8.Kapitel

Ich finde James an der Felswand lehnend vor, wo er aufs Meer hinausschaut. Die Ebbe ist langsam vorbei und nach und nach plätschert das Meer zurück auf feuchten Sand und Steine, wo Muscheln und Seegras es erwarten.

Ich trete näher. Er zuckt leicht zusammen, als er mich entdeckt.

,,Hallo. Ich hab dir was zu essen mitgebracht." Ich versuche so zu lächeln wie er vorhin. Ein ich-bin-harmlos - Lächeln.

,,Danke," sagt er heiser, als ich ihm die Schüssel überreiche. Ich habe auf dem Weg die Dose Bohnen mit einem Stein geöffnet und sie einfach über die Fischssuppe gekippt. Es sieht ziemlich unappetitlich aus und plötzlich schäme ich mich.

,,Ich weiß nicht ob du es magst... Ich kann auch nochmal schauen ob ich was anderes finde."

,,Nein, es ist lecker. Danke." James hat schon die ersten paar Löffel voll verschlungen. Er sieht zu mir auf und lächelt. ,,Setzst du dich zu mir?"

Ich lasse mich neben ihm in die Hocke fallen und falte die Arme um meine Knie. James isst und ich schaue ihm zu. Es scheint ihm wirklich zu schmecken. Ich bin beeindruckt. Wie kann ihm diese Feuerpampe denn nicht den Hals verbrennen? Nach kürzester Zeit ist die Schüssel leer.

Wir schweigen. Ich bemerke, dass er immer wieder auf mein neues Hemd starrt.
,,Das ist schön, oder?" Frage ich, um wenigstens irgendwas zu sagen. ,,Eine Freundin hat es mir grad eben geschenkt."

Er fährt sich sachte mit dem Handrücken über den Mund. ,,Das ist eigentlich meins."

,,Oh." Ich verkrampfe mich. Natürlich! Es ist von dem Boot auf dem auch James drauf war und es war kein sonderlich volles Boot, ich glaube mit nur etwa zehn Leuten ausgestattet. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass Maris mir grade James' Oberteil überreicht hat. Ich hätte lieber das Hemd von irgendeinem Toten getragen. ,,Willst du es wieder?"

Ich mache Anstalten es auszuziehen.

,,Nein!" Die Antwort kommt etwas zu schnell. Er springt auf und fuchtelt abwehrend mit den Händen, nervös lächelnd. ,,Ist schon okay, du kannst es haben. Dir steht es eh besser als mir."

Ich zucke mit den Schultern und setze mich hin. ,,Okay, danke."
Er hat mir etwas überlassen was eigentlich ihm gehört, er hat mir ein Geschenk gemacht, das ist nett, da bedankt man sich.

Still betrachte ich ihn und hoffe, dass er es nicht merkt. Das tut er auch nicht, er blickt aufs Meer hinaus. Er hat blaue Augen. Fast wie Maris, nur schmaler. Wenn er die Stirn runzelt und nachdenkt, so wie jetzt, ist es als würde sich ein Schatten über sie legen.

,,Ihr habt also die Sachen von unserem Boot gefunden, hm?" Fragt er leise. Seine Stimme ist rau. ,,Du weißt wahrscheinlich nicht was mit den Anderen darauf passiert ist, oder?''

Ich seufze. Doch, das weiß ich sehr wohl. Sie sind tot und gefressen. Mir könnte das nicht egaler sein, aber für ihn geht es hier um seine Freunde. Leute, die er kannte, sind tot. Wie bringe ich ihm das am Besten bei? Ich muss fast den Kopf schütteln über meinen Versuch einfühlsam zu einem Mann zu sein. Unser Lied fällt mir ein, unsere Hymne. Lass ihre Schreie dich nicht schwächen.

,,Sie sind tot," sage ich schlicht.

James nickt. Sein Gesichtsausdruck ist gefasst, doch in seinen Augen glitzern Tränen. ,,Alle?"

Ich nicke. Er dreht sich zu mir um. ,,Dann bin ich der Einzige der überlebt hat?"

,,Ja."

Mal sehen für wie lange noch, fährt es mir durch den Kopf. Ich erschrecke. Andererseits ist der Gedanke vollkommen berechtigt. Was soll ich denn sonst mit ihm machen? Als ein Mann, der sich vor unsere Insel verirrt hat, war James nie dazu bestimmt zu überleben. Und wenn die Sirenen herausfinden, dass er es trotzdem getan hat, und zwar wegen mir, dann sind wir beide dran!

,,Lillith," James atmet langsam ein und wieder aus. ,,was genau ist letzte Nacht passiert?"

Ich seufzte. ,,Ich hab dich gerettet," gebe ich zu. ,,Ich habe dir vorgesungen, damit du ohnmächtig wirst, und dich dann hierher gebracht."

,,Weg von den Sirenen?" Flüstert er.

,,Genau." Ich bin milde überrascht. Er hat sich gemerkt was ich vorhin erzählt habe und begreift schnell. Ich wusste doch, dass er einiges an Intelligenz besitzt. Das merkt man schon daran, dass er letzte Nacht diese Dinger in den Ohren hatte, die ihn taub gegenüber unseres Gesangs gemacht haben. Er ist klug. Ihn zu töten wird nicht einfach werden.

,,Warum?"

Ich zucke mit den Schultern und starre aufs Meer hinaus. ,,Ich wollte nicht, dass sie dich fressen."

,,Warum denn?" James sieht mich eindringlich an. Seine Stimme zittert. ,,Warum alle anderen aber mich nicht?"

Ich zucke mit den Schultern. ,,Ich bin in euer Boot getaucht, um mich nach Büchern umzugucken. Du warst auf einmal da und irgendwie wusste ich, dass ich dich nicht einfach so den Sirenen überlassen können würde. Dass das nicht richtig wäre."

James streicht sich langsam durch die Haare, die inzwischen trocken und hellbraun sind. ,,Du hast gesagt ihr wärd Menschen, aber ihr arbeitet mit den Sirenen zusammen...? Und... tötet?"

,,Das ist richtig."

Neugier flimmert in seinem Blick auf. ,,Was sind diese Sirenen bloß für Wesen?"

Ich schaudere. ,,Sie sind furchtbar!" Im Detail beschreibe ich ihm wie diese grässlichen Kreaturen aussehen und was sie tun und was sie fressen. Er hört mir gebannt zu und sieht eher fasziniert aus als angeekelt. ,,Aber ihr seid doch diejenigen die singen..." meint er langsam. ,,Und damit die Leute töten. Wie kann das sein, dass eure Stimmen so eine Wirkung haben? Wie könnt ihr hier überhaupt überleben? Seid ihr wirklich Menschen?"

Ich verschränke die Arme. ,,Warum stellst du auf einmal so viele Fragen?"

So hatte ich mir unser Gespräch, auf dem Weg zur Bucht, nicht vorgestellt. Ich war aufgeregt gewesen, fast zu aufgeregt zum Atmen. Ich hatte mich darauf gefreut mehr über Kanada zu hören, mehr über die große weite Welt.

Er lächelt. Sofort ist seine Stimme ganz weich und freundlich. ,,Tu ich das? Entschuldigung. Ich bin nur neugierig darauf wie ihr hier so lebt."

Ich zucke mit den Schultern. ,,Wir leben gut hier," sage ich schlicht. Das ist das was alle sagen. Wir sind für immer jung, haben die Insel und das Meer ganz für uns, werden von den Sirenen versorgt und brauchen uns vor Einbruch der Dunkelheit um absolut nichts zu kümmern. Außerdem haben wir einander als Gesellschaft und alles was das Meer uns gibt. Ich habe außerdem noch meine Bücher. ,,Kannst du mir jetzt weiter von Kanada erzählen?"

Er sieht mich fast ein wenig belustigt an. ,,Du bist wie Arielle, die Meerjungfrau."

Der Name sagt mir nichts. Ich runzel die Stirn. ,,Wie wer?"

,,Das ist eine Geschichte," erklärt er. ,,Arielle ist ein Mädchen mit Fischschwanz, das unter Wasser lebt und die Welt sehen will. Sie verliebt sich in einen Prinzen und gibt einer Hexe ihre Stimme, damit sie ein Paar Beine bekommt und bei ihrem Prinzen, an Land, sein kann. Am Ende heiratet er trotzdem eine andere." James verstummt.

,,Das klingt traurig," kommentiere ich. ,,Aber hat sie die Welt gesehen?"

Er lässt sich gegen den Felsen zurücksinken. ,,Ich glaube schon. Zumindestens einen Teil davon."

,,Mmh," mache ich. ,,Dann ist sie nicht wirklich so wie ich."

Mein Blick fällt auf James' Handgelenk, das von Haaren bedeckt und fast blaugefroren ist. Verdammt! Mit den Fingerspitzen berühre ich es. Es ist eiskalt.

,,Soll ich dir nachher eine Decke oder so etwas bringen?" Ich schäme mich, weil ich nicht schon früher daran gedacht habe. Ohne Sirenenmilch empfindet James die Temperaturen ja ganz anders als ich. Viel kälter! Der Ärmste muss völlig ausgekühlt sein und ich habe bis eben nichts davon gemerkt!

Er wirkt ein bisschen überrascht, aber nickt dankbar. ,,Ja, bitte. Ich bräuchte auch unbedingt was Warmes zum anziehen. Wie hältst du die Kälte bloß aus?"

Ich zucke mit den Schultern. ,,Willst du auch noch mehr zu essen? Oder mehr Wasser? Ein Buch?" Meine Gedanken überschlagen sich. Erst jetzt wird mir vollends klar, dass James so ist wie ich. Das er Dinge braucht, so wie ich, um zu überleben.

Er drückt dankbar meine Hand. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass er mich berührt. ,,Ja, das wäre super! Und vielleicht auch noch etwas zu schreiben, falls ihr sowas da habt?"

,,Klar." Wir haben eine ganze Schachtel voller Stifte, die von den Schiffen stammen. Manchmal werden auch einfach so Kugelschreiber am Strand angespült, aber die funktionieren dann oft nicht mehr. Einen Stift und ein bisschen Papier kann ich ihm ruhig mitbringen, mir ist bloß unklar, was er damit will.

,,Und Lillith...?" Er beugt sich zögerlich vor. ,,Ihr habt doch die ganzen Sachen, die mit auf meinem Boot waren, an euch genommen, oder? Könntest du... Also falls du einen Ausweis findest, etwa so groß..." Er zeichnet mit den Zeigefingern ein kleines Rechteck in die Luft. ,,Mit meinem Gesicht drauf. Falls ihr den findet, könntest du ihn mir bringen?"

Ich nicke. Zumindestens nachsehen kann ich. Das schulde ich ihm wohl, nachdem ich uns beide in diese verzwickte Lage gebracht habe.

Sein Gesicht hellt sich auf. ,,Er müsste in einem grauen Rucksack sein. Vielleicht bringst du mir einfach gleich den ganzen Rucksack mit, ich glaube das ist am einfachsten."

,,Okay," nicke ich. Maris wird nachher vermutlich sowieso nochmal die Sachen der Ertrunkenen mit mir durchgucken wollen. So etwas macht sie gerne, sie denkt sich dann immer Namen und kleine Geschichten für die Gegenstände aus. Einen grauen Rucksack zu finden sollte nicht so schwer sein.

James strahlt mich dankbar an. Er hat schöne Zähne, finde ich. Nicht spitz wie meine, sondern irgendwas zwischen rechteckig und rund.

,,Prima! Dann erzähl ich dir jetzt was. Du wolltest ja mehr über Kanada wissen, oder?"

Ich nicke heftig. James beginnt zu erzählen. Er erzählt von dichten grünen Wäldern, verschiedenen Baumarten, Bergen und Wanderwegen. Ich sauge alles in mich auf, dabei betrachte ich ihn.

Er ist ein kleines Stückchen größer als ich, aber nicht viel. Er hat lange Arme und Beine, und, obwohl er schlank ist, Muskeln. Vom Laufen, denke ich. Sie sind zu schmal und länglich um vom Gewichte heben zu sein und sein Kreuz ist nicht ganz breit genug für einen Schwimmer. Ich habe einen Fitness - Ratgeber gelesen, wo genau sowas drinstand. Mit vielen Abbildungen, alle von Männern. James sieht fast genauso aus wie die Zeichnung von dem Läufer. Da sind keine Verkurvungen an ihm wie an mir, alles ist geradlinig. Er hat auch keine Brüste, soweit ich das erkennen kann, jedenfalls nicht so richtig.

Ansonsten hat er ein schönes Gesicht mit einer graden Nase und ebenmäßiger Haut. Er sieht gut aus. Ich denke: Ich könnte zu ihm gehen, wenn er schläft und ihm wieder sachte ins Ohr singen bis er das Bewusstsein verliert. Anschließend bräuchte ich nichts weiter zu tun als seinen Körper ins Wasser zu wuchten und die Wellen würden sich um alles Weitere kümmern. Es wäre sehr sanft, sehr human, er würde nichts merken, er wäre ja bewusstlos. Die Sirenen würden seine Leiche irgendwann finden und fressen, oder vielleicht auch nicht. Er wäre auf jeden Fall tot und ich wäre gerettet.

James erzählt weiter. Von Städten mit Namen wie Toronto und Quebec, in denen Millionen von Menschen leben. Ich versuche mir das vorzustellen. Es gelingt mir nicht. Schon nach dem Ritual aufzuwachen und keine der Frauen um mich herum wiederzuerkennen hat sich wie Folter angefühlt. Jeden Tag hunderte Fremde zu sehen? Unter ihnen zu leben? Wie musste das sein?

,,Kanada ist eigentlich eine Monarchie, das heißt wir haben tatsächlich einen König. Er heißt Charles der Dritte. Eigentlich ist das Land aber eine parlamentarische Demokratie, weißt du was das ist?"

Ich schüttle den Kopf. Irgendwie habe ich den Eindruck das James inzwischen einfach runterrattert was ihm mal jemand anderes erzählt hat.

,,Okay. Also eine parlamentarische Demokratie ist ein System in dem das Volk die Regierung indirekt bestimmt, indem es Vertreter in ein sogenanntes Parlament wählt..."

James erklärt es mir weiter, aber ich höre nicht weiter zu. Ich denke: Morgen werde ich es tun. Je schneller, desto besser. Oder in ein paar Tagen. Ein schmerzhaftes Kribbeln macht sich in meinen Eingeweiden breit. Ich muss schlucken. In ein paar Tagen, beschließe ich. In ein paar Tagen werde ich James umbringen.

Aber erst muss er mir noch ein bisschen mehr von der Welt erzählen.

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