9.Kapitel

Lillith bringt mir tatsächlich meinen Rucksack. Ich könnte vor Freude jubeln, als das graue Ungetüm, das mich durch so viele Abenteuer begleitet hat, wieder vor mir auf dem Kieselstrand liegt. Es ist als hätte ich einen alten Freund wieder.

,,Na, Alter!" Flüsternd beuge ich mich über die Schnalle und ziehe sie auf. ,,Dann wollen wir doch mal sehen..."

Es ist alles noch drinnen. Mein Herz überschlägt sich vor Freude und Erleichterung. Mit zitternden Händen nehme ich eine Sache nach der anderen heraus. Meinen Laptop, in der etwas verschlissenen roten Hülle, einen Plastikbeutel mit Hygiene Artikeln, ein paar warme Klamotten. Da mein Rucksack, wie fast alles was ich besitze, wasserfest ist, ist der Inhalt trocken geblieben.

Ich muss an das Hemd denken, das Lillith nun anhat. Meine Mutter hatte darauf bestanden, dass ich etwas Anständiges mitnahm, wenn ich von früh bis spät von renommierten Wissenschaftlern umgeben sein würde. Deshalb hatte ich das einzige schicke Hemd mitgenommen, was ich besitze, und es, gleich als ich meine Kabine bezogen habe, an einen Bügel in den Schrank gehangen, damit es auch ja keine Falten bekam. Allerdings habe ich es kein einziges Mal angehabt, da die renommierten Wissenschaftler, wie sich herausstellte, an Bord hauptsächlich in Pyjamas und dicken Pullovern herumspazierten, und nicht etwa in Hemden und Anzügen.

Bis auf das eine schicke Hemd habe ich meine anderen Klamotten alle im Rucksack gelassen - Zum Glück, wie sich jetzt herausstellt. Zitternd streife ich mir mein T-shirt vom Leib und ziehe mir wahllos schichtenweise Klamotten über den Kopf. Ein Shirt, einen Pullover, noch einen Pullover und schließlich noch meinen Hoodie, wo der Name meiner Universität draufsteht. Dann frische Boxershorts, lange dünne Thermohosen und darüber eine Jeans. Endlich ist mir wieder warm. Obwohl, warm ist etwas zu viel gesagt, aber auf jeden Fall kann ich meine Arme und Beine wieder spüren. Hatte schon vergessen, wie sich die Dinger anfühlen. Rasch durchstöbere ich die Außenfächer von meinem Rucksack und finde Pass, Portemonnaie, Schlüsselbund und Notizbuch.

Schon fühle ich mich hoffnungsvoller. Meinen Pass zu haben, meine Kreditkarte und etwas Bargeld, das alles wird mir meine Flucht extrem erleichtern, sobald ich erstmal von der Insel weg bin. Schade, dass ich mein Handy nicht im Rucksack hatte, denke ich. Es war zu dem Zeitpunkt, als das mit den Sirenen passiert ist, in meiner Hosentasche und ist wohl davongespült worden, als Lillith es für eine gute Idee hielt Unterwasser - Abschleppwagen mit meinem bewusstlosen Ich zu spielen. Ich habe zwischendurch ein paarmal hoffungsvoll den Strand abgesucht, in der Hoffung, dass es wie durch ein Wunder doch noch auftaucht, aber Pustekuchen.

Moment... Mein Laptop fällt mir ein. Ich bin ja dumm! Wozu brauch ich ein Handy, wenn ich meinen Laptop habe?

Eifrig klappe ich das Ding auf, drücke die Start - Taste und merke prompt, dass der Akku leer ist. Shit! Was das Aufladen von meinem Laptop anging war ich schon immer nachlässig. Frustriert trete ich gegen die Kiesel! Ob es hier irgendwo Strom gibt? Wohl eher nicht. Die Bewohnerinnen dieser Insel scheinen mit weniger als dem Nötigsten zu leben, Lillith trägt ja oft nichtmal richtige Klamotten.

Lillith...

Sie hat mir vorhin den Rucksack überreicht und ist gleich wieder gegangen, mit der Begründung sie müsse zum Unterricht, worin auch immer dieser bestehen soll. Geographie jedenfalls nicht. Vielleicht Gesangsstunden?

Ich sehe mich in der menschenleeren Bucht um. Jetzt wo ich fertig mit umziehen bin, liegt mir viel daran, dass sie wiederkommt. Sie meinte, sie würde mir noch mehr zu essen und das versprochene Buch mitbringen. Der Himmel weiß, wofür sie denkt, dass ich ein Buch brauche, aber ehrlich gesagt ist mir grade jede Art von Ablenkung recht. Dadurch muss ich nicht daran denken was mit Sue, Patrick, Ming Chen, Boris und den anderen passiert ist.

Meine Augen füllen sich mit Tränen, schon wieder. Es ist nicht fair! Keiner dieser Leute hat es verdient zu sterben. Ich versuche, nicht an ihre Familien zu denken. Nicht an Sues Kinder, Mings Ehefrau, Patricks Freundin Jullietta. Sie wissen von all dem vermutlich noch gar nichts. Wie sollte man ihnen die Todesursache erklären, wenn es so weit ist? Eine Gruppe junger Frauen mit hypnotischen Stimmen, die angeblich Menschen sind, aber mit geheimnisvollen Tiefseewesen zusammenarbeiten, haben das Boot gekentert?!

Wie aufs Stichwort kommt Lillith in meine Sichtweite. Sie läuft wie immer sehr zügig, doch gleichzeitig elegant. Hemd und Haare wehen im Wind. In den Armen hält sie zwei Bücher und ein Bündel aus rotem Stoff. Es ist ein Anblick wie aus einem Film.

Ohne Begrüßung überreicht sie mir beides. ,,Hier. Etwas zu essen und zwei Bücher. Du kannst beide behalten, wenn du möchtest. Die Schatzinsel habe ich noch nicht gelesen, aber ich glaube es ist gut. Harry Potter und die Kammer des Schreckens mag ich sehr gerne."

Ich schaue in das Bündel und erkenne erst jetzt, dass es keins ist sondern einfach nur ein roter Pullover, in den Lillith ein paar Austern und einige Dosen Bohnen eingewickelt hat.

Meine Augen fangen an zu brennen. Ich kenne diesen Pullover. Es ist der Pullover, den Patrick getragen hat, in der letzten Nacht auf dem Boot. In der Nacht in der er starb... Schluchzend und zitternd breche ich zusammen. 

,,Was ist denn?" Lillith fasst meine Schultern. Sie ist ziemlich verwirrt. ,,Magst du keine Austern?"

Ich schüttle den Kopf. Reden kann ich nicht, jedenfalls fühlt es sich nicht so an, doch nach einigen Versuchen bringe ich doch einen Satz hervor, der, wie ich hoffe, meine heftige Reaktion erklärt. ,,Der Pullover... ist von... einem Freund. Vom Boot."

Freund? Eigentlich kannte ich Patrick ja gar nicht. Er war nur ein cooler Typ mit dem ich ein paar Tage zusammen auf einem Boot verbracht habe und der mir sympathisch war. Unser Gespräch während dem aufbauen der Technik war eigentlich das einzige was wir je hatten. Doch auf der anderen Seite hatte ich das Gefühl Patrick zu kennen. Ich wusste wer er war, ich wusste wie er war, und es macht mich fertig, dass er angeblich tot sein soll.

Wie betäubt starre ich immer noch auf den Pullover. Wenn es irgendein anderes Kleidungsstück von ihm gewesen wäre, dann gäbe es vielleicht Hoffnung, aber dieser Pullover war an seinem Körper, in der Nacht, in der das Boot sank. Das ist wirklich der Beweis, dass Patrick tot ist.

,,Oh." Macht Lillith leise und, (bilde ich mir das ein?), betroffen.

Wortlos schlage ich eines der Bücher auf. Ich brauche Ablenkung. Die Schatzinsel lese ich und darunter: von Robert Louis Stevonsson und darunter steht etwas mit Bleistift. Ich runzle die Stirn. Ja wirklich, dort, auf der ersten Seite, in der Handschrift von jemandem, der entweder in Eile war, oder sonst nicht viel zu schreiben scheint, steht ein kleiner Text.

Man nennt mich Lillith. Ich werde gleich zum zweiten Mal die Milch der Sirenen trinken und mein Gedächtnis verlieren. Ich bin die Tochter von jamaikanischen Fischern. Meine beste Freundin ist Maris. Eigentlich heiße ich anders, aber ich weiß nicht mehr wie. Ich lese gerne. Ich möchte die Welt sehen.

Mir stockt der Atem. Ist das was hier steht wahr? Sollte ich es ihr zeigen? Oder kennt sie den Text schon längst? Hat sie mir absichtlich dieses Buch gegeben? Ich horche in mich hinein. Nein. Irgendetwas sagt mir, dass dem nicht so ist. Lillith hat hundertprozentig ehrlich geklungen, als sie sagte, dass sie das Buch selber noch nicht gelesen hat. Und was hätte sie überhaupt davon, mich diese Notiz sehen zu lassen? Sie wirkt privat. Sehr privat.

Ich schaue wieder auf die verschlungenen Sätze. Der Gedanke an Patrick kehrt wieder, doch ich schiebe ihn beiseite. Die Milch der Sirenen... Was soll das sein? Verliert man davon wirklich sein Gedächtnis? Und dann der Part, dass sie die Tochter von jamaikanischen Fischern ist...

Ich betrachte Lillith unauffällig deren lange dünne Finger betreten die Austern aus dem Pullover klauben und ihn zusammenfalten. Die eng gelockten Haare, die tiefschwarzen Augen, der samtbraune Ton ihrer Haut, obwohl diese Insel nie ein Sonnenstrahl zu küssen scheint... Sie sieht tatsächlich aus wie jemand der aus Jamaika stammen könnte. Als Kind war ich mit meinen Eltern ein paar mal da.

Ich räuspere mich. ,,Lillith?"

Sie dreht mir das Gesicht zu. Atmen, James. ,,Hast du das hier geschrieben?" Ich rutsche näher und zeige ihr die Buchseite. Sie keucht auf.

,,Ja, ganz bestimmt," wimmert sie. Ihr Zeigefinger fährt über die Buchstaben, als wolle sie sehen, ob sie verwischen würden. Verschwinden, wie Spuren im Sand bei Wüstenwind. ,,aber ich kann mich nicht mehr dran erinnern!"

Ich frage: ,,Dann hast du wirklich dein Gedächtnis verloren?"

,,Ja, aber das weiß ich ja." Gestresst sieht sie zwischen mir und der Buchseite hin und her. ,,Das ist normal! Das ist immer so, wenn man die Milch trinkt."

Ich frage: ,,Die Milch der Sirenen?"

,,Genau," sagt Lillith, als wäre das selbstverständlich. ,,sie, na ja, hält uns jung. Aber wenn man sie trinkt verliert man leider sein Gedächtnis."

Mir wird schlagartig klar warum Lillith so viele Dinge nicht zu wissen oder zu kennen scheint, inklusive ihres eigenen Alters. Gedächtnisverlust.

,,Wusstest du das vorher? Dass das passieren würde?"

Sie zuckt mit den Schultern. ,,Ich weiß nicht mehr wieviel ich wusste, aber die anderen Frauen sagen es wird kein Geheimnis daraus gemacht wie die Milch wirkt, also muss ich es gewusst haben."

Ich frage: ,,Und wie wirkt also diese Milch?"

,,Sie schmeckt scheußlich und verändert uns von innen nach außen. Sie macht uns weniger menschlich und mehr so wie die Sirenen."

Ich bin baff. ,,Und du wusstest das und hast sie trotzdem getrunken?"

,,Ja. Schon zweimal. Ich, na ja, ich habe nicht so wirklich eine Wahl." Sie reibt sich den Oberschenkel. ,,Anders geht es nicht. Alle von uns hier trinken sie. Das ist einfach die Art wie wir hier leben."

,,Ist diese Milch auch der Grund dafür, dass ihr so singen könnt?" Frage ich vorsichtig. Lillith nickt.
,,Und so lange unter Wasser bleiben?" Sie nickt wieder.

Mir wird einiges klar. Es fühlt sich gut an, irgendeine Form von Erklärung für die mysteriösen Vorkommnisse der letzten Tage zu haben. Aber warum erzählt sie mir das? Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Das ist sehr wertvolles Wissen. Würde die Welt davon erfahren, dann würde das für ganz schönes Chaos sorgen. Mein Herz sinkt mir in den Bauch.

,,Du wirst mich mit diesem Wissen nicht die Insel verlassen werden, oder?" Frage ich Lillith flüsternd.

Sie schüttelt den Kopf. Ihre Augen sind noch immer auf den Bleistift Text gerichtet, als könne sie nicht glauben, dass er echt ist. Auf einmal sieht sie wahnsinnig verloren aus.

,,Dieser Text, das ist meine Handschrift... Ich frage mich wie ich wirklich heiße," murmelt sie. ,,Ich frage mich wo ich herkomme. Wo meine Eltern sind. Bestimmt sind sie tot."

Abrupt steht sie auf. ,,Das tut mir sehr Leid mit dem Pullover," sagt sie plötzlich. ,,Wenn ich das gewusst hätte, dass... Also das er von deinem Freund war, dann hätte ich ihn nicht mitgebracht. Ich wollte nicht, dass du weinst. Ich dachte nur, na ja, du bräuchtest vielleicht warme Kleidung."

,,Ich hatte welche im Rucksack," sage ich abgelenkt. ,,Lillith, was passiert jetzt mit mir?"

Sie schaut mich an und da sind Tränen in ihrem Blick. Ohne ein Wort dreht sie sich um und geht.

,,Antworte mir!" Brülle ich ihr hinterher. Ich habe Angst. Todesangst.

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