7.Kapitel

Was hab ich getan, was hab ich getan, was hab ich getan...
Meine Füße bewegen sich wie von selbst zu dem Takt dieser Worte. Ich starre auf sie, wie sie Schritt für Schritt nach vorne machen, ohne zu fühlen, dass sie zu mir gehören.

Was hatte ich nur getan? Meine Gedanken rasen zurück zu gestern Abend. Ich hatte mich den Sirenen bereitwillig beim kentern des Bootes angeschlossen, während die anderen auf dem Felsen geblieben waren. Der Untergrund vom Boot war aus sehr festem Material gewesen. Ich glaube Metall. Mir ist, als hielte ich wieder das rostige Messer in der Faust. Es hat lange gedauert, aber Sirenen haben spitze Zähne, und schließlich haben wir erfolgreich ein Loch in den Boden vom Boot schneiden und beißen können.

Die Sirenen sind befriedigt davongeschwommen, in die Tiefe, um dort zu warten. Mir schaudert bei der Erinnerung an lange, lautlose Schatten im Wasser und schwarze Augen, die hungrig nach oben starren. In diesem Moment hatte ich mich gefühlt, als wäre ich ihre Beute. Ich konnte nicht abwarten bis das Boot endlich gesunken und alles vorbei war. Es sollte einfach nur vorbei sein und wieder Tag werden. Gleichzeitig vibrierte jeder Zentimeter meines Körpers mit Aufregung. Ich war so nah. Ich war den anderen Menschen so nahe. Wie es wohl im Inneren von diesem Boot aussehen mochte? Es kam mir unecht vor, wie etwas das man sich in einem wirren Traum zusammenfantasiert. Meine Fingerspitzen hatten zu kribbeln begonnen. Ich könnte ja mal den Kopf durch das Loch stecken, dachte ich. Ganz kurz. Nur um Atem zu schöpfen. Und mich einmal umzugucken.

Der Zeitmangel zwang mich, mich schnell zu entscheiden. Wasser blubberte unabhörlich in das Innere des Bootes, das bald unter die Oberfläche sinken würde. Wenn ich noch etwas von der Welt der Menschen sehen wollte, unberührt und trocken, dann müsste ich schnell sein. Ich sagte mir, ich würde einmal vorsichtig den Kopf durch das Loch stecken und wieder abtauchen bevor irgendjemand dort drinnen mich bemerkte. Vermutlich rannten sie grade panisch umher und schnürten sich rote Westen um den Körper. Das hatte ich jedenfalls ein paarmal von der Insel aus beobachtet, immer nur aus der Ferne.

Ich steckte meinen Kopf durch das Loch. Dann meine Schultern. Der Raum, der sich mir im Bauch des Schiffes erbot, war leer. Vermutlich waren alle an Deck, in Trance gehüllt von dem Gesang meiner Schwestern.

Plötzlich wurde ich wagemutig. In einem Anflug von Wahnsinn quetschte ich meinen gesamten Körper durch das Loch, das grade so breit genug dafür war. Im Inneren des Bootes stellte ich mich schnell auf meine zitternden Beine und richtete mich auf. Stillstehende Luft empfing mich, die verbraucht und nach Maschinenöl roch und sich wie etwas klebriges auf meine nasse Haut legte. Hier drinnen herrschte kein Wind. Es war eigenartig warm. Das Salzwasser umspielte meine Knöchel, als wolle es mich wieder nach unten locken, unter Wasser, dort wo ich hingehörte. Oder tat ich das?

Ich sah atemlos auf Wände, auf Kisten, und fragte mich ob ich es wagen könnte eine davon zu öffnen. Es war der aufregendste Moment in vielleicht meinem ganzen Leben, oder wenigstens seit Wochen. Die Zeit schien stillzustehen. Ich war mit den anderen schonmal durch die gesunkenen Boote getaucht, hatte Nahrung und Kleidung und alles was wir gebrauchen konnten in den verschiedenen Kammern zusammengesucht, in denen sich bereits schüchtern die ersten Algen einnisteten, doch das gestern war anders gewesen. Dieses Boot war noch über Wasser gewesen und... Mein Herz klopfte: Es hatte noch seine Bewohner gehabt.

Ich hatte grade eine der Kisten mitnehmen wollen, nachdem ich entdeckt hatte, dass dort Bücher drin waren, die ich retten konnte bevor das Salzwasser sie unwiderruflich schädigte, als plötzlich eine Tür aufgerissen wurde. Ein unnatürlich heller Lichtstrahl fiel in den Raum und erblindete mich fast. Kurz war ich vor Schreck wie gelähmt.

Vor mir auf einer Treppe stand ein Mann. Hochgewachsen, jung, mit hellbraunen Haaren, und er starrte mich an. Ich starrte zurück. Ich hatte Bilder von ihnen in meinen Büchern gesehen und die alten Frauen hatten sie mir beschrieben, doch in echt hatte ich Männer bisher nur aus der Ferne gesehen. Wenn sie kopflos auf ihren Booten herumrannten oder sich ins Wasser stürzten, weil unser Gesang sie verrückt machte.

Ich betrachtete den Mann vor mir. Er stand sehr still, aber sein ganzer Körper verriet Anspannung. Die Stirn war gerunzelt, die Lippen zusammengepresst. Er sah gar nicht so anders aus als ich. Sein Gesicht spiegelte das wieder was auch ich fühlte: Stress, Angst, Kampfbereitschaft, Neugierde.

Ich dachte an die stillen, im Wasser treibenden Leichen der Männer, die die Sirenen fraßen. Blasse, eiskalte Haut und steife Glieder. Manchmal ließen die Sirenen sie so lange unter Wasser treiben bis die Haare ausfielen und die Fingernägel sich lösten. Ich wollte nicht, dass der Mann vor mir als so eine Leiche endete. Und dann... Dann hatte ich ihn einfach gerettet!

In einem stummen Aufschrei grub ich mir die Finger in die Haare. Oh Nein, oh Nein, ich hatte etwas furchtbar, furchtbar Dummes getan!

Ich hatte ihn mit ein paar rasch gesungenen Tönen betäubt und war heimlich zurück zur Insel getaucht, ihn im Wasser hinter mir herziehend. Zwischendurch hatte ich seinen Kopf ein paarmal über die Oberfläche gestoßen, damit er atmen konnte, aber trotzdem blieb er als wir in der Bucht waren noch so lange bewusstlos, dass ich mir schon fast sicher war, dass er trotz meiner Mühen ertrunken war. Mir fällt wieder ein wie oft ich ihn beim schwimmen aus Versehen gegen Felsen oder Schiffswracke geschleudert habe.  Eigentlich ist es wirklich ein Wunder, dass er lebt und noch bei so klarem Verstand zu sein scheint. Ich meine, er hat ganz normal und sogar sehr intelligent mit mir geredet. Ich wische meine schwitzenden Hände an meinem Rock trocken.

,,Lilith, ist irgendwas?" Maris blinzelt mich besorgt an.

,,Nein, alles in Ordnung." Ich versuche zu lächeln. ,,Erzähl weiter."

Sie erzählt weiter. Ich habe keine Ahnung wovon. Einige Zeit später erreichen wir jedenfalls die Stelle am Strand wo die Anderen schon mit kochen und essen beschäftigt sind. Ich werfe einen Blick auf die zwei halbvollen Netze mit Fischen, Krebsen und Austern. Irgendwann in den letzten Stunden, die ich in der Felsgrotte verbracht habe, muss eine der Sirenen mit Essen gekommen sein. Belohnung für die erfolgreiche Beute der letzten Nacht. Ich denke schon wieder an den Mann, den ich vor ihnen verstecke. Beute der Sirenen. Eigentum der Sirenen. Was werden sie mit mir anstellen, wenn sie herausfinden was ich getan habe? Mein Magen verknotet sich vor Angst. Am Besten ich muss es gar nicht erst herausfinden! Am Besten ich werde ihn so schnell wie möglich wieder los!

,,Hier. Möchtest du?" Maris reicht mir eine Auster. Ich bedanke mich und verziehe den Mund zu einem Lächeln. Mir ist es wichtig, dass wir wieder Freunde werden und ich hoffe sie nimmt mein komisches Verhalten heute nicht persönlich.

Die Dunkelhaarige namens Charisma gesellt sich zu uns. Ich weiß noch nicht ob ich sie mag, sie hat immer etwas leicht Herablassendes an sich, aber es wirkt wie etwas, dass sie sich aufzwingt. Nicht wie etwas das wirklich zu ihr gehört. Das müsste sie aber eigentlich selber am Besten wissen, denn Charisma hat ihr Gedächtnis noch.

,,Na so was, Lillith, seid wann magst du denn Austern?" Sie rückt spöttisch ihre Haarklammer zurecht. ,,Früher hätte man dich damit jagen können."

Ich sehe hilfesuchend zu Maris, die mit den Schultern zuckt. Wir beide haben zur selben Zeit unser Gedächtnis verloren und obwohl das jetzt schon ein paar Wochen her ist, haben wir uns noch längst nicht wieder in unser früheres Leben eingefunden. Die anderen helfen uns wo sie können, aber mit dem Gedächtnisverlust zurechtkommen ist leider etwas wo jede auf sich selbst gestellt ist.

,,Hör auf mit dem Quatsch!" rügt eine blonde Frau Charisma. ,,Lillith hat schon immer gerne Austern gegessen. Hör auf sie verrückt zu machen, das ist nicht nett."

,,War ja nur ein Spaß." mault Charisma. ,,Meine Güte!" Sie schiebt sich mit der einen Hand einen frisch gepellten Krebsarm in den Mund und richtet mit der anderen ihre Haare. Sie trägt sie fast immer hochgesteckt, vielleicht damit ihre graden, perlmuttfarbenen Schultern besser zur Geltung kommen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Charisma sich diese Art von Spaß mit mir erlaubt. Kurz nach meiner Amnesie wollte sie mir doch tatsächlich weismachen wir beide wären Schwestern. Ich habe ihr peinlicherweise etwa vier Tage lang geglaubt, bis mich eine der anderen Frauen aufgeklärt hat. Zu meiner Verteidigung muss man aber sagen, dass Charisma wirklich als meine Schwester durchgehen könnte, wenn sie dunklere Haut und eine umgänglichere Persönlichkeit hätte.

Die blonde Frau lächelt mir zu. ,,Lass dir von Charisma nichts sagen. Das hast du früher auch nie gemacht."

,,Mmh." Ich starre auf meine Auster. Woher soll ich denn wissen was ich früher gemacht oder nicht gemacht habe? Ich kann mich nicht erinnern! Das ist das Problem! Jedenfalls eins der Probleme... Ich seufze. Das andere sitzt grade in einer Felsaushöhlung an der Nordseite der Insel und schmiedet vermutlich Pläne wie er mir und den anderen wehtun kann, sobald er sich ein wenig erholt hat. Nicht das er sonderlich aggressiv gewirkt hat, aber demnach was mir die anderen Frauen über unsere Geschichte und über Männer im Allgemeinen beigebracht haben, sind viele von ihnen einfach von Grund auf schlecht. Außerdem darf man nicht vergessen, dass wir der Grund für das Kentern von seinem schwimmenden Zuhause sind.

Ich nehme mir noch eine Auster und öffne sie nachdenklich. Ob er Freunde auf diesem Boot hatte? Wenn ja, dann sind sie jetzt tot. Die Sirenen haben uns Schmuck und Kleider, die die Ertrunkenen am Leib hatten, in einem hübschen nassen Bündel an den Strand gelegt.

Die anderen Frauen setzen sich, der Topf wird vom Feuer genommen und der Eintopf verteilt, jedenfalls an die die welchen möchten, die meisten von uns bevorzugen ihr Essen roh. Um uns herum herrscht fröhliches Geplauder.Normalerweise liebe ich diese Zeit der Geselligkeit und des gemeinsamen Essens, aber heute will ich einfach nur weg.

Ein paar Sachen der Ertrunkenen werden herumgereicht und unter lauten Ausrufen begutachtet.

,,Möchtest du das haben?" Maris reicht mir ein langes weißen Baumwollhemd von dem Stapel. ,,Ich glaube, es könnte dir passen."

Ich zucke mit den Schultern. Kleidung tragen ist für uns etwas optionales, die Sirenenmilch sorgt dafür, dass uns praktisch nicht kalt wird, aber ich tue es trotzdem manchmal ganz gerne. Es ist bequemer wenn man sich irgendwo hinsetzt, da man die harten Steine weniger spürt, und ich mag das, wenn der Wind durch den Stoff streicht und ihn zum Rascheln bringt.

,,Ja, warum nicht. Danke." Ich ziehe mir das Hemd über und fummel ungeschickt ein paar von den Knöpfen zu. Es ist mir viel zu weit und ein wenig zu lang, aber grade das mag ich. Es wird wundervoll im Wind rascheln.

,,Schön," grinst Maris bewundernd. Sie sucht sich eine schmale goldene Armbanduhr aus und fragt in die Runde: ,,Macht es jemandem was aus, wenn ich die hier nehme?"

Vermehrtes Kopfschütteln ist die Antwort. ,,Nimm nur, Schatz." Ruft Saga, die Frau die Maris geboren hat. ,,Es werden noch weitere Armbanduhren kommen - Und weitere Schiffe."

Selene, Charisma, Greta und ein paar andere lachen begeistert. Nach einer erfolgreichen Jagd ist die Stimmung immer ausgelassen. Also, Zeit für mich zu verschwinden bevor ich sie mit meiner Grübelmiene ruiniere.

Ich stehe auf und fülle eine Schüssel mit Eintopf. Für den Mann, James.

Charisma starrt mich an als hätte ich den Verstand verloren. ,,Lillith! Du magst kein warmes Essen."

,,Netter Versuch!" Gebe ich schnippisch zurück. Noch einmal kriegt sie mich nicht. Da muss sie sich schon was Besseres einfallen lassen.

,,Ich meine das ernst." Charisma hebt die Augenbrauen, sodass ihre Stirn sich runzelt. ,,In der ersten Zeit nach dem Ritual mag man grundsätzlich nichts Warmes essen."

,,Ich glaube ich weiß selber am Besten was ich essen mag oder nicht, danke." Entgegne ich kühl.

Charisma lässt nicht locker. ,,Probier wenigstens erstmal. Und sag nicht ich hätte dich nicht gewarnt!"

Augenverdrehend nehme ich einen Schluck von der Suppe und muss sofort husten! Meine Brust brennt wie Feuer, meine Zunge und mein Rachen werden wie taub vor Hitze. Es ist das unangenehmste Gefühl was ich je hatte! Ich spucke den Schluck Suppe aus und muss mehrmals heftig würgen.

,,Lillith, alles okay?" Ruft Maris. Charisma lacht. ,,Ich hab's ihr gesagt."

,,Alles gut." Gebe ich knapp zur Antwort. ,,Es ist sehr lecker. Muss nur noch ein bisschen abkühlen."

Was für eine Lüge! Kopfschüttelnd starre ich auf die Schüssel mit Eintopf. Abgekühlt oder nicht, so eine Feuerpampe kann ich James doch nicht mitbringen! Ich sehe mich hilfesuchend nach etwas anderem um. Ein Stapel voller graubrauner Dosen fällt mir auf, die wohl ebenfalls vom Boot von gestern stammen müssen.

,,Was ist das? Was ist dadrin?" Frage ich Charisma.

Sie zuckt mit den Schultern. ,,Ich glaube Bohnen."

,,Perfekt," murmle ich und schnappe mir zwei davon. Wenn sie auf James' Boot waren, dann muss er sie ja schonmal gegessen haben und mögen. Einen Löffel für den Eintopf nehme ich ebenfalls mit, falls James ihn mag, aber kein Messer für die Dosen. Das wäre ja noch schöner, wenn man seinem Gefangenen auch noch ein Messer in die Hand drückt!

,,Ich geh jetzt wieder zurück zu den Büchern, will noch was zu Ende lesen, bis nachher!" Rufe ich geistesabwesend in die Runde.

,,Bis nach-" sagen Maris und Charisma langsam, aber ich höre sie schon nicht mehr. Meine Ausbeute auf beiden Händen balancierend bin ich schon wieder auf dem Weg zurück zur Bucht.

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