4.Kapitel
Sie dachten auch sie könnten einen Jungen, der nie mehr als zwei Jahre in Folge auf dem Land gelebt hat, einfach in die Uni stecken und er würde sich schon an alles gewöhnen. Solange er in seinen Vorlesungen nur genug über die Weltmeere hörte, würde er sie in der Realität nicht mehr brauchen. Tja, falsch gedacht.
Zugegeben, am Anfang ging es gar nicht so schlecht. Ich ging zur Uni, zu Vorlesungen, zu Seminaren, ging an den Morgenden im Park laufen und an den Abenden in Bars trinken, mit entweder meinem Mitbewohner Cieran oder Leuten von der Uni. Völlig normal. Das war es was auch alle anderen in meinem Umfeld machten. Alles völlig normal.
Dann ging es irgendwann los. Ein Gefühl machte sich in mir breit, ein brodelndes zittriges Gefühl, mit dem ich nichts anfangen konnte. Ich versuchte ihm entgegen zu wirken. Ich stand im Morgengrauen auf und lief Runde um Runde im Park, bis mein Herzschlag lauter war als meine Schritte und alles andere in meinem Kopf übertönte. Ich lieh mir Abenteuerromane aus, obwohl ich sonst nie las, und sah mir schlechte Actionfilme an. Deep blue sea, con air, street fighter... Nichts half.
Ich konnte nicht einschlafen, denn wenn ich träumte, und das war oft, dann träumte ich vom Meer. Vom Meer, vom segeln, von der endlosen blauen Weite. Schließlich verbannte ich alles, was mich an die Zeiten auf dem Boot erinnern konnte, aus meinem Sichtfeld. Ich nahm Vitamine zu mir, die traumlosen Schlaf garantierten, nahm lange und heiße Duschen und rief sogar meine Mutter an. Reglos lauschte ich wie sie mir ihre Einschätzung meiner Gemütslage unterbreitete. Du bist rastlos. Das ist normal in deinem Alter, James. Man fühlt sich immer rastlos mit zwanzig Jahren.
Sie riet mir rauszugehen, die Stadt zu erkunden. Also tat ich das. Ich lief kreuz und quer durch Vancouver, überall lang, nur nicht am Hafen. Es half nicht.
Als ich wieder eines Morgens bei Sonnenaufgang aufwachte, die Decke vom Körper gestrampelt und schweißgebadet, Wellenrauschen im Ohr und mit dem Geschmack von Freiheit und Salz auf der Zunge, da musste ich es schließlich einsehen. Es war aussichtslos. Wie jemand, der unbewaffnet und von allen Seiten umzingelt war, kapitulierte ich. Die Sache war klar: Ich musste zurück aufs Meer.
Somit kam das Angebot von Professor Williams wie gerufen. Es kam auf den Tag eine Woche später. Vermutlich hätte er es mir nicht gemacht, wäre ich irgendein anderer x - beliebiger Student im zweiten Semester gewesen, aber ich war nunmal das Mendelsson Kind. Ein Nachname der jedem, der auch nur ein bisschen Ahnung von Meeresbiologie hatte, etwas sagte.
Der Professor hatte mich zu sich ins Büro gerufen und von hinter dem Schreibtisch aus mit blitzenden Brillengläsern angesehen. ,,Ah, James, der Grund weshalb ich sie sprechen will: Es geht um eine Forschungsexpedition."
Er hatte, auch wenn er unterrichtete, die praktische Angewohnheit ohne Umschweife zum Punkt zu kommen.
,,Es ist beunruhigendes, absolut hochinteressantes Videomaterial aufgetaucht. Von sogenannten Sirenen, oder auch Meerjungfrauen, wie sie der Volksmund nennt."
Ich hatte spöttisch geschnaubt. Videos oder andere angebliche Beweise für die Existenz von allen möglichen Fabelwesen erschienen ständig. Wir beschäftigten uns manchmal im Unterricht damit. Videos oder Fotos von Meerjungfrauen, Seeungeheuern, dem Monster vom Loch Ness... Sie alle stellten sich früher oder später als falsch heraus.
,,Sicher, dass diese Videos echt sind, Sir?" Hatte ich gefragt. ,,Heutzutage kann man mit deepfake doch alles Mögliche animieren."
Seine Stimme war lauter geworden, und aufgeregt.
,,Diese Aufnahmen sind hundertprozentig echt, dutzende Experten haben das bestätigt! Und mehr noch: das Schiff ist kurz darauf gesunken. Alle Passagiere der Crew gelten immer noch als vermisst."
Professor Williams hatte mir fest in die Augen gestarrt. ,,Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas in der Gegend passiert ist, James. Die Koordinaten sind mitten im Pazifischen Ozean, meilenweit von allem Land, das uns bekannt ist. In der Gegend sind schon so viele Schiffe gesunken, dass Forscher anfangen von einem zweitem Bermuda Dreieck zu reden! Dort draußen ist etwas und wir werden herausfinden was! Ach ja,
deswegen wollte ich ja auch mit ihnen reden."
Auf einmal wieder ganz ruhig, hatte der Professor sich geräuspert. ,,Also, eine sehr gute Kollegin von mir, Sue Winston, leitet eine Forschungsexpedition, um diese Sirenen aufzuspüren. Sie sucht noch nach ein oder zwei seefesten Crew Mitgliedern und hat gefragt, ob ich nicht vielleicht jemanden kennen würde. Nun sind sie zwar erst im zweiten Semester, James, und noch ganz schön jung, aber Sue ist ein großer Fan von ihnen und der Arbeit ihrer Eltern. Ich bin sicher, ich könnte ein gutes Wort für sie einlegen, wenn sie das möchten. Ich denke mir, all ihrer Erfahrung auf See könnten sie für die Expedition recht nützlich sein."
Mein Herz hatte gewummert wie ein Technobeat. ,,Wenn ich da mitkommen könnte- Das wäre einfach super, Professor! Ich glaube zwar nicht an Sirenen, aber ich wäre sehr sehr gerne bei der Expedition dabei!"
,,Warum glauben sie nicht an Sirenen, James?"
Die Frage hatte mich überrascht. ,,Na ja, weil das Geschichten sind. Ich denke, wenn es sie in Wirklichkeit gäbe hätte man sie inzwischen gefunden. Professor, sie wissen, dass ich viele Jahre meines Lebens auf See verbracht habe und niemals habe ich auch nur irgendeinen Beweis für ihre Existenz gesehen."
Es hatte sich merkwürdig angefühlt einem der respektiertestem Wissenschaftler der Welt erklären zu müssen, warum ich nicht an Meerjungfrauen glaubte.
,,Glauben sie niemals, dass sie von allem wissen, was es gibt, James." Hatte Professor Williams plötzlich mit einem Hauch von Strenge gesagt. ,,Grade einmal 5% der Tiefsee sind erforscht. Die Tiefsee macht rund 88% der Fläche der Ozeane aus. Es gibt auf jeden Fall so einiges dort draußen, was uns Menschen verborgen geblieben ist, und von dem nur der liebe Gott weiß."
Innerlich hatte ich die Augen verdreht. Professor Williams war sowohl Biologe als auch Theologe, und in beiden Bereichen hochverehrt. Ich hatte es immer bewundernswert gefunden, wie er in seinen Lektüren schaffte beides nahtlos miteinander zu verknüpfen. Die Religion und die Wissenschaft. Man sollte meinen man müsste sich zwischen einem dieser zwei Dinge entscheiden.
Ich sagte nichts mehr, sondern bedankte mich nur bei Professor Williams und verließ sein Büro, um zu meinen Vorlesungen zu gehen. Als der grauhaarige Professor mir ein paar Tage lächelnd mitteilte, dass er mir tatsächlich einen Platz an Bord des Expedition Schiffes hatte ermöglichen können, bestand ich nur noch aus glücklichen Seifenblasen. Nicht nur beruflich gesehen war diese Erfahrung eine Riesenchance, es war vorallem eine Möglichkeit für mich, wieder festen Seegang unter den Füßen zu spüren.
Ich packte meine Reisetasche und zwei Wochen später ging es los. Die anderen Mitglieder der Crew lernte ich im Hafen kennen. Ich war der Jüngste, aber gar nicht einmal mit so viel Abstand wie gedacht.
Gary, der Typ der für die Technik zuständig ist, ist erst dreiundzwanzig und Ming Chen, mit dem ich mir eine Kabine teile, ist grade mal Anfang dreißig.
Nichtsdestotrotz ist Chen einer renommiertesten Meeresbiologen weltweit. Seine Forschungen über Wollhandkrabben haben wir mehr als einmal in der Uni durchgenommen und ich stolper vor Nervösität immer noch über meine eigenen Füße, wenn ich ihn sehe, dabei ist er wirklich nett. Sehr ruhig und bescheiden.
Wir haben keine Zeit verschwendet und in zügigem Tempo dreieinhalb Tage lang den Kurs nach Osten gehalten. Ich habe jede Minute genossen. Der Geruch von Salzwasser, der weite Himmel, der zu jeder Tageszeit anders aussieht, die gespannte, fiebrige Atmosphäre an Bord... Es war genau das was ich gebraucht hatte.
Jetzt stehe ich an der Reling und lasse mir den Wind um die Nase wehen. Es riecht nach Salz und ein bisschen nach Algen, über mir kreischen die Möwen. Auf den graublauen Wellen spiegeln sich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Heute ist der vierte Tag auf See und wir haben den Anker geworfen. Wir haben die Koordinaten erreicht. Vor uns liegt die kleine Insel, auf deren Felsen man angeblich Sirenen gesichtet hat. Der Moment könnte nicht perfekter sein. Ich schließe die Augen und spüre wie sich mein Atem verlangsamt. Die Wellen schlagen mit immer gleichbleibendem Klatschen gegen das Boot. Endlich angekommen. Endlich waren wir angekommen. Endlich war ich angekommen.
,,Jamie?"
Sues Spitzname für mich holt mich aus meinen Gedanken. Sie ist eine Frau um die fünfzig mit einem rotgefärbtem Pagenschnitt, der wippt, als sie energisch auf mich zukommt. Mit dieser farbenfrohen Frisur und der etwas schrillen Stimme erinnert sie mich immer an einen Papagei.
,,Ja, Sue?" Nur zögerlich bin ich darauf eingegangen sie zu duzen. Ich habe sehr viel Respekt vor ihr und vor ihrer Arbeit.
,,Es wird langsam dunkel. Wir müssen uns bereit halten. Hilfst du bitte Gary die Kameras aufzustellen? Und Mikrofone! Ich will überall Mikrofone installiert haben! Sollen die Sirenen singen so viel sie wollen, wir werden es aufzeichnen!"
Ich versteife mich unwillkürlich, als Sue über meinen Rücken streichelt und energisch meine Hand drückt. Sie fasst mich ständig auf diese Art an, aber ich will ihr nichts unterstellen. Sie ist geschieden mit zwei Kindern im Teenageralter und bestimmt erinnere ich sie an ihren Sohn. Eigentlich ist sie auch wirklich nett. Trotzdem bin ich froh, als sie von mir ablässt und zu Gary hinübergeht, der das Kamera Equipment heranschleppt.
,,James wird dir helfen alles aufzubauen, sag ihm einfach was er zu tun hat. Beeilt euch, ich möchte das alles fertig ist bevor es dunkel wird! Kommt danach bitte zur Versammlung ins Hauptquartier."
Gary nickt. ,,Geht klar, Sue."
,,Gut. Bis später, ihr Beiden."
Sue streicht mir noch ein letztes Mal über den Rücken, dann geht sie wieder unter Deck.
Ich lächel Gary an. Obwohl wir altersmäßig so nah beieinander liegen haben wir bisher noch nicht viel miteinander zu tun gehabt. Gary hat eine Adlernase, dicke schwarze Augenbrauen und lange dunkle Haare, die er immer am Hinterkopf zu einem Knoten bindet. Ich glaube, er hat native american Wurzeln, obwohl sein Name nichts dergleichen vermuten lässt. Trotz dem Wind trägt er nur einen dünnen Pullover, der seine muskulösen Oberarme zur Geltung bringt. Würde ich nicht mit Sicherheit wissen, dass der Typ mit ungefähr fünfzehn Kuscheltieren im Bett schläft, könnte ich ihn fast einschüchternd finden.
Gary grinst zurück. ,,Hey Mann, also es ist eigentlich ganz einfach: Wir haben fünf wasserfeste Kameras an Bord, die wir mit Blick auf die Insel da installieren. Jede Kamera wird mit einem Mikrofon ausgestattet, wir machen die Scheinwerfer bereit und gucken einfach das für heut Abend alles schön und fest sitzt und funktioniert, klar?"
,,Klar." Ich nicke und freue mich, dass ich endlich mal eine vernünftige Aufgabe kriege. Bisher wurde ich an Bord nämlich hauptsächlich aus allem rausgehalten. Bin ja auch schließlich nur der dumme Student mit dem berühmtem Nachnamen.
Ich helfe Gary das Equipment, das viele tausend Dollar wert ist, aus dem Laderaum zu tragen. Die Kameras sind kleiner als ich erwartet hatte. Wir bringen sie an Masten und Schiffswänden an und schrauben sie ordentlich fest. Dabei erzählt mir Gary von sich. Ich erfahre, dass er wohl sowas wie ein IT- Wunderkind ist, aber auch eine Ausbildung zum Kameramann hinter sich hat. Außerdem liebt er Animes und hat eine Freundin namens Jullietta. Ich merke, dass er mir sympathisch ist.
Nach getaner Arbeit gehen wir zusammen unter Deck ins Hauptquartier, wo die anderen schon warten.
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