5.Kapitel

Das 'Hauptquartier' ist eigentlich nur der Größere von zwei Laderäumen unter Deck. In der Mitte steht ein, am Boden befestigter Tisch, an dem wir auch essen, und überall wo Platz ist finden sich große Kisten, die mit allem Möglichen gefüllt sind, von wissenschaftlichen Instrumenten zu Dosenbohnen.

Sue räuspert sich. Sie ist voller Aufregung und Energie, das sieht man. Ihre Haare schlagen gradezu Funken.

,,Also, wir haben die Koordinaten erreicht und werden eventuell in wenigen Stunden als erste Wissenschaftler überhaupt echte Sirenen zu sehen bekommen."

'Sirenen'. Sie sagt das Wort als würde sie Delfine oder Buckelwale sagen. Oder irgendetwas anderes das es tatsächlich gibt.

Ich versuche mit aller Kraft diese Besprechung ernst zu nehmen, so wie jeder andere im Raum sie ernst zu nehmen scheint, aber es geht nicht. Ich bezweifle sehr, dass wir heute Nacht überhaupt irgendetwas sehen werden, aber um ehrlich zu sein ist mir das egal. Eine mondbeschienene Nacht auf dem Meer, bis zum Morgengrauen auf dem Deck sitzen, in eine Decke gewickelt und mit einer Tasse Kaffee in der Hand, zusehen wie der Mond vom pechschwarzen Himmel scheint und schließlich morgens die Sonne aufgeht, in einem prächtigen Zusammenspiel der Farben, während einem selber die Augen vor Müdigkeit jucken... Was kann es Schöneres geben?

Vielleicht ist es Egoismus, diese Tatsache, dass ich meine eigenen Wünsche und Sehnsüchte über die Wissenschaft stelle, aber ich kann einfach nicht anders. Finster denke ich einen Moment lang an meine Eltern, die mich auf einem Segelboot großgezogen haben und sich jetzt wundern, warum ich an Land nicht klarkomme. Andererseits bin ich wirklich langsam aus dem Alter raus, in dem ich meine Eltern noch für alles verantwortlich machen kann. Ich bin schließlich zwanzig.

,,Da wir es mit einer Spezies zu tun haben, die bis dato für eine Legende gehalten wurde," spricht Sue weiter ,,haben wir keine einzige fachliche Quelle auf die wir uns im Umgang mit den Sirenen berufen können. Ziemlich wahrscheinlich sind sie gefährlich, schließlich ist bisher noch kein Boot unbeschadet an ihnen vorbeigekommen- Aber keine Sorge!" wirft sie ein, als sie unsere Gesichter sieht. ,,Bisher war auch noch kein Team so gut ausgestattet. Jedenfalls habe ich Ohrenstöpsel für uns alle besorgt. Für den Fall, dass die Legenden über den tödlichen Gesang der Sirenen stimmen, werden wir uns wie Odysseus die Ohren verschließen." Sie klatscht in die Hände und strahlt. ,,Die Ohrenstöpsel versprechen eine Schalldämmung von sagenhaften fünfzig Dezibel! Damit sollte der Gesang der Sirenen für uns kein Grund zur Sorge sein."

Mein Gott, meint sie das ernst?! Gary und ich tauschen einen ungläubigen Blick. Er sieht so aus als müsste er sich das Lachen verkneifen, als er von Sue ein Paar Ohrstöpsel entgegen nimmt. In seiner riesigen Pranke sehen sie winzig aus. Ich kriege ebenfalls ein Paar und außerdem von Sue den Kopf gekrault.

,,Auf unseren Jüngsten müssen wir natürlich heute Abend ganz besonders gut aufpassen." verkündet sie lächelnd. ,,Nicht, dass er noch einer Sirene verfällt und sich ins Wasser stürzt."

,,Das wird schon nicht passieren." lache ich tonlos. Innerlich denke ich: Um von dir zu wegzukommen, Sue, mach ich das vielleicht sogar.

Wir gehen an Deck und begeben uns auf unsere Posten. Ich lehne an der Mitte der Reling, mit gutem Blick auf die felsige Insel. Ihre Umrisse verschwimmen in der eintretenden Dämmerung. Wir haben keine Ahnung wie groß sie genau ist, aber von hier aus sieht sie sehr klein aus. Klein und einsam und verloren. Für unser schwaches menschliches Auge bald unsichtbar in der Dämmerung, die jetzt eintritt und alles rasch in Dunkelheit hüllt.

Wie kann es sein, dass so gut wie keine Aufzeichnungen über diese Insel existieren? Wir wissen, dass sie da ist, gut, aber es scheint nicht so als hätte sie irgendjemand je betreten. Grübelnd stütze ich den Kopf in die Hände. Wie kann das sein?

Die Stunden vergehen. Gary, der mir zu Füßen sitzt, gähnt und schaut zum wiederholten Mal auf seine Armbanduhr. Ich spähe ebenfalls auf die Leuchtanzeige. Kurz nach elf. Er stupst mich an und ich ziehe vorsichtig einen Ohrstöpsel raus.

,,Bro, ich bin seit fünf Uhr morgens wach, ich kann das hier nicht mehr. Weck mich bitte, wenn irgendetwas passiert, ja?'' Brummt Gary mir zu und schließt die Augen. Er hat doch tatsächlich einen seiner Teddybären im Arm.

,,Geht klar." Ich werfe einen raschen Blick über die Schulter, wo Sue kerzengrade steht und die Insel mit Argusaugen fixiert. Sie hat von Garys Müdigkeit noch nichts mitbekommen. Ist auch nicht so schlimm, glaube ich, die Kameras filmen schon von alleine. Nur gibt es nichts was sie filmen könnten, außer Nacht, Wasser und Felsen.

Ich drehe mich wieder zur Insel um und mir stockt der Atem. In der Wasseroberfläche kräuselt sich etwas. Direkt vor den aufragenden Felsen. Das Mondlicht spiegelt sich auf der dunklen Oberfläche und lässt mich etwas, aber nicht allzu viel erkennen. Ich runzle die Stirn. Auf jeden Fall schwimmt dort etwas. Etwas Großes. Sind das Delfine? Robben? Schweinswale? Um diese Zeit und so nah an der Küste? Wohl eher nicht.

Gebannt lehne ich mich vor. Die Oberfläche kommt immer mehr in Bewegung und wird schließlich mit leisem Platschen von etwas durchbrochen. Ein Kopf. Dann ein Oberkörper. Ein, eindeutig menschlicher, Frauenoberkörper.

Mir fällt die Kinnlade herunter, als sich vor mir eine Szene wie aus einem Film ausbreitet. Anmutig, in fließenden Bewegungen, klettern sie auf die Felsen. Schlanke, nackte, frauenhafte Wesen, deren nasse Haut weiß und silbrig im Mondlicht schimmert wie Schuppen.
Ich denke: Niemals werde ich diesen Anblick vergessen können.

,,Sehen sie das, Dr. Winston?" Fragt Ming Chen in seiner leisen Stimme. Er hat sich von Tag eins vehement geweigert das, von Sue angebotene, 'du' anzunehmen. Er siezt alle an Bord, sogar mich nennt er Mr. Mendelsson. Sue reagiert nicht auf ihn. Wie eine Statue steht sie da.

Mein Blick fällt auf den herausgezogenen Ohrstöpsel in meiner Hand, den sollte ich wohl schleunigst wieder reinstecken, und mir wird klar, dass Sue Ming Chen ja gar nicht hört. Ich kann mich nicht von den Gestalten auf den Felsen abwenden, deshalb trete ich Gary unsanft mit meinem Fuß wach.

Schwerfällig kommt er auf die Beine, ein grimmiges Gesicht ziehend. Ich packe seinen Arm und deute stumm auf die Felsen. Seine Augen werden groß. ,,Sind das wirklich-?"

Ich nicke ungeduldig. ,,Ja!"

Gary starrt so gebannt auf die Meerjungfrauen, dass er sich gar nicht darüber wundert, dass ich ihn hören kann. Die Sirenen machen es sich auf den Felsen bequem, halb im, halb außerhalb des Wassers sitzend. Ihre langen Haare kleben an ihren Rücken, verdecken den silbrig hellen Glanz der Haut mit einem dunkleren. Sie wenden uns die Gesichter zu und ich spüre ganz genau, dass sie uns sehen können. Dass sie uns besser sehen können, als wir sie.

Fieberhaft warte ich auf Sues Signal die Scheinwerfer einzuschalten. Die Kameras haben vielleicht eine eingebaute Nachtsicht, aber ich sehe ohne Licht nur bedingt etwas und ich möchte die Sirenen sehen! Ich muss sogar! Warum sonst bin ich auf diese Expedition mitgekommen?

,,Sie sind wunderschön." murmelt Gary. Ich nicke heftig. Ja. Ja, das sind sie.

Mir fällt erst ein, dass ich immer noch den zweiten Ohrstöpsel in der Hand halte, als die Sirenen anfangen zu singen. Es sind Klänge, die ich mir vorher nicht einmal hätte ausdenken können. Ihr Gesang ist das Schönste, Betörendste was ich je in meinem Leben gehört habe. Ich muss dort hin, ich muss zu ihnen! Mit einem Bein bin ich schon über der Reling, als Gary mich am Kragen packt.

,,Sag mal, hackt's bei dir-?"

Sein Blick fällt auf den Ohrstöpsel in meiner Hand. Kopfschüttelnd rammt er ihn mir wieder in den Gehörgang, so fest, dass ich mir schlagartig Sorgen um mein Trommelfell mache. Es ist still. Gary zieht mich mit seinen gewaltigen Gorilla Armen von der Reling weg als wöge ich nicht mehr als eine Feder.

,,Bring ihn unter Deck!" sagt Sue eisig. Ich lese ihr die Worte von den Lippen ab. Sie ist sicher wütend, dass ich mich ihren Anweisungen widersetzt habe und ihr mit meinem affigen Verhalten den Moment ruiniere, auf den sie ihr ganzes Forscherleben lang gewartet hat. Ich schäme mich. Gleichzeitig ist die Versuchung groß meine Ohrenstöpsel einfach rauszureißen und diesen himmlischen Gesang wieder zu hören.

Nach einiger Vermittlung durch Zeichensprache versteht Gary was Sue von ihm will. Er ist grade dabei ihrer Anweisung Folge zu leisten und mich unter Deck zu ziehen, als auf einmal eine mächtige Erschütterung durch das Boot geht. Wir stolpern beide. Auch Sue, Ming Chen und die zwei anderen Forscher verlieren das Gleichgewicht.

Atemlos sehen wir uns an, da geschieht es schon erneut! Was ist das? Da ist etwas im Wasser und es stößt immer wieder gegen das Boot! Nein, es scheint sogar von mehreren Richtungen zu kommen! Sind sie das? Rammen die Sirenen grade von unten unser Boot?

,,Scheinwerfer an!" schreie ich. Wir müssen doch etwas sehen können! Was wenn etwas von dem Equipment durch die Erschütterung beschädigt wurde? Niemand kann mich hören.

Gary hat sich inzwischen wieder aufgerappelt und schiebt mich freundlich, aber bestimmt, unter Deck. Mir fallen die vielen Taschenlampen in einer der Kisten im Laderaum ein. Gut, wenn Sue in all der Aufregung die Scheinwerfer vergessen hat kann ich auch schnell ein paar davon holen. Hastig laufe ich los und merke, dass meine Turnschuhe in einer Wasserlache stehen. Oh Gott! Schweiß bricht mir am ganzen Körper aus. Wir haben ein Leck!

Ich renne zurück, erklimme die Stufen und öffne die Klappe zum Vorderdeck.

,,Wir haben ein Leck!" Brülle ich. ,,Wir sinken!"

Niemand hört mich, aber sie haben endlich die Scheinwerfer eingeschaltet. Das Deck und die Insel mit den Sirenen ist in helles Licht getaucht. Ich sehe, dass das Boot leicht in Schieflage steht. Fast der ganze Boden unter Deck ist voller Wasser und es wird rasch mehr! Wir sinken wirklich, das darf doch nicht wahr sein!

,,Gary!" brülle ich. ,,Sue! Wir sinken!" Es ist wie ein Alptraum, sie hören mich nicht.

Jetzt zählt jede Sekunde! Ich weiß, wo die Rettungsboote sind und die Schwimmwesten. Alles, was für so einen Fall vorgesehen ist, ist in der großen Kiste im Laderaum. Ich muss sie holen, schnell, ehe es zu spät ist! Halb blind stolper ich vorwärts. Der nächste Raum ist schon der Laderaum, aber ich finde den Lichtschalter nicht, und als ich ihn doch finde geht das Licht nicht an. Ist das Wasser etwa schon an die Elektrizitätsleitung gekommen?

Ich atme keuchend, panisch. Egal! Es ist die erste Kiste links, die große, die finde ich auch so! Ich lasse mich auf die Knie fallen und merke, dass das Wasser mir im sitzen schon bis zum Bauch geht. Sekunden werden zu Ewigkeiten als ich den Deckel von der Kiste montiere und die Verschraubungen löse, die sie am Boden halten.

Ich weine fast vor Erleichterung als ich die Kiste so weit habe, dass ich sie mir unter den Arm klemmen kann. Nun aber schnell! Ich wate durch das, inzwischen beinahe kniehohe Wasser, und schnalle mir im Gehen eine Rettungsweste um. Vor dem ertrinken wird mich die aber auch nicht retten, wenn ich noch viel länger hier unten bleibe!

Eins, zwei! Meine Turnschuhe machen ein schmatzendes Geräusch auf den, noch trockenen, Stufen. Ich habe grade die Tür zum Deck aufgestoßen, da schaue ich zurück und sehe durch das Scheinwerferlicht das Leck. Ein großes, kreisrundes Loch mitten im Boden und daneben steht im Wasser eine der Frauen von den Felsen. Das Licht von den Scheinwerfern fällt durch die offene Tür perfekt auf sie, wie das spotlight bei einem Theaterstück. Sie hat lange, schwarze Locken, die ihr nass an den Schultern kleben und ist vollkommen nackt.

Etwas daran, wie sie dort im Raum steht lässt mich stutzen. Schnell weiß ich was es ist. Menschliche Beine. Selbst im Wasser hat sie keinen Fischschwanz. Mit wiegenden Hüften kommt sie wortlos auf mich zu, einen merkwürdigen, scheuen Ausdruck im Gesicht. Schon ist sie bei mir. Ich kann mich nicht bewegen. Ich sollte wegrennen, doch ich starre sie nur an. Ich Idiot. Ich hormongesteuerter Idiot. Sie hat umwerfende, dunkle Augen.

Die Sirene beugt sich langsam vor, wie um mich zu küssen, doch stattdessen bringt sie ihren perfekt geformten Mund nah an mein linkes Ohr. Ihre schlanken Finger entfernen sachte den Ohrstöpsel. Ich kann hören und spüren wie sie einatmet. Alle Haare in meinem Nacken stellten sich auf.

Sie beginnt zu singen. Ich falle in eine süße, sehnsuchtsvolle Leere und schon ist alles verschwunden.

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