald immer langsamer und ich wusste: Wenn sie weiter so schnell ihre Geschwindigkeit drosselte, würden wir erst bei Einbruch der Nacht bei den Neko ankommen, trotz der Tatsache, das es jetzt noch früh am Morgen war.
Da kam mir eine zündende Idee.
"Sag' mal, Nyoko?"
Sie zuckte überrascht zusammen.
"Ja?"
Ihre Stimme war schleppend, kaum hörbar und erschöpft. Ganz anders, als die Nyoko, die ich kannte.
Ich war geschockt über ihr untypisches Auftreten, trotzdem fuhr ich fort:
"Könnte ich dir nicht eigentlich etwas von meiner Energie geben, so, wie du es bei mir gemacht hast, als ich im Magier Koma lag?"
Nyoko schwieg so lange, dass ich dachte, sie würde mir gar nicht mehr antworten.
Doch als sie mir schließlich antwortete, war ihre Stimme so schwach und so voller Schmerz, dass ich mir wünschte, ich hätte sie nicht gefragt.
"Natürlich, das Prinzip funktioniert in beide Richtungen. Aber weder ich, noch Aadil oder Elias könnten es mir verzeihen, wenn du dadurch so stark geschwächt wirst. Weißt du -
"Moment, warte mal kurz! Das Aadil als Anführer dir das nicht verzeihen könnte, verstehe ich noch irgendwie und das du dich der Organisation sehr stark verpflichtet fühlst, habe ich ja schon gemerkt, aber Elias? Der hat genauso wenig mit mir am Hut wie irgendein anderes Mitglied!", rief ich aus.
"Das stimmt nicht und das weißt du. Ihm liegt mehr an dir, dass sieht doch selbst der ehrwürdige Eret.", sagte sie kurz angebunden.
Ich stutze.
"Der blinde, alte Mann im Gang?"
"Ja."
Wieder so einsilbig. Entweder hatte ich sie verstimmt oder...
Oh Gott, sie musste wahnsinnige Schmerzen haben! Inzwischen brauchte sie einige Sekunden, bevor sie einen Schritt machen konnte.
Entschlossen schloss ich die Augen und suchte mit meinem Geist den ihren. Fast sofort fand ich ihre Aura, allerdings nur, weil ich so nah bei ihr war, sonst hätte ich das schwache Flackern nur zu leicht übersehen.
Rasch trat ich in ihren Geist, wartete den Strudel kaum ab und war überrascht, weil ich dieses Mal nicht von dem Schmerz attackiert wurde, der sich anfühlte, als würde man mir ein Messer in den Körper bohren und versuchen mich zu erwürgen. Sie musste wirklich schwach sein, dass sie nicht mal mehr ihren Geist verteidigen konnte.
Die Frage war:
Warum war ich dann nicht so schwach? Weil ich nicht laufen musste? Weil ich kein zusätzliches Gewicht tragen musste? Weil ich eine Magierin war? Ich wusste es nicht.
"Nyoko? Wie kann ich dir meine Energie geben?"
"Du wirst mir nicht-
"Und ob ich das tun werde! Wenn du keine zusätzliche Energie bekommst, werden wir nicht vor Einbruch der Nacht da sein und ich will nicht nochmal von Karasu geschnappt werden, die uns als leichte Beute sehen. Also, wie gebe ich dir Energie?"
Ihre Stimme kam von überall, was mir vorher noch nicht aufgefallen war:
"Also gut. Zuerst musst du dir vorstellen als richtiger Mensch dort zu stehen. Versuch es erstmal, denn es ist nicht so einfach, wie es sich anhört."
Ich konzentrierte mich und begriff in dem Moment etwas:
Magie hatte ganz viel mit Konzentration und Vorstellungskraft zu tun. Das war es, was sie mir mit 'geistige Konzentration und Vorstellungskraft' gemeint hatte.
Ich fuhr fort und stellte überrascht fest, dass es auf Anhieb klappte, als ich an mir heruntersah erkannte ich aber, dass mein Körper flackerte und zu verschwinden drohte, wie eine Kerze bei starkem Wind.
"Und jetzt?", fragte ich angespannt.
"Jetzt leg' deine Hände zu einer Schale und versuche, die Energie wie Wasser aus deinem Körper zu ziehen und in deine Hände zu leiten."
Ich tat, wie geheißen und fast sofort waren meine Hände angefüllt mit einer klaren, golden schimmernden Flüssigkeit. Überraschenderweise hatte ich immer noch soviel Energie wie vorher, vielleicht, weil diese immer noch mit mir verbunden war.
"Was mache ich jetzt mit der Energie?"
Nyoko antwortete nicht.
"Nyoko?"
"Was?
Ach ja:
Jetzt musst du dir meinen Geist als einen Raum mit einer Schüssel vorstellen. Das ist meine Energiequelle. Darin musst du einen Teil deiner Energie ablegen."
"In Ordnung."
Ich gab mir wirklich Mühe und konzentrierte mich, aber es erschien kein Raum mit einer Schale darin, sondern nur ein dichtes Dornengestrüpp.
Ich runzelte die Stirn.
Musste ich dadurch? Davon hatte Nyoko nichts gesagt, aber fragen wollte ich sie jetzt auch nicht. Sie musste schließlich ihre ganze Kraft darauf konzentrieren, weiterzugehen. Und wer wusste schon, was passierte, wenn ich die Energie einfach freiließ. Vielleicht gab ich so viel Energie ab, dass ich wieder ins Magier Koma fiel oder ich zerstörte Nyoko!
Ich schauderte.
Also blieb mir keine andere Wahl:
Ich musste dadurch. Ich ließ die Energie wieder in meinen Körper strömen und wappnete mich vor den baldigen Anstrengungen und dem Schmerz. Zumindest wäre er normalerweise da, aber dass hier war alles andere als normal. Ich verstärkte meinen 'Körper', indem ich mich sosehr auf ihn konzentrierte, wie ich konnte und ging auf das Gestrüpp zu.
Ich schob die ersten Ranken mit meinen Händen beiseite, die Freude, dass ich Laufen konnte war zwar da, aber schwach, weil ich wusste, dass es nicht in der Realität war und tatsächlich, ich spürte den Schmerz, als die Dornen in meine Handflächen schnitten. Doch ich bis die Zähne zusammen und schob mich weiter, bis mich das Dornengestrüpp vollständig umschloss.
Während ich immer weiter ging, überströmten mich plötzlich Gefühle und es tauchten für einen Wimpernschlag lang unterschiedlichste Bilder vor meinen Augen auf, zu kurz, um mehr zu erkennen.
Ich blieb stehen.
Es hatte keinen Sinn, weiterzugehen, wenn vor meinen Augen Bilder erschienen. Doch die Gefühle nahm ich sehr deutlich war, was mir zu schaffen machte, da sie mir meine Energie raubten, obwohl ich am Rande spürte, dass es nicht meine Eigenen waren.
Zuerst fühlte ich Glückseligkeit, Frieden und eine tiefsitzende Liebe und dazu verschwommene Bilder von einer auf einer auf einer grünen Wiese spielenden Familie, ohne das ich erkennen konnte, wer es war. Dann Überraschung, Unglaube, Schock und Sorge. Sorge um die, die ich liebte. Ablehnung folgte. Ablehnung vor etwas, was ich tun sollte. Auf dem Bild dazu sah man einen großen Menschen, der kleinen Kindern etwas erklärte oder erzählte. Wut, und Angst wurden meine Begleiter, das Bild flackerte zu kurz auf, um es zu erkennen. Dann durchströmte mich erneut diese tiefsitzende Liebe, dazu Erleichterung, tiefes Verständnis, aber sie war gemischt mit Sorge und Angst, so groß, wie vorher noch nie.
Wut, Angst, Verzweiflung, das Gefühl, verraten worden zu sein und Trauer schlugen über mir zusammen und versuchten, mich in den Wahnsinn zu ziehen und das einzige, was ich sehen konnte, war Blut. Unmengen an Blut. Die Gefühle verblieben die ganze Zeit. Kurz erkannte ich das Bild von einer Gestalt, doch wer sie war und was sie tat, konnte ich nicht sehen. Dann fühlte ich nur noch, wie die Gefühle eingeschlossen wurden, damit sie niemand sah, aber sie dennoch unter der Oberfläche brodelten.
Dann brach alles so abrupt ab, wie es gekommen war und ich brach in den Dornen zusammen.
Was war das? Woher kam das? War das eine Strategie, um Fremde von der Energiequelle fernzuhalten?! Wenn ja, was ich inzwischen glaubte, dann war sie sehr wirkungsvoll und raffiniert.
Ich stand wieder auf und kämpfte mich weiter durch das Gestrüpp.
Wenn das eine Strategie gewesen war, um Fremdlinge fernzuhalten, was kam dann als nächstes?
Wie auf's Stichwort zogen sich die Dornen zurück und es ragte ein steiler Berg vor mir auf. Ich glaubte für einen Moment, das ich oben einen leichten blutroten Schimmer gesehen hatte, doch vielleicht war es nur Einbildung. Trotzdem sagte mir mein Gefühl, dass ich diesen Berg erklimmen musste.
Doch ich zögerte.
Da heraufzusteigen, sah alles andere als einfach aus. Als ich an mir herunter sah erkannte ich zudem, dass mein Körper begann, zu erlöschen. Ich wusste nicht, was passieren würde, wenn das geschah, doch ich hatte so im Gefühl, dass es nicht gut wäre. Also sammelte ich meine ganzen Kräfte und begann den Aufstieg.
Ich schnitt mich immer mehr, doch es kümmerte mich nicht mehr. Ich tat das hier für Nyoko. Für Nyoko, für mich, für Aadil, für Elias und für alle anderen in der Organisation. Und gegen die Karasu. Der Stein war bröckelig, obwohl er nicht so gewirkt hatte. Er zerfiel plötzlich in meinen Händen, sodass ich Mühe hatte, mich festzuhalten und nicht abzustürzen. Plötzlich fing es auch noch an, zu regnen und der Berg wurde auch noch glitschig. Einen Moment lang wunderte ich mich, dass es in ihrem Geist regnen konnte, aber wahrscheinlich gehörte das auch zur Strategie dazu.
Ich hatte ungefähr die Hälfte des Berges bestiegen, als ich abstürzte.
Ich überschlug mich mehrmals, bis ich es schaffte, einen Felsvorsprung zu packen. Ein solch starker Ruck ging durch meinen linken Arm, mit dem ich mich festhielt, dass ich beinahe wieder losgelassen hätte. Doch ich riss mich zusammen, klammerte auch meinen rechten Arm an dem Felsvorsprung fest und zog mich hoch. Ich war schon ziemlich geschwächt, doch ich begann verbissen erneut den Aufstieg, vorbei ich diesmal darauf achtete, nur Felsen zum Klettern zu benutzen, die mich auch wirklich hielten.
Nach einer Weile, unmöglich zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, packte ich erneut einen Felsen und zog mich hoch. Als ich jedoch nach dem nächsten Felsen greifen wollte, war da keiner mehr. Das verwirrte mich so sehr, dass ich einfach nur noch hochklettern und mich fassungslos umsehen konnte. Hier war der Berg so glatt, als wäre er abgeschnitten worden.
Trotzdem. War das wirklich wahr? War ich wirklich oben angelangt?
Ich stand auf und stieß einen Jubelschrei aus.
Ich hatte es geschafft! Taumelnd vor Erschöpfung, ging ich in Richtung Mitte des Berges. Da sie aber noch ein gutes Stück entfernt war, erkannte ich erst nach einer Weile, dass dort jemand war! Ich ging schneller und schneller, bis ich schließlich über den gigantischen Berg rannte. Als ich näher kam, erkannte ich, dass dieser jemand gar kein Mensch war.
Es war ein Greif! Ein monströses Tier, dass den Kopf, die Hinterbeine und die Flügel eines Weißkopfadlers hatte. Die Vorderbeine, der Schwanz, der Rumpf und der Oberkörper waren die eines Löwen. Dazu war dieses Tier dreimal so groß wie ich.
Ich wusste nicht ganz recht, was ich tun sollte, als der Greif mich mit unleserlicher Miene anstarrte, also plapperte ich drauf los:
"Ist hier oben die Energiequelle von Nyoko? Wenn ja, könnte ich dann zu ihr? Wenn nicht, dann-
"Wie ich sehe, bist du auf natürliche Weise hier angelangt.", unterbrach mich der Greif, während seine Augen weiß waren.
Er oder sie betrachtete mich kurz, schloss die Augen und als der Greif sie wieder öffnete, waren sie schwarz.
Als ich erneut ansetzen wollte, sagte der Greif:
"In Ordnung. Du darfst passieren."
Bevor ich auch nur reagieren konnte, faltete der Greif seine bis dahin ausgebreiteten Flügel zusammen und kniete sich auf die Vorderbeine.
Ich nickte dem Greif meinerseits respektvoll und dankbar zu und ging an ihm vorbei.
Während ich das tat, spürte ich, wie meine Kraft zurückkehrte und die Wunden verschwanden. Das hieß wohl wirklich, dass das alles eine Prüfung gewesen war! Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Vor mir stand ein ungefähr fünf Meter hoher Fels, aus dem eine blutrote Flüssigkeit sprudelte. Diese blutrote Flüssigkeit ergoss sich in einen See, der fast vollständig ausgetrocknet war.
Das musste Nyoko's Energiequelle sein.
Ich jubelte innerlich, legte meine Hände zu einer Schale zusammen und zog die Energie wie Wasser aus meinem Körper, bis meine Hände aufgefüllt mit einer, golden schimmernden, Flüssigkeit waren.
Meine Energie. Meine Lebenskraft. Meine Kraft, die mich am Sterben hinderte.
Plötzlich packte mich die Angst.
Was war, wenn ich sterben würde, weil ihr zu viel von meiner Energie gegeben hatte?
Ich schüttelte den Kopf.
So schnell konnte das nicht gehen! Trotzdem ließ ich einiges meiner Energie zurückfließen, bis meine Hände nur noch halb so voll waren. Ich gab mir einen Ruck, ging bis an den Rand des Sees und hockte mich hin. Ich öffnete meine Hände und meine Energie floss in ihre Energiequelle. Ich spürte den Unterschied kaum. Mit neuem Mut füllte ich meine Hände erneut, diesmal vollständig.
Das Ganze ging fünfzehn Mal, bis ich wusste:
Ich würde gleich einschlafen, aber ich würde nicht ohnmächtig werden oder ins Koma fallen.
Schwankend richtete ich mich auf und bemerkte erst jetzt, dass der Greif neben mir stand.
"Wie komme ich hier raus? Kennst du den Weg?"
Der Greif kniete sich hin und antwortete:
"Der einzige Ausgang, bei dem du die Energie, die du gerade an Nyoko abgegeben hast, ihr nicht wieder wegnimmst, ist der, dass du mich reitest."
Als ich widersprechen wollte, ich konnte ja nicht ein solch majestätisches Tier als Reittier benutzen, schüttelte der Greif kaum merklich den Kopf. Also ergab ich mich meinem Schicksal und stieg auf. Nun war der Boden zwei Meter unter mir, was ein seltsames Gefühl war. Der Greif war weicher, als ich es erwartet hätte. Ich umschlang mit meinen Armen seinen Hals und schmiegte mich an sein weiches Fell, während mich die Müdigkeit zu überwältigen drohte. Als der Greif abhob und ich das auf und ab seiner Schwingen hörte, war es endgültig um mich geschehen und ich schlief auf der Stelle ein.
Jemand rüttelte mich leicht an der Schulter, sodass sich die Augen aufschlug. Mir blickten zwei besorgte, blutrote Augen entgegen und mir fiel alles wieder ein. Da bemerkte ich auch, dass Nyoko jetzt gleichmäßiger und schneller lief.
"Mir geht es gut, ich brauche nur etwas Schlaf. Tust du mir den Gefallen und weckst mich, kurz bevor wir da sind?"
"Natürlich, aber wieso?"
„Ich möchte nicht, dass sie sich zu viele Sorgen machen. Meinst du, du schaffst es, dieses Tempo beizubehalten, bis du mich weckst?"
Sie nickte bloß.
"Gut.", sagte ich noch, dann fiel ich wieder in meinen Schlaf.
Erneut rüttelte Nyoko mich vorsichtig an der Schulter und ich wusste, dass wir bald da sein mussten.
"Wie geht es dir?", war das Erste, was ich sie fragte.
Ihr Atem war nicht mehr ganz so entspannt wie das erste Mal, als sie mich geweckt hatte, aber immer noch deutlich entspannter, als nach unserem Kampf. Sie wirkte auch angestrengter, aber sie behielt ihr Tempo bei.
"Es geht mir den Umständen entsprechend gut, auch wenn es mir schon einmal besser ging. Und dir?"
"Ebenso."
Ich lächelte schwach.
"Sag mal, wie kann man Barrieren um seine Energiequelle errichten?"
Ihr Gesichtsausdruck war unleserlich, doch als sie zu einer Antwort ansetzen wollte, unterbrachen zwei Stimmen das Gespräch:
"Wo wart ihr so lange?!"
Es waren Elias und Aadil.
Nyoko und ich winkten ab, doch als sie unsere Verletzungen sahen, waren sie nicht mehr zu bremsen:
"Wer hat euch das angetan?!"
Dann wandte sich Aadil an Elias und sagte:
"Geh so schnell du kannst zu Izanami und sag ihr, dass Nyoko und Majikku behandelt werden müssen und zwar so schnell wie möglich! Sie soll sofort ihre Sachen zusammenpacken und dir zum Eingang kommen! Ich glaube nämlich nicht, dass Nyoko es noch schafft, zu Izanami's Haus zu gehen!"
Man sah Elias sehr deutlich an, dass er widersprechen wollte, auch wenn sein Gesicht nach wie vor unter seiner Kapuze verborgen war, doch er beugte sich dem Wille des Anführers.
Während Elias fort rannte, versuchten Nyoko und ich Aadil zu beschwichtigen:
"Bitte Aadil, es ist nichts. Es wäre wirklich sehr von Vorteil, wenn nicht gleich die ganze Organisation davon wüsste, glaub mir.", sagte Nyoko und wirkte plötzlich nicht mehr erschöpft und angestrengt, sondern nur noch ernst und würdevoll, trotz ihrer Wunden.
Ich war beeindruckt von dieser Verwandlung, daher wunderte es mich nicht, dass Aadil den Mund wieder zu klappte, den er gerade geöffnet hatte, um uns Löcher in den Bauch zu fragen, wie ich vermutete. Doch angesichts von Nyoko's Ansage und ihrem ernstem Blick, schloss er ihn wieder.
"Können wir vielleicht in Ihrem Büro darüber reden, wo uns nicht jeder hört?", fügte ich fragend hinzu.
Er nickte langsam, doch dann sagte er:
"Doch zuerst warten wir auf Izanami. Erstens haben eure Verletzungen Priorität und zweitens, wenn wir jetzt in meinen Büro gehen, dann findet uns Izanami nicht mehr. Und dabei bleibt es!", fügte er hinzu, als Nyoko und ich den Mund zu einer Entgegnung aufmachten.
Wir ergaben uns unserem Schicksal und Nyoko setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, um ihre Beine zu entlasten, nahm ich an.
Nach wenigen Minuten kam Izanami angerannt, mit einem großen Korb unterm Arm und mit einem sorgenvollen Blick in den Augen.
Nyoko stand auf und wollte sich in Richtung der Tunnel, aus denen Izanami gerade kam, bewegen, doch die Heilerin hielt sie auf:
"Nyoko, du bleibst jetzt sofort stehen!"
Die ignorierte sie und schritt an ihr vorbei, sodass mir keine Zeit blieb, zu erfragen, wo Elias war.
Als Izanami nach ihrem Arm griff, wirbelte sie herum und sagte energisch:
"Ich werde ganz bestimmt nicht hier stehen bleiben. Hier kann uns jeder zusehen, jeder hören was wir zu sagen haben und das will weder ich, noch sie. Außerdem würde ich mich gerne setzen und auch Majikku irgendwo absetzen, damit du uns getrennt untersuchen kannst. Und wenn ich sowieso mit ihr zu Aadil's Büro will, dann kann ich mich doch auch dort gleich setzen und du kannst uns da untersuchen."
Als Izanami widersprechen wollte, unterbrach Nyoko sie:
"Ich bin den ganzen Weg von der-
Sie schien es sich anders überlegt zu haben, den sie unterbrach sich:
"Von dort hierher gelaufen, da werde ich ja auch wohl die Strecke von hier bis zu Aadil's Büro schaffen."
Ohne auf eine Antwort zu warten, schob Nyoko Izanami beiseite und ging auf die Tunnel zu.
Ich versuchte, die Biegungen, die Tunnel und die Türen zu zählen, an denen wir vorbeikam, doch es war hoffnungslos. Ich hätte mich hier eindeutig verlaufen. Ein deprimierender Gedanke. Ich war wirklich zu gar nichts zu gebrauchen!
Irgendwann stieß Nyoko mit ihrem Fuß eine Tür auf und ich erkannte sie als Aadil's Büro wieder. Sie setzte mich auf einem der Stühle ab und setzte sich schließlich selbst. Izanami und Aadil folgten und schlossen die Tür.
Bevor irgendwer etwas sagen konnte, untersuchte uns Izanami flüchtig, bis sie entschieden sagte:
"Du fängst an Nyoko. Wer oder was euch erwischt hat, dich hat es schlimmer erwischt."
Mit diesen Worten führte sie Nyoko zu einer Tür, die in ein Nebenzimmer führte, die mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen war.
Kaum hatte sich die Tür hinter Izanami und Nyoko geschlossen, blickte mich Aadil erwartungsvoll an.
"Nun?"
Ich räusperte mich, denn ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich wollte gerade dort ansetzen, als mich Nyoko zur Lichtung gebracht hatte, doch da sie sich vorhin ja unterbrochen hatte, nahm ich an, dass niemand davon wusste und das es ihr sehr wichtig war, dass auch niemand davon erfuhr, also räusperte ich mich erneut und beschloss, ihr zuliebe, diese Information geheim zu halten.
"Nyoko wollte mich abseits von den anderen Organisationsmitgliedern trainieren, denn, wie sie es ausdrückte, sei ich das wichtigste Glied der Kette. Wenn ich sterbe, sterben auch die Neko."
Aadil nickte langsam.
"Ich sollte wählen, was sie mir zuerst beibringen würde und ich entschied mich für die Gelenkigkeit. Dafür sollte ich mich in einer Raubkatze verwandeln, da ich die Verwandlung ja schon beherrschte und ich tat wie geheißen. Im Nachhinein vermute ich, dass das dazu gedacht war, dass ich mir die Muskeln aufwärmte in dem ich verschiedene Sachen tat, wie zum Beispiel Rennen oder so etwas. Doch soweit kam es nicht. Ich weiß nicht wieso, aber ich konnte ihre Sprache nicht mehr verstehen. Für mich redete sie nur noch unverständliches Zeug. Ich dachte, sie würde ersticken. Während ich mir verzweifelt eine Lösung überlegte, vergaß ich ihren Namen, vergaß ich, wer sie war und vergaß, warum ich hier war. Ich denke sie wollte zu mir durchdringen, indem sie mich berührte, doch ich dachte nur daran, dass sie mich mit ihrer Berührung vielleicht vergiften wollte.
Also zuckte ich zurück und fauchte sie an. Und so wie jeder Mensch Reflexe hat, muss dieses Verhalten bei ihr den Reflex ausgelöst zu haben, mit einem ihrer Dolche nach mir zu schießen. Erst im letzten Moment schien sie zu begreifen, was sie da tat, doch das sind alles nur Vermutungen, denn ich weiß nur, was ich dachte. Das Einzige was ich dachte, war, dass sie mich angreifen wollte, was auch für den Bruchteil einer Sekunde so gewesen war. Ich griff sie an und sie verwandelte sich in eine Löwin, um sich von mir zu schützen. Sie versuchte, mich zu erreichen, sprach mich mit meinem Namen an und fragte mich, warum ich das tat, doch ich wusste nichts mehr von meinem Leben. Ich kannte nur noch die Gedanken, das Leben und die Gefühle einer Raubkatze. Ich kämpfte gegen sie und sie verteidigte sich, doch irgendwann, schien auch bei ihr der Instinkt, eben das raubtierhafte Verhalten, durchzudringen und wir vergaßen unser vorheriges Leben. Daher die Verletzungen. Erst als wir beide völlig erschöpft in Ohnmacht fielen verwandelten wir uns zurück und erinnerten uns."
Aadil's Augen waren während meiner Erzählung immer größer geworden, doch bevor er irgendetwas sagen konnte, hob ich die Hand.
Ich schloss die Augen und suchte mit meinem Geist Nyoko's.
Ich tauchte in ihren blutroten Geist, ignorierte den Wirbel, der mich wie immer empfing und sagte:
"Nyoko. Ich bin es. Ich habe eine Idee, wie wir dafür sorgen können, dass jeder sich in eine Raubkatze verwandeln kann, ohne Gefahr. Aber dafür muss derjenige oder diejenige, sich erst einem Test unterziehen."
Ich versuchte, ihr meine Gedanken und Gefühle, was diesen Test anging, zu übermitteln.
Ob ich Erfolg hatte, wusste ich nicht, doch nach einer Weile sagte Nyoko:
"In Ordnung. Ich werde Aadil deinen Test erläutern. Mal sehen, ob er damit einverstanden ist, denn ich bin jetzt fertig mit der Untersuchung. Wie viel hast du ihm schon erzählt?"
"Bis zu dem Teil, wo wir ohnmächtig geworden sind. Ich glaube dann musst du nur noch den Teil mit dem Test erzählen."
Nyoko antwortete nicht mehr, also nahm ich an das sie mich vernommen hatte.
Ich öffnete also wieder die Augen und sah in Aadil's verwirrtes Gesicht. In dem Moment kam Nyoko wieder aus dem Nebenzimmer, mit frischen Verbänden, die man unter ihrer weißen Kleidung sehen konnte. Ohne ein Wort setzte sie sich und Izanami hielt mir den Arm hin, damit ich an ihm in das Nebenzimmer laufen konnte. Während der Erzählung hatte ich ganz vergessen, dass ich einen gebrochenen Fuß und eine ausgerenkte Schulter hatte. Als ich den Arm heben wollte, um ihren helfenden Arm anzunehmen, hinderte mich die ausgerenkte Schulter daran und Aufstehen, war wegen dem gebrochenen Fuß, sowieso nicht möglich. Ich brachte nur ein schwaches Lächeln zustande. Da stand Nyoko wieder auf und trug mich in das Nebenzimmer, obwohl Izanami lautstark protestierte.
Sie setzte mich auf einen Stuhl, warf mir ein leises Lächeln zu, drehte sich um, trat aus der Tür und schloss diese.
Ich starrte ihr verdutzt hinterher.
Sie hatte gelächelt!
Ich war nicht wütend oder so, sondern nur verwundert, dass sie ihre Gefühle gerade eben so offen gezeigt hatte.
"Jetzt lass mich dich mal ansehen.", sagte Izanami und brachte mich so wieder zurück in die Gegenwart.
"Wie willst du das eigentlich machen? Ich glaube, dass meine Schulter ausgerenkt und mein Fuß gebrochen ist. Wie willst du das jetzt so schnell kurieren?"
Izanami lächelte.
"Doch nicht etwa mit dieser unheimlichen Salbe, die sich Elias auf den Bauch geschmiert hat, als ich ihn mit der Magie getroffen habe, oder?"
Ihr Lächeln wurde breiter und herzlicher.
"Nein, das würde nichts bringen. Diese Salbe kann ausschließlich die Haut verschließen, ohne dass Narben zurückbleiben. Doch die Muskeln und Knochen müssen ja ebenfalls wiederhergestellt werden, also wird es nicht ganz so einfach funktionieren."
Ich atmete erleichtert auf.
"Diese Salbe war mir auch nicht ganz so geheuer. Ich habe ihm ein riesiges Loch in den Bauch gerissen und er konnte es einfach mit dieser Salbe schließen!"
"Was ist dir wichtiger? Deine linke ausgerenkte Schulter oder dein linker gebrochener Fuß?"
"Eindeutig meine Schulter. Erstens bin ich Linkshänderin und zweitens kann ich mit meinen Füßen hier sowieso nichts anfangen, solange ich keine Fortbewegungsmöglichkeit habe."
Sie nickte, ohne eine Spur von Hohn auf ihrem Gesicht.
"Es tut mir wirklich leid, aber dir ist doch klar, dass ich, um schlimmere Verletzungen zu verhindern, die die Schulter jetzt wieder einrenken muss?"
Ich nickte tapfer, auch wenn ich Angst vor dem Schmerz hatte.
"Was muss ich tun?"
"Es wäre am Schlausten, dass du dich und drehst, sodass du die Rückenlehne vor dir hast. Dann musst du die Füße, so fest du kannst, in den Boden rammen und dich mit dem rechten Arm an der Rückenlehne festhalten. Den Rest erledige ich."
Ich nickte gehorsam, ihre ruhige, entschlossene Art beruhigte mich irgendwie.
Also tat ich wie geheißen und hielt mich mit aller Kraft an der Rückenlehne fest, während ich ihr fast zögerlich, meinen linken Arm hin streckte.
Sie ergriff meine Hand und sagte ein letztes Mal:
"Es tut mir leid, aber es wird wehtun."
Ich drehte den Kopf weg und wartete.
Auf einmal ruckte sie an meinem Arm, sodass der Schmerz glühend heiß von meinen Fingerspitzen, bis zu meiner Schulter, hochschoss.
Ich schrie ungewollt auf.
Meine Schulter machte ein seltsam knackendes Geräusch und es fühlte sich so an, als ob sie mir die Muskeln ausreißen würde, doch als der erste Schmerz abebbte, fühlte sich meine Schulter viel besser an.
"Danke.", brachte ich nur noch keuchend heraus.
Sie lächelte mitfühlend.
"Gern geschehen."
Dann suchte sie in ihrem Korb zog eine grüne Glasflasche aus ihrem Korb und entfernte den Glastropfen, der die Flasche verschloss.
Ein bitterer, fast fauler Geruch, stieg aus der Flasche empor und ich rümpfte angewidert die Nase.
"Bist du sicher, dass diese Tinktur noch nicht abgelaufen ist?"
Izanami lachte auf. Ihr Lachen klang überraschend klar und ließ sie einige Jahre jünger wirken, auch wenn das Lachen eindeutig alt klang, wenn man das so sagen konnte.
Ich stutzte.
Ich hatte sie zum Lachen gebracht! Irgendwie freute mich das.
"Nein...!", sagte Izanami immer noch prustend.
"Diese Tinktur riecht immer so."
"Dürfte ich dann wenigstens erfahren, wofür genau sie gut ist?", fragte ich, mit plötzlichem Interesse.
Izanami schien dieses zu spüren, denn sie sagte:
"Eigentlich ist das ein Berufsgeheimnis, aber dir verrate ich es:
Sie ist gegen mögliche Entzündungen und zum Beruhigen der Muskeln und der Haut.
Deshalb wundere dich nicht; diese Tinktur ist ziemlich kalt. Wenn ich sie dir auf die Schulter geschmiert habe werde ich dir diese verbinden.
Und noch etwas:
Als die Heilerin dieser Organisation, befehle ich dir, die Schulter so wenig wie möglich zu bewegen und zu belasten, sonst muss ich dich ein zweites Mal behandeln."
Ich nickte und freute mich darüber, dass sie mich eingeweiht hatte. Wie sie schon gesagt hatte, tat sie sich etwas von der Tinktur, die genauso grün war, wie die Glasflasche, auf ihre Hand und verteilte sie auf meiner Schulter. Tatsächlich war die Tinktur kalt, aber da sie mich vorgewarnt hatte, erschrak ich nicht. Dann holte sie eine Verbandsrolle aus ihrem Korb und verband meine übel riechende Schulter, die nicht mehr so schlimm weh tat wie vorher. Als nächstes kniete sie sich hin und betrachtete meinen Fuß eingehend.
"Wie ist er gebrochen?"
Ich seufzte und erzählte die Geschichte ein zweites Mal, wieder, ohne die Lichtung zu erwähnen.
"Also weiß ich folglich nicht mehr , wie ich mir den Fuß gebrochen habe."
Izanami schnalzte verärgert mit der Zunge.
"Tja, aber das lässt sich jetzt wohl nicht mehr ändern."
Mit plötzlichem Interesse fragte sie:
"Wie würdest du denn deinen Fuß behandeln?"
Ich runzelte die Stirn.
"Ich-, fing ich an, unterbrach mich jedoch und nahm ihre Frage ernst.
Tja, was würde ich wohl machen?
"Zuallererst würde ich mir ansehen, wie sehr der Fuß gebrochen ist und würde versuchen, herauszufinden, wie er gebrochen ist. Ich weiß nicht, ob es irgendeine Tinktur gibt, die das zusammenwachsen von Knochen erleichtert, aber wenn es sie gibt, würde ich sie benutzen. Dann würde ich die Tinktur, die du gerade eben bei meiner Schulter angewendet hast, zum Beruhigen meines Fußes benutzen. Als letztes würde ich das Ganze wahrscheinlich so straff zusammenbinden, dass der Fuß nicht mehr verrutschen kann, damit der Knochen nicht falsch zusammenwächst und mir selbst empfehlen den Fuß, so gut wie es geht, nicht zu bewegen.", sagte ich langsam.
Gespannt wartete ich auf Ihre Antwort.
Sie ließ sich Zeit damit, bis sie antwortete:
"Das war gar nicht mal so schlecht, allerdings darf man Tinkturen nicht mischen. Aber ich habe noch einen Umschlag dabei, der bewirkt, dass die Knochen schneller zusammenwachsen. Umschläge und Tinkturen darf man mischen, die kommen sich nicht in die Quere. Tinkturen sind seltener und wirkungsvoller, als der Umschlag, da ihre Zutaten schwerer zu beschaffen sind, aber den Umschlag zu benutzen ist besser, als dass du am Ende noch eine Entzündung im Fuß hast. Und die sind noch schwerer zu heilen, als die Zutaten für eine Tinktur zu besorgen."
Ich hörte interessiert zu.
"Kann man bei dir in die Lehre gehen?"
Ich wusste nicht, wieso mich das so interessierte, aber es war so.
Izanami sagte:
"Ich habe noch nie jemanden unterrichtet, da sich bisher niemand dafür interessiert hat, aber ja, es wäre möglich."
Da fiel mir etwas ein:
"Tut mir leid, aber ich muss noch mit Nyoko trainieren. Sie nimmt das Training offensichtlich sehr ernst."
Ich schnitt eine Grimasse.
Izanami wurde noch ernster:
"Du solltest es auch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn wenn du stirbst-
"Sterben die Neko, ich weiß."
Ich winkte ab.
"Aber ihr werdet schon sehen:
Am Ende stand ich nur daneben und ihr brauchtet mich gar nicht, außer als Symbol eurer Hoffnungen, um euch zu ermutigen."
Izanami schüttelte den Kopf.
"Nein. Du wirst eine aktive, zentrale Rolle spielen und uns alle retten."
Nun schüttelte ich meinerseits den Kopf, sagte aber nichts mehr.
Retten? Wovor denn überhaupt?
Plötzlich spürte ich eine Bewegung in meinem Kopf. Es fing an zu kribbeln und es bewegte sich immer mehr, als ob Ameisen in meinem Kopf wohnen würden.
Ich runzelte die Stirn.
Was war das?
Izanami hatte meinen seltsamen Blick bemerkt, doch bevor sie irgendetwas sagen konnte, hob ich die Hand, als Zeichen, dass sie still sein sollte und schloss die Augen, wobei ich mit einer kurzen Geste symbolisierte, dass sie meine Verletzungen behandeln sollte. Nicht herrisch, sondern bittend.
Ich sah meinen Geist in goldenes Licht getaucht vor mir, als ich zu ergründen versuchte, woher dieses seltsame Gefühl kam.
Da zuckte ich erschrocken zurück.
Ich hatte nur einmal geblinzelt und auf einmal sah meine Umgebung nicht mehr aus wie vorher. Aber vielleicht hatte ich sie vorher nicht wahrgenommen. Vor mir schien so etwas wie ein Eingang zu sein. Die Wände waren aus edlem, weißen Marmor, ebenso wie der Boden. Ungefähr zwanzig Meter vor mir war eine dunkle, scheinbar schwere, Tür aus Schwarzeichenholz.
Plötzlich klopfte es.
Ich zuckte überrascht zusammen.
Draußen ertönte ein Knurren und langsam wurde ich nervös.
Sollte ich "Herein" sagen? Was auch immer da draußen war, es hörte sich nicht gerade freundlich an.
Ich wog das Für und Wider ab, wobei mir klar wurde, dass dieses Gefühl von vorhin offenbar entstand, wenn sich ein Eindringling im eigenen Geist befand, als eine Stimme ertönte:
"Hallo? Ist hier jemand?"
Ich erkannte Nyoko's Stimme und versuchte, mir meine Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Sie sollte nicht denken, dass ich mich in meinem eigenen Geist nicht sicher fühlte.
"Herein.", sagte ich.
Die Tür öffnete sich und Nyoko trat ein.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich auf ihrem Gesicht Emotionen zu sehen, die ich bei ihr nie vermutet hätte:
Angst, Erstaunen und... eine Art respektvolle Hochachtung.
Da weiteten sich ihre ohnehin schon großen Augen, doch als ich blinzelte, war ihr Gesichtsausdruck unleserlich wie immer.
Am liebsten hätte ich irritiert die Stirn gerunzelt, doch ich unterdrückte diesen Impuls.
Ich wollte, wenigstens dieses eine Mal, in meinem eigenen Geist, kein offenes Buch für sie sein. Bestenfalls immer und auch bei jedem Anderen, doch das war reines Wunschdenken.
Trotzdem würde ich es versuchen. Ich versuchte, meinen Gesichtsausdruck zu versteinern und meine Gedanken bei mir zu behalten.
Da fiel mir jedoch etwas viel Wichtigeres ein:
"Was willst du?"
Ich würde jede Sekunde meines Lebens als Training benutzen, nahm ich mir entschlossen vor.
Also tat ich mein Bestes, die Neugier aus meiner Stimme, meiner Mimik und meiner Körperhaltung herauszuhalten, so, als hätte ich sie bereits erwartet.
Ein seltsames Lächeln umspielte ihre Lippen:
Es war erheitert, erleichtert und... verständnisvoll. So unendlich traurig und verständnisvoll.
Plötzlich wurde mir etwas bewusst:
Ich wollte nicht nur meine Gedanken und Gefühle für mich behalten, sondern auch wissen, was die Anderen fühlten und dachten.
"Nichts Überlebenswichtiges, falls du das denkst. Ich wollte dir lediglich sagen, dass Aadil mit deinem Plan einverstanden ist und wollte einmal deinen Geist sehen."
Ich war verärgert, aber auch überrascht, dass sie ihre Neugier so offen kundtat, doch ich verbarg dies, was gar nicht so einfach war. Es würde nicht einfach werden, immer seine Gefühle zu unterdrücken, doch es würde sich lohnen, dass spürte ich.
"Könnten wir uns dann vielleicht auf die normale Weise unterhalten? Mein Kopf fühlt sich an, als ob Ameisen darin wohnen, wenn du in meinem Geist bist."
Ich sagte das ohne einen Vorwurf in der Stimme, stellte es nur fest.
"Bei mir ist es doch genauso.", sagte Nyoko amüsiert.
"Oh.", war das Einzige, was mir vor Überraschung noch einfiel.
Ich sagte noch:
"Bis gleich.", dann öffnete ich die Augen und blickte geradewegs in Izanami's verwunderte, besorgte, stolze und wütende grüne Augen.
"Warum musstest du denn jetzt die Gedankensprache anwenden?!"
Ich zuckte mit den Schultern.
"Warum nicht? Wenn ich es kann, ist es doch umso besser. Außerdem muss nicht jeder zuhören, was wir zu bereden haben."
Izanami brauste auf:
"Ja, aber das ist es ja gerade! Jedes Gespräch kann belauscht werden!"
Ich legte den Kopf schräg, doch bevor ich sie fragen konnte, was sie damit meinte, wurde die Tür geöffnet.
"Nyoko?"
Diese ignorierte meine überraschte Frage und wandte sich an Izanami:
Bist du fertig mit ihrer Behandlung? Wenn ja dann würde ich gerne weiter mit ihr trainieren gehen. Natürlich, ohne ihre Verletzungen allzu sehr zu strapazieren.", fuhr Nyoko fort, bevor Izanami etwas sagen konnte.
Dann wandte sie sich an mich:
"Aadil ist mit dem Plan einverstanden. Allerdings hat dein Training nach wie vor Vorrang, wer weiß, wann die Karasu hier auftauchen werden. Außerdem benötigt es viel mehr Zeit, diesen Plan in die Tat umzusetzen."
Ich nickte schicksalsergeben.
Nyoko hob mich kurzerhand hoch und wandte sich zum Gehen.
Ich drehte den Kopf und murmelte noch ein schnelles:
"Danke.", dann war Nyoko schon aus der Tür verschwunden, natürlich zusammen mit mir.
"Bedankst du dich eigentlich jemals für Hilfe?!", fragte ich erbost.
Sie schüttelte den Kopf.
"Wozu? Die Menschen bedanken sich nie für die großen Dinge, sind nie froh, dass sie noch am Leben sind und schätzen es nie, dass ihnen kein großes Leid widerfahren ist. Dass wir uns hier helfen, sollte selbstverständlich sein. So selbstverständlich, dass man sich nicht zu bedanken brauchte. Bedanken mag meine Höflichkeitssache sein, aber wenn man nicht mehr in der Lage ist, sich für die großen Dinge zu bedanken, warum sollte man es dann für die Kleinen tun?"
Überrascht schwieg ich.
Sie war wirklich außergewöhnlich. Dass sie so tiefgründig denken würde, sich über solche
Kleinigkeiten so viele Gedanken machte, hätte ich nie von ihr gedacht. Allerdings hätte ich nichts von ihr gedacht, was sie bisher getan hatte. Und fort war mein Vorsatz, mir nichts anmerken zu lassen und versuchen, die Gefühle der anderen Menschen lesen zu können.
Verärgert schüttelte ich den Kopf. Durchhaltevermögen schien wirklich nicht meine Stärke zu sein. Trotzdem würde ich es versuchen. Und zwar immer und immer wieder. Der Tag neigte sich dem Abend zu, doch Nyoko schien ja nicht die Absicht zu haben, das Training für heute sein zu lassen.
Ich runzelte die Stirn.
Ob es wohl eine so gute Idee war, nachts noch zu trainieren? Besonders, da sie Bären erwähnt hatte? Und unsere verheilenden Verletzungen schienen ihr auch egal zu sein. Doch wenn ich eines von ihr gelernt hatte, dann, dass ich ihre Entscheidungen niemals infrage stellen sollte. Wenn sie davon ausging, dass wir nicht angegriffen werden würden, dass wir ungestört trainieren konnten und dass das Training unsere Verletzungen nicht überstrapazieren würde, dann würde das auch so sein. Oder zumindest würde sie dafür sorgen.
Bald kamen wir wieder bei der Lichtung an und Nyoko setzte mich auf dem Boden ab.
"Dieses Mal machen wir es auf die normale Art. Keine Aufwärmübungen durch die Verwandlung in Tiergestalten. Das ist zu gefährlich."
Ich sollte kleine Felsbrocken heben und durch die verschiedensten Verrenkungen, von denen meine linke Schulter und mein linker Fuß ausgeschlossen waren, alle Muskeln aufwärmen, also nicht anders, als ich erwartet hatte. Allerdings war ich danach erschöpfter, als ich es gehofft hatte. Da wies sie mich an, dass ich einen kleinen Baum von hinten mit den Armen umklammern sollte, was schon ziemlich schwierig war und diesmal ignorierte sie meine Verletzungen. Das zog in den Muskeln und ich war sowieso schon von den Dehnübungen erschöpft, doch ich beschwerte mich nicht.
Das änderte sich jedoch, als ich merkte, was sie vorhatte. Zuerst wies sie mich an, dem Baum höher zu umklammern. Dann nahm sie meine Beine, die bis jetzt ausgestreckt vor mir gelegen hatten und legte sie so herum dass sich auf den Knien stand, die Unterschenkel in Richtung des Baumes gerichtet. Dann stellte sie sich hinter den Baum und zog langsam, aber bestimmt meine Füße zurück, sodass ich ein immer stärkeres Hohlkreuz bildete. Die Beine, die immer noch angewinkelt waren, berührten nun fast meinen Rücken.
Ich hatte zwar zugestimmt, dass sie mir bei meiner Gelenkigkeit half, damit ich mich an die schwierigeren Sachen wagen konnte, aber das ging zu weit.
Ich schrie wie am Spieß, da mir ein solcher Schmerz durch den Rücken, die Schultern und durch die Beine raste, dass sich kaum noch etwas anderes wahrnahm, verstärkt durch unsere Kampfverletzungen.
Reflexartig ließ ich den Baum los und konnte gerade noch durch meine ausgestreckten Arme verhindern, dass ich mit dem Gesicht voran in die Wiese fiel. Das Gefühl, dass der Schmerz nachließ war so himmlisch, dass sich für einen kurzen Moment Nyoko's vorherige Worte verstand. Uns war gar nicht bewusst, dass wir uns glücklich schätzen konnten, dass wir keine Schmerzen hatten, wir nahmen es als selbstverständlich hin.
Da bekam ich eine so schallende Ohrfeige, dass ich Lichtpunkte vor meinen geschlossenen Augen sah.
Ich blickte auf.
Nyoko stand vor mir, die Hand immer noch erhoben und rot von der Wucht des Schlages.
Ich konnte nicht glauben, was sich in ihren Augen sah:
Wut war verständlich, aber ich sah auch Trauer, Enttäuschung und natürlich Wut, aber viel mehr, als ich vermutet hätte. Sogar Mordlust stand ihr für eine Sekunde in den Augen. Allerdings war diese am Schnellsten wieder verschwunden. Trotzdem sah man ihr deutlich an, wie sehr sie um ihre Fassung rang.
"Schwächling!"
Feuer brannte in ihren Augen, als sie das sagte.
In der nächsten Sekunde erlosch das Feuer in ihren Augen und sie schlug die Hände vors Gesicht.
"Oh mein Gott, was habe ich-
Was für eine nette Reaktion. Naja, wenigstens bereute sie es oder tat zumindest so. Ob es gespielt war, oder nicht, wusste ich nicht. Es war aber auch nicht wichtig. Ich musste mit ihr auskommen, ob sie mich nun als Schwächling bezeichnete oder nicht. Es gab schlimmere Dinge.
"Was jetzt?"
Meine Stimme war emotionslos, kalt genug, dass sie überrascht die Hände von ihrem Gesicht nahm.
"Seit wann zeigst du eigentlich deine Emotionen so deutlich? Bist etwa schwanger oder was?"
Ich lachte hohl.
"Können wir jetzt mit dem Training weitermachen? Zumindest wenn du jetzt nicht mehr vorhast, mich umzubringen."
"Natürlich und natürlich nicht."
Diesmal konnte ich mein Grinsen nicht verkneifen. Die alte Nyoko war endlich wieder da.
"Wir werden Gelenkigkeit und Stärke zusammen trainieren, sonst verlieren wir doch zu viel Zeit."
Ich nickte.
Sie hob mich auf ihre Arme, was so etwas wie eine neue Angewohnheit zu sein schien und sprang mit mir auf den untersten Ast dieses Baumes.
Sie setzte mich ab und ich klammerte mich verzweifelt am Baumstamm fest, während sie sich seelenruhig näher an die Astspitze setzte. Sie packte meinen linken Arm und entfernte den Verband. Es war nur noch eine leichte Rötung zu sehen, doch sonst war alles nahtlos verheilt und sah aus wie vorher. Dasselbe war bei meinem Fuß der Fall.
"Du wirst zwar Schmerzen haben, aber das nur, weil du nicht an diese Übung gewöhnt bist und nicht, weil die Verletzungen dir zu schaffen machen."
Ich schüttelte verwundert den Kopf.
Wie machte Izanami das nur?
"Zuallererst brauchst du wenigstens einen Hauch von Balance, sonst bist du verloren. Lass den Baumstamm los.", fuhr Nyoko fort.
Wütend blitzte ich sie an.
"Schon vergessen, dass ich keinen Gleichgewichtssinn, oder zumindest fast keinen habe?!"
"Ich sagte es schon einmal:
Man kann alles trainieren, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Mag sein, dass du, zumindest zuerst, einer derjenigen sein wirst, bei denen man es weniger trainieren kann, aber auch da gibt es Überraschungen. Jetzt versuche es."
Ich klammerte meine Beine so gut es ging an dem Ast fest und erst da wurde mir bewusst, dass ich mich in der Luft befand. Naja, zumindest fast.
Ich fing an zu zittern und meine Hände durchzuckte dasselbe Gefühl, wie wenn ich ahnte, dass ich gleich fallen würde. Ein schreckliches Gefühl.
Obwohl ich meinem Gehirn befahl, loszulassen, rührten sich meine Hände kein Stück.
"Nicht nach unten sehen. Das macht das Ganze noch schlimmer. Vielleicht solltest du dir einfach vorstellen, du könntest fliegen."
Es ist alles nur in deinem Kopf, nichts weiter. Du kannst das, genauso wie du's kannst, ein paar Schritte ohne deinen Gehwagen zu laufen. Los, mach schon!
Langsam wurde ich wütend. Wütend auf mich selbst. Ich bekam gar nichts auf die Reihe! Energisch riss ich meine Arme von dem Baumstamm. Ich würde nicht fallen! Und selbst wenn, ich wusste, dass mich meine eigenen Reflexe retten würden. Entweder, indem sie dafür sagten, dass ich mich in ein Tier verwandelte oder dass mich meine Magie beschützte. Und selbst wenn es diese Reflexe nicht gab, würde mir immer noch Nyoko helfen. Ich würde nicht fallen. Es funktionierte. Ich fühlte mich viel entspannter, nach einer Weile konnte diese Position sogar genießen. Jetzt fühlte ich mich wahrlich wie ein 'normaler Mensch', also ein Mensch, der nicht von seiner Gehbehinderung beeinträchtigt war, in diesen ganzen Fantasy Filmen, die einfach mal auf die Bäume kletterten.
Ich streckte mich und atmete tief ein, plötzlich total tiefentspannt. Doch diese Entspannung hielt nicht lange an.
Ich sah noch kurz Überraschung in Nyoko's Augen aufblitzen dann sagte sie:
"Tja, du scheinst ja keine Probleme zu haben. Dann können wir weitermachen."
Ich hatte zwar keine Angst, aber Entspannung war nicht mehr da. Was würde sie jetzt von mir verlangen?
"Häng' dich jetzt einfach kopfüber vom Ast, so das du dich nur noch mit deinen Beinen festhältst."
Erschrocken riss sich die Augen auf.
Konnte es noch schlimmer werden? Stand mir etwa 'dämlich' über die ganze Stirn geschrieben?! Offensichtlich! Doch ich riss mich zusammen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! So war doch das Sprichwort, oder?
"Gibt es irgendeine Vereinbarung, dass ich aufhören kann, wenn mich meine Beine nicht mehr halten, oder soll ich dann einfach wie ein Stein vom Baum fallen?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Nein. Wenn du nicht mehr kannst, musst du dich eben wieder von selbst auf den Ast setzen. Deswegen würde ich dir empfehlen, wenn das 'wieder auf den Ast setzen' noch nicht so schnell und einfach funktioniert, du noch nicht kopfüber hängen solltest, bist du nicht mehr kannst. Aber versuche, dich zu verbessern."
Ich stand nur ein Haar breit davon entfernt, auszurasten, doch ich hütete meine Zunge. Viel konnte ja nicht passieren, ich befand mich ja nur ein paar Meter über dem Boden. Also ergab ich mich meinem Schicksal.
Einerseits aus Angst, Ehrfurcht und Furcht, andererseits, aus Wut, Entschlossenheit und um meine Ehre wenigstens ein bisschen zu bewahren. Ich wollte gut auf diesen Kampf vorbereitet sein und nicht wie der letzte Versager dastehen. Mag man mich eitel nennen, doch in der Sekunde war es mir egal. Ich dachte nicht groß darüber nach, umklammerte den Ast mit den Beinen und ließ mich einfach zur Seite fallen. Das Gefühl war beängstigend und berauschend, als die Entscheidung, ob ich fallen oder hängen bleiben würde, nur noch an meinen Beinen hing. Ich war zwar zuvor noch nie in einer Achterbahn, aber so ungefähr musste sie sich anfühlen. Es zog unheimlich in den Unterschenkeln und die ineinander verschränkten Beine konnten jederzeit auseinandergleiten, doch ich hatte seltsamerweise keine Angst.
Ich öffnete die Augen und sah als allererstes die Wiese mit dem vielen Löwenzahn, von denen sich einige schon einen Pusteblumen verwandelten.
Ich streckte meine Arme aus, doch es fehlten immer noch mindestens zwei Hände, um den Boden zu erreichen. Da blickte ich gerade aus, soweit man das geradeaus nennen konnte und sah in Nyoko's rote Augen.
"Gar nicht so schlimm, oder?"
Sie lächelte und ich lächelte zurück.
Dann verschwand ihr Lächeln plötzlich, doch es schien mal ausnahmsweise nichts mit mir zu tun haben.
Ihr Blick wurde glasig, als sähe sie durch mich hindurch und ein trauriges Lächeln umspielte für den Bruchteil einer Sekunde ihre Lippen.
Dann wurden ihre Augen wieder klar und sie sagte:
"Jetzt kommt der schwierigste Teil; nämlich wieder hoch."
Ich versuchte es, doch meine Bauchmuskulatur war schon immer miserabel gewesen.
Das euphorische Gefühl, dass sich bei dem kopfüber hängen gehabt hatte, verschwand sofort. Erneut versuchte ich es, mit einem verbissenen Gesichtsausdruck, den ich leider nicht verbergen konnte. Ich würde nicht aufgeben, aber glücklich über meine Schwäche war ich nicht. Ich streckte meine Hände dem Ast entgegen, doch ich erreichte ihn nicht. Da spürte ich, wie meine Beine nachzulassen schienen und ich bekam Panik. Ich hasste es zu fallen! Aber ich war zu schwach, um mich wieder auf den rettenden Ast zu ziehen. Ich wollte weinen, doch ich unterdrückte diesen Impuls. Ich war kein Baby mehr, ich konnte mich verteidigen, sowohl mit Worten, als auch mit dem Bogen!
Ein erneuter Versuch, diesmal steckte er voller Wut, Angst, Furcht, Verzweiflung und Scham. Und wieder scheiterte er.
Wütend schüttelte ich den Kopf.
Ich durfte mich nicht so sehr von meinen Gefühlen leiten lassen! Es musste auch ohne Beteiligung der Gefühle möglich sein, sich selbst zu helfen.
Einmal atmete ich tief durch, der Geruch von Erde, Leben und der ganzen Natur durchströmte mich und gab mir neue Kraft.
Ich werde nicht fallen.
Ich krümmte mich erneut. Und als ich den Ast fast erreichte, spürte ich, dass sich einen bestimmten Muskelbereich bis jetzt völlig ignoriert hatte. Einen, von dem ich vorher noch nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Ich spannte diese Muskeln an und sie protestierten schmerzhaft, doch ich ignorierte sie. Daran würde ich mich gewöhnen müssen, daran meine Grenzen zu überschreiten. Ich berührte den Ast mit den Fingerspitzen und meine Muskeln drohten vor Erleichterung nachzugeben.
Nein! Das werdet ihr ganz bestimmt nicht tun! Ich gehöre der Organisation der Neko an, ich bin eine Kämpferin, eine Magierin, ich werde das hier durchstehen! Das ist nichts!
Entschlossen zog ich mich weiter hoch und umfasste mit meinen Armen den Ast.
Der Rest war vergleichsweise einfach, wenn auch nicht zu einfach.
"Respekt kann man jetzt zwar nicht unbedingt sagen, aber immerhin bist du nicht runter gefallen. Ich hatte damit gerechnet, dich von Boden aufsammeln zu müssen."
Ich nickte, denn ich verstand ihre Reaktion.
Immer und immer wieder versuchte ich es und ignorierte meine Schmerzen, denn ich wollte Nyoko nicht erneut enttäuschen. Mitgezählt hatte ich nicht, aber ich wurde jedes Mal etwas besser. Auch konnte ich jetzt länger über Kopf hängen, da ich meine Kraft besser einschätzen konnte. Der einzige Grund, warum die Abstände wieder kürzer wurden, war, dass ich irgendwann keine Kraft mehr in den Beinen hatte oder zumindest nur noch ganz wenig. Sogar auf ihrem Gesicht zeichnete sich jetzt ein Lächeln ab.
Das erste zufriedene Lächeln, was ich von ihr gesehen hatte.
"Wir machen Schluss für heute. Zumindest damit."
Meine Muskeln schmerzten furchtbar, aber ich war begierig, was das Nächste sein würde. Wenn ich so erwartungsvoll war, waren die Schmerzen offenbar eindeutig noch auszuhalten.
"Wie kommst du eigentlich den Baum runter, ohne dich zu verletzen?"
"Vorzugsweise, in dem ich mich abrolle. Aber mit dir auf den Armen, ist es nicht ganz so einfach. Man muss einfach den besten Punkt finden, der meisten aushält. Besser kann ich es nicht erklären."
Sie sprang vom Baum und ging tiefer in den Wald. Inzwischen nervte es mich, dass sie mich immer durch die Gegend trug wie ein Baby.
"Sag' mal, wann werdet ihr den Gehwagen anfertigen? Ich würde ihn gerne endlich benutzen."
Ein kaum merkliches Zögern ging durch Nyoko.
Dann holte sie tief Luft und sagte:
"So ungern ich das auch sage, aber das ist nicht möglich."
"Wie bitte?! Wie soll ich dann alleine durch die Gegend laufen?!"
Sie seufzte.
"Ich kann es nun einmal nicht ändern. Willst du wissen, wieso es nicht geht?"
"Natürlich!"
"Es ist nur eine Vermutung, aber ich glaube, dass eine magische Kuppel über diesem Gebiet liegt und dass diese magische Kuppel die Zeit zurückgedreht hat. Deswegen sind hier auch keine 'moderneren Leute' und auch keine Schnellzüge. Das würde erklären, warum es nicht möglich ist, eine modernere Erfindung, wie zum Beispiel das Maschinengewehr oder eben deinen Gehwagen hier zu transportieren. Immer wenn wir so etwas versuchen, verwandelt es sich in eine ältere Erfindung. Das Maschinengewehr zum Beispiel in eine der ersten Pistolen, die so gut wie unnütz für einen Kampf sind. Und den Gehwagen in Stöcker, die wohl Krücken darstellen sollen. Kannst du mit Krücken gehen?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Nur mit Krücken, die vier Beine haben. Vierpunktkrücken. Aber das hört sich nach Krücken mit nur einem Bein an, also nein."
Nyoko nickte.
"Das hatte ich bereits vermutet und darum wirst du auf einem Pferd reiten."
"Ich?! Ein Pferd?! Wollt ihr das arme Pferd etwa umbringen?!"
Sie lachte auf.
Ich stutze.
Das war das erste Mal gewesen, dass ich sie Lachen gehört hatte. Es klang hell und leicht, wie ein Windhauch und zögerlich, als ob sie nur sehr selten lachte und deshalb nicht genau wüsste, wie das ging.
"Du wirst es schon nicht umbringen. Es ist ein Pferd und keine Porzellanpuppe. Außerdem ich bin mir ziemlich sicher, dass du es nicht mit Absicht leiden lassen wirst."
Erst dann entdeckte ich das Pferd, was vor uns stand. Genauer gesagt, war es eine weiße Stute. Wunderschön, majestätisch und stolz warf sie ihre Mähne zurück.
"So ein majestätisches Pferd? Und das soll mir gehören?"
Nyoko nickte erneut.
Sie setzte mich auf dem Pferd ab, und es da bemerkte ich, dass das Pferd keine Zügel und keinen Sattel anhatte.
"Ich soll die Stute ohne jegliches Geschirr reiten?! Ich bin zwar schon mal auf einem Pferd geritten, aber ein Profi bin ich ganz sicher nicht!"
Ängstlich klammerte ich mich an ihrer Mähne fest.
Die Stute schnaubte nervös.
Aus Reflex wollte ich in ihren Geist eintauchen, um sie zu beruhigen und genau das geschah, bevor mir bewusst wurde, was ich getan hatte.
"Hallo?"
"Wer sein da?"
"Ich bin Majikku, deine neue Besitzerin. Und wie ist dein Name?"
"Name von Ayita sein Ayita."
Ich wunderte mich, über die Ausdrucksweise dieser Stute und auch darüber, wie sie zu denken schien. Es war ganz anders, als der Geist eines Menschen. Eine ganz neue Erfahrung.
"Schön dich kennen zu lernen. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit."
Nyoko schaute mit ihren roten Augen zu mir auf.
"Und? Wie heißt die Stute?"
"Ayita. Sie heißt Ayita."
"Ein schöner Name. Wie bist du darauf gekommen?"
Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch.
"Ich bin nicht darauf gekommen. Sie hieß schon vorher so und ich habe nicht vor, ihren Namen zu ändern."
Nun war es an Nyoko, überrascht zu sein.
"Du kannst mit Tieren reden?"
Ich zuckte mit den Schultern.
"Offensichtlich ja."
"Und ich soll jetzt also das Reiten lernen, ja?"
Nyoko grinste.
"Wie ich sehe, lernst du dazu."
Ich lachte.
Ich war froh, dass sie mir ihre Emotionen so offen zeigte. Nicht, weil ich Macht über sie wollte, nicht, weil ich wissen wollte, wie es war, die Gedanken von anderen zu lesen, sondern, weil ich froh war, dass sie sich mir so offen zeigte.
"Willst du meine Freundin sein?", fragte ich sie, bevor ich mir bewusst war, was ich da tat.
Ihre Augen weiteten sich und dann sagte sie:
"Nur zu gerne. Du bist die erste Person, die mich das gefragt hat."
Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
Das konnte nicht wahr sein. Sie?! Niemals. Sie war eine so nette, aber auch konsequente Frau. Wie konnte man sie nicht mögen und wie konnte man sie nicht fragen ob sie die Freundin von irgendwem sein konnte?
Dann schüttelte ich jedoch den Kopf, diesmal aus Unmut mir selbst gegenüber. Was gingen mich schon ihre Angelegenheiten an, solange wir uns noch kaum kannten?! Ich sollte mich weiter meinem Training widmen.
"Also, wie kann ich lernen, sie zu reiten?"
Plötzlich spürte ich erneut dieses Gefühl, als ob Ameisen in meinem Kopf wohnten.
Blitzschnell schloss ich die Augen und sah mich in meinem Geist um. Ich sah sie nicht, aber ich spürte sie.
Ayita, die stolze Stute.
"Nichts zu lernen gibt es. Ich einfach gehorchen werde und gleichzeitig ich dich einfach führen werde. Ich dich unterstützen und beschützen werde, wir Herrin und Untergebene zugleich sein werden, wir ebenbürtig und nicht ebenbürtig sein werden."
"Tatsächlich, ja? Das freut mich zu hören, denn mir behagt es nicht, eine so stolze Stute mir unterzuordnen."
Ich hörte Ayita schnauben, ob es Unglaube oder ein Lachen war, das wusste ich nicht.
"Ich bin froh, dass es so einfach ist. Ich sage nicht, dass du einfach bist, sondern, dass ich froh bin, wie schon gesagt dass ich dich nicht mir unterordnen muss."
Dann öffnete ich die Augen.
"Laut Ayita, brauche ich nichts zu lernen. Und ich vertraue ihr."
Nyoko kam aus ihrem Staunen gar nicht mehr heraus und ihre roten Augen schienen immer größer zu werden.
Ich hörte sie noch flüstern:
"Du bist eindeutig der Prophezeiung würdig..."
Ich tat, als hätte ich nichts gehört, denn ich wollte eine weitere Diskussion vermeiden.
Plötzlich war ich voller Abenteuerlust.
"Dürfen wir eine Runde reiten gehen? Bitte?"
Nyoko zögerte einen Moment, dann sagte sie:
"Unter einer Bedingung."
Sie pfiff mit ihren Fingern und ein schwarzer Hengst erschien.
"Ich reite mit dir. Bei deinem ersten Ritt möchte ich nicht riskieren, dass du von der Stute fällst und ich nicht bei dir bin."
Ich wollte protestieren, doch sie unterband mit einer scharfen Geste jeden Protest.
Ergeben seufzte ich.
"Natürlich, Herrin.", doch ich schmunzelte.
Ich klopfte leicht auf Ayita's Hals und sagte:
"Führ' du uns, ja?"
Obwohl ich nicht durch die Gedankensprache mit ihr kommunizierte, schien sie mich verstanden zu haben, denn sie trabte in Richtung Wald los. Da ich mich gut mit Ayita verstand und so kein Reitunterricht nötig war, gab Nyoko mir andere Lektionen, wie ich meine Gelenkigkeit und meine Stärke verbessern konnte.
Ich hörte geduldig zu, denn ich wusste ja nicht, wann und wie schnell ich es gebrauchen würde.
Die Sonne ging auf, als sie für's Erste mit ihren Lektionen fertig und zufrieden war, durch die Abfragen die sie mir erteilte.
"Wir sollten uns schlafen legen, wenn wir morgen vor Mittag aufstehen wollen."
Ich nickte zustimmend, denn die Müdigkeit übermannte mich und meine Muskeln schmerzten immer mehr. Also bat ich Ayita, umzukehren und kurz darauf erreichten wir das Baumhaus.
"Ich frage mich, wie ich allein auf das Pferd und von dem Pferd herunterkommen soll."
Bevor mir Nyoko auch nur etwas sagen konnte, kniete Ayita nieder, sodass ich nur noch mein eines Bein rüber schwingen musste, etwas runterrutschen musste und an Ayita gelehnt auf dem Boden stand. Jetzt musste ich nur noch nach dem Geländer greifen, was ich logischerweise auch tat.
Freudestrahlend drehte ich mich um und sagte:
"Danke, Ayita!"
"Du nur fragen musst."
"Ich habe schon verstanden. Ich bin sehr froh, dass du mein Pferd bist."
Dann zog ich mich am Geländer die Treppen hoch und ging bis nach oben zum Baumhaus.
Ich stand vor dem Eingang, ließ mich auf die Knie fallen und krabbelte zu einem der Kissen. Dort setzte ich mich im Schneidersitz hin, auch wenn es wie wahnsinnig in den Beinen zog. Nyoko gab mir den Korb und ich suchte mir von den Wurzeln und Beeren die aus, die so aussahen, als würden sie schmecken.
Sie überraschten mich:
Sie waren süß, sauer, bitter, salzig, zäh, bröselig und noch vieles mehr.
Eine solche Vielfalt hatte ich nicht erwartet. Nach dem Essen dankte ich Nyoko und legte mich auf den Kissen schlafen. Ich war müder, als ich gedacht hatte.
Die Müdigkeit übermannte mich wie eine schwarze Welle, doch ich war zufrieden mit mir.
Die nächsten Tage verliefen in einem ähnlichen Muster:
Ich machte Übungen, die meine Muskeln dehnbarer und stärker machten, es gab Momente, in denen ich aufgeben wollte und heulend zusammenbrach und es gab Momente, in denen ich hoch motiviert und entschlossen eine Übung nach der nächsten machte. Genauso oft machte ich einen Ausritt mit Ayita, sodass wir uns bald auch nur durch das 'Senden' von Gefühlen verstanden. Wir mussten keine ganzen Sätze mehr sagen, um zu wissen was der andere wollte und dachte, auch wenn ihre Art, sich auszudrücken, für meinen Geist immer noch nicht selbstverständlich war. Ebenso gut verstanden wir die Körpersprache des anderen. Allerdings musste ich immer noch die Augen schließen und mit meinem Geist den ihren suchen, wenn ich über die Gedankensprache mit ihr reden wollte.
So vergingen die zwei Wochen wie im Flug.
Bald würden wir, das wusste ich, zurück zur Organisation gehen, um meine Fortschritte zu melden. Wir ritten mal wieder aus, mir war inzwischen gar nicht bewusst, dass sich ohne Sattel und Zügel ritt und Nyoko wusste nichts von diesem Ausritt. Ich konnte allein auf Ayita's Rücken steigen, denn sie legte sich ja für mich hin. Auch bemerkte ich nicht, dass sich stärker und wendiger geworden war, denn man merkte ja auch nicht, dass man wuchs, da man sich jeden Tag sah.
Ich genoss den Wind in meinen Haaren und den Geruch des Waldes, als ich ein Flüstern hörte. Nein, es war eher ein Wispern, so leise und nebensächlich, dass ich es fast nicht bemerkt hätte. Nur das geflüsterte Wort 'hört', was ich geglaubt hatte zu hören, ließ Ayita, auf meinen unausgesprochenen Wunsch, wobei ich kurz die Augen schließen musste, innehalten.
Ich lauschte, doch die Stimme war verschwunden.
Verärgert schüttelte ich den Kopf und wollte umdrehen, doch Ayita rührte sich nicht.
Stirnrunzelnd schloss ich erneut die Augen.
"Ayita?"
"Lausche."
Da hörte ich die Stimme wieder:
Sie war leise, fast nicht zu hören und doch war sie da. Sie war ähnlich wie die Gedankensprache, doch ich wusste, dass sie nicht in meinem Kopf, sondern überall zu hören war. Die Stimme klang, als gehöre sie dem Wind, dem Wald, den Gewässern und den Bergen, ja sie klang beinahe allmächtig.
Und das was sie sagte, ließ mich vor Angst erstarren:
"Der Krähenbote bringt der Raubkatze eine Nachricht, so düster und schwarz wie sein Flügel..."
Ayita musste gespürt haben, dass sich diese Nachricht sehr wichtig für mich anhörte, denn sie riss den Kopf herum, bäumte sich auf und galoppierte zurück zur Lichtung.
Immer noch war ich geschockt von der Nachricht, da sie vor Unheil nur so triefte. Ich ritt erst zum zweiten Mal mit Ayita Galopp, das erste Mal war nur ein Test gewesen, doch überraschenderweise konnte ich mich auf ihr halten.
Plötzlich legte sie eine Vollbremsung ein und ich konnte mich nur mit Mühe auf ihrem vor schweißnassen Rücken halten.
Ich klopfte ihr auf den Hals und sagte:
"Gut gemacht Ayita. Du bist die beste Stute, die man sich wünschen kann."
Da erschien Nyoko mit wütenden und entsetzten Gesichtsausdruck.
"Was hast du dir dabei gedacht, ganz alleine einen Ausritt zu machen?! Dir hätte wer weiß was passieren können! Du hättest...-
"Ja, ich weiß, Nyoko! Aber Moment gibt es wichtigere Dinge als das!"
"Wichtigere Dinge als dein Wohlergehen?"
"Natürlich!"
Ich schnaubte verärgert.
Ich sagte, immer noch missgelaunt:
"'Der Krähenbote bringt der Raubkatze eine Nachricht, so düster und schwarz wie sein Flügel...' Ich weiß ja nicht wie sich das für dich anhört, aber für mich klingt es so, als würde jeden Moment ein Bote der Karasu bei den Neko auftauchen! Und laut dieser Stimme, scheint diese Nachricht alles andere als eine Einladung für ein Kaffeekränzchen zu sein!"
Ihre Augen weiteten sich.
Dann runzelte sie die Stirn und fragte:
"Woher weißt du das eigentlich? Wer dir das gesagt?"
"Mir hat das niemand gesagt! Das war eine Nachricht, die an alle bestimmt war und nicht nur an mich!"
Sie kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
"Ja, aber wer hat es denn gesagt?"
"Ich weiß es nicht! Wichtig ist nur, dass wir jetzt so schnell wie möglich dorthin müssen!"
Sie nickte, wenn auch etwas widerwillig, pfiff mit ihren Fingern und ihr schwarzer Hengst, der übrigens Linus hieß, erschien mit wehender Mähne. Nyoko schwang sich ohne zu zögern auf seinen Rücken und lenkte ihn in eine bestimmte Richtung. Ayita folgte ihm auf meinen unausgesprochenen Wunsch, was mich wieder einen Moment kostete, indem ich die Augen schloss.
Durch die Geschwindigkeit unserer Pferde erreichten wir die massive Felswand am späten Nachmittag. Es war Mittag gewesen, als wir überstürzt von der Lichtung aufgebrochen waren. Ihr Hengst und meine Stute legten eine so spontane Vollbremsung ein, dass sie sich aufbäumten.
Aadil erschien, mit vor Schreck weiteten Augen.
"Was ist passiert?! Ihr seht aus, als hättet ihr einen Geist gesehen! Und du, Majikku, seit wann kannst du auf einem Pferd reiten? Ist das Teil des Trainings gewesen?"
"Ist der Bote schon eingetroffen?", riefen wir wie aus einem Mund und ignorierten seine Fragen.
Aadil runzelte die Stirn.
"Welcher Bote?! Und was für eine Nachricht sollte er denn bitteschön bringen, von der ihr schon vorher wisst?"
"Ein Bote der Karasu! Ist er noch nicht eingetroffen?!", fragte ich.
Die Augen des Anführers weiteten sich.
Plötzlich unterbrach eine nur allzu bekannte Stimme meinen Wortschwall:
"Zu schade... Ich hatte gehofft, ich würde für ein wenig Überraschung sorgen..."
Zusammen mit Ayita, die diesmal merkwürdigerweise genau wusste, was ich wollte, wirbelte ich herum.
"Taurus!", zischte ich, meine Stimme voller Hass und Verachtung.
Seine glühend weißen Augen schienen so etwas wie Überraschung auszustrahlen.
"Du?! Solltest du nicht in einer Taube eingesperrt sein? Und was suchst du hier?! Jetzt bist du ja wieder von Nutzen!"
Taurus lachte.
Das wird den Sensei freuen! Am besten ich nehme dich gleich mit."
Ich brauste auf:
"Moment mal! Wozu bist du eigentlich hergekommen?!"
"Ach ja,", er winkte ab.
Dann wandte er sich zu Aadil und ich sah Wut in seinen Augen aufblitzen:
"Aadil! Gib uns das Kind zurück, was ihr vor neun Jahren gestohlen habt, dann werde ich in Frieden wieder ziehen!"
"Wie oft noch?! Wir haben kein Kind gestohlen!"
Taurus' Miene verdüsterte sich.
"Tja, ich fürchte dann muss ich euch den Krieg erklären! Wir werden hier einmarschieren und uns nehmen was ihr uns gestohlen habt, mit oder ohne eure Zustimmung! Das bedeutet Krieg!"
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So, das ist jetzt schon das elfte Kapitel! Ich hoffe es gefällt Euch und ich hoffe auf aufschlussreiche Kommentare! Bis zum zwölften Kapitel!
Eure janine0010
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