3.Kapitel

Ich wache in einer Felshöhle auf. Der Untergrund ist hart und feucht. Es ist kalt, aber mein Körper fühlt sich heiß an, und mir tut alles weh, vorallem der Bauch. Ich drehe mich auf die Seite und würge. Nichts aus meinem schmerzenden Magen kommt hinaus. In meiner Brust pocht etwas und ich weiß, dass dieses etwas sich Herz nennt und normalerweise nicht so schnell pochen sollte. Ansonsten weiß ich nichts mehr. Mein Kopf ist leer.

,,Oh, gut. Du bist wach."

Ich zucke zusammen. Mir gegenüber sitzt die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe. Sie betrachtet mich, dann reicht sie mir ein langes Baumwollkleid. ,,Hier, zieh das über."

Mechanisch ziehe ich mir den Stoff über den Körper. Dann starre ich wieder diese Frau an. Wer bist du, will ich fragen, aber heraus kommt nur ein: ,,Urgh-?"

,,Ich bin Marina." Sagt sie. ,,Du kennst mich eigentlich."

Tue ich das? Nichts an ihr kommt mir bekannt vor. Ich versuche krampfhaft mich zu erinnern. An irgendetwas, aber da ist nichts.

,,Ich- Nein! Ich weiß nicht- kann mich nicht-" Meine Stimme funktioniert. Da sind Worte, da ist Sprache. Ich weiß noch wie man redet.

,,Du kannst dich nicht erinnern." Beendet Marina den Satz für mich. ,,Keine Sorge, das ist normal."

Normal?! Es fühlt sich nicht normal an, nichts hiervon! Der kalte Schweiß bricht mir aus. Ich bekomme Panik. Es kann nicht sein: Ich muss doch etwas wissen! Ich muss mich doch an etwas erinnern können!

,,Marina." Bringe ich zwischen zwei hektischen Atemzügen hervor.

,,Ja?"

,,Wie heiße ich?" Das Pochen in meiner Brust wird immer schneller, immer härter, bis es weh tut. ,,Wer bin ich?"

Im Gegensatz zu mir wirkt sie ruhig. Viel zu ruhig. ,,Wir nennen dich Lillith." Sagt sie. ,,Du bist eine von uns."

,,Eine von was?"

Marina seufzt und rutscht im Schneidersitz nach vorne, näher zu mir ran. Ihre Haut schimmert als ob sie nass wäre. Ihre Arme und Beine sind sehr lang und anmutig.

,,Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen. Bitte, sei einfach still und hör zu." Sie holt Luft. ,,Also, im Jahr 1953 steuerte ein Schiff von England nach Nordamerika, an Bord die 14 Schönheitskönnigen der damaligen Miss world Wahl." Sie hält inne. ,,Du kannst dir wahrscheinlich nichts darunter vorstellen. Es war ein Wettbewerb von Frauen aus verschiedenen Ländern, die darum wetteiferten die Schönste zu sein. Die Begehrenswerteste. Ich selbst war eine von diesen Frauen."

Sie macht eine Pause, wie um mir zu erlauben das Gesagte zu verarbeiten. ,,Wir sollten feierlich in New York empfangen werden," erzählt sie weiter. ,,Interviews geben und der amerikanischen Bevölkerung präsentiert werden - Aber wir kamen nie dort an. Piraten überfielen unser Schiff, töteten die Crew, vergewaltigten die vierzehn jungen Frauen und setzten sie auf einer unbewohnten Insel mitten im Pazifischen Ozean aus. Lachend schickten sie sich an wegzufahren und die Schönheitskönniginnen dort verhungern zu lassen, als sie merkwürdige Gestalten im Wasser erkannten."

,,Was waren das?" Wispere ich. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass ich die Antwort schon weiß. Und das sie sehr bedeutsam ist.

Marina lächelt. ,,Es waren Sirenen, Wesen die in der Tiefsee hausen. Sie haben das Unrecht gesehen, das den Frauen wiederfuhr und brachten das Boot zum Kentern. Vor den erstaunten Augen der verwundeten Frauen zogen sie die Piraten in die Tiefe und fraßen ihnen das Fleisch von den Knochen."

Ich schaudere. ,,Das klingt sehr brutal."

Marinas dunkle Augen durchbohren mich. Sie sind riesig und tragen ein Funkeln in sich, das boshaft und betörend zugleich wirkt.

,,Du weißt wohl nicht mehr was eine Vergewaltigung ist, Lillith?"

Ich überlege. Das Wort sagt mir nichs. ,,Nein."

Marina streicht leicht über ihre Oberschenkel. ,,Es ist etwas sehr, sehr Grausames. Grausamer als zu ertrinken und auch grausamer als Fleisch von Ertrunkenen zu essen."

Ihr Ton ist bestimmt. Ich sage nichts mehr sondern bitte sie weiter zu erzählen. ,,Danach boten die Sirenen den Frauen einen Pakt an. Sie würden ihnen Fisch bringen, sie beschützen und ihnen ihre Milch geben, die Menschenfrauen auf ewig jung, schön und ihre Stimmen hypnotisch macht. Im Gegenzug müssen die Frauen sie allerdings mit Menschenfleisch bezahlen. Sie müssen die Seemänner mit ihrem Gesang betören und gegen die Felsen locken, denn die Stimmen der Sirenen sind dafür nicht menschlich genug. Die Frauen hatten kein Boot und keine Möglichkeit jemals von der Insel wegzukommen. Ihnen blieb nichts anderes übrig als den Pakt anzunehmen."

Marina verstummt. Sie nickt mir zu. ,,Und das, in etwa, ist unsere Geschichte, Lillith."

Mein Kopf kann sich nicht entscheiden ob tausende Gedanken auf einmal oder komplette Leere in ihm herrschen sollen. Er entscheidet sich für irgendetwas dazwischen.

Ich frage: ,,Was?"

Marina seufzt und verdreht die Augen. ,,Lassen wir das. Dir wird der Rest schon noch früh genug wieder einfallen, sobald du dich erst wieder eingelebt hast." Sie setzt sich grade hin. ,,Lass mich dir ein Lied vorsingen. Hör gut zu."

Sie beginnt zu singen und ihre Stimme ist wie Mondschein und Milch und Honig. Hell und klar, weich und kraftvoll zugleich - Ihre Stimme erweckt eine Sehnsucht in mir. Sie zieht mich zu ihr. Es ist unheimlich, ich weiß nicht wie mir geschieht. Gleichzeitig ist sie so schön, dass mir das Herz schmilzt. Nichts anderes als der Klang dieser Stimme scheint noch von Bedeutung zu sein. Ich kann mich kaum noch bewegen. Es fällt mir schwer mich überhaupt auf die Worte zu konzentrieren, die sie singt, aber schließlich schaffe ich es.

Trink von der Brust der Sirene 
und sing das selbst der Mond es hört
Das Schiff sich an den Felsen lehne
Dein Klang die Seemänner betört

Das Unheil ihrer schmutz'gen Hand
In unser Herz tief eingebrannt 
Drum, Wellentochter, tu dich rächen! 
Lass ihre Schreie dich nicht schwächen

Sing, auf das ihr Boot versinkt
Sing, bis jeder Mann ertrinkt
Auf das im frühen Morgenrot
Das Meer sei still, die Männer tot

Damit endet der letzte liebliche Ton. Marina fordert mich auf ihr nachzusingen. Ich weigere mich zunächst, aber sie lässt nicht locker bis ich es versuche.

,,Trink von der Brust der-" überrascht halte ich inne. Meine Stimme klingt genauso schön wie die von Marina. Betörend schön. Mir kommt ein Gedanke.

,,Sind wir diese Frauen?" Frage ich stockend. ,,Sind wir diese Schönheitskönniginnen aus der Geschichte?"

Marina lacht auf. ,,Haha! Du nicht, Schätzchen! Du bist die Tochter von jamaikanischen Fischern, deren Boot gekentert ist."

,,Ja-mai-ka-nisch..." Ich versuche das Wort zu wiederholen.

,,Aber, ich, ja." Sie wirft in einem Anflug von Stolz die Haare in den Nacken. ,,Ich war Miss Ägypten."

,,Ä-gyp-ten. Ja-mai-ka." Diese Worte sagen mir nichts. ,,Was soll das sein?"

,,Das sind Länder." Erklärt Marina und stöhnt ungeduldig. ,,Du hast wirklich gründlich was vergessen! Lass mich das hier lieber schnell zu Ende bringen, die Sonne geht bald unter. Was fehlt noch? Ach ja." Sie sieht mich an. ,,Hast du irgendwelche dringenden Fragen? Irgendetwas was nicht warten kann?"

Ich überlege. Ich habe tausend Fragen, aber weiß nicht wie dringend diese sind. Ich weiß doch immer noch kaum etwas. Und mit Allem, das ich jetzt weiß, bin ich restlos überfordert.

,,Warst du wirklich Miss Ägypten?" Frage ich dümmlich, weil mir nichts besseres einfällt.

Marina klatscht die Hände zusammen. ,,Ja! Nicht, dass ich mich noch wirklich daran erinnern kann. Ich habe seitdem schon drei Rituale hinter mir." Sie beugt sich vor. ,,Das heißt, dass ich schon dreimal die Milch getrunken habe. Das, was du gestern getan hast. Dabei verliert man sein Gedächtnis."

,,Ich habe gestern Milch getrunken?"

,,Ja! Die Milch der Sirenen. Genau deswegen bist du jetzt um fünfzehn Jahre verjüngert und kannst dich an nichts mehr erinnern!"

,,Oh." Mache ich. So wie Marina das sagt könnte man fast meinen das wäre etwas Gutes. Falls es überhaupt stimmt. Das Ganze klingt viel zu fantastisch um wahr zu sein. Ich sehe an mir hinunter. Meine Haare sind lang und schwarz, leicht gewellt und sie glänzen. Mein Körper ist der einer jungen Frau von noch nicht ganz zwanzig Jahren. Meine Glieder sind lang und dünn und von einem nassen, beinahe grünlichen Schimmer. Stirnrunzelnd sehe ich auf. Marinas Haut und Haare glänzen auf genau dieselbe Weise.

,,Lässt die Milch uns so aussehen?"

Sie nickt. Sie weiß sofort was ich meine.

Ich begreife langsam warum Marina so jung aussieht. Und so schön. Überhaupt begreife ich langsam. Ich habe von der Milch der Sirenen getrunken. Das ist also passiert. Deswegen fühle ich mich so.

,,Wieviele gibt es? Von uns?"

Marina überlegt kurz. ,,Sechsundzwanzig."

,,Und wir leben auf einer Insel?" Ich sehe mich um. Der einzige Weg diese Felshöhle zu verlassen ist durch den Spalt, durch den auch das Wasser reinkommt. Man müsste vielleicht nicht tauchen, aber man müsste schwimmen können. ,,Kann ich schwimmen?"

,,Ja." Marina lacht und ordnet ihre Haare.

Mir ist nicht nach lachen zu Mute. ,,Ja, was?"

,,Ja, wir leben auf einer Insel und ja, natürlich kannst du schwimmen."

Ich umarme meine Knie. Ich möchte hier raus. Ich möchte die Insel sehen. Ich möchte die anderen Frauen sehen. Ich möchte meinen Kopf wieder mit Bildern füllen. Ich möchte mich erinnern können.

,,Sind... Sind außer mir alle anderen Frauen die Schönheitskönnigen von damals?" Frage ich.

Marina schüttelt den Kopf. Auf einmal sieht sie sehr ernst aus. ,,Nur vierzehn von uns, wie gesagt. Weißt du, manche der Frauen haben von den Piraten Kinder bekommen. Die Jungen haben die Sirenen eingefordert, doch die Mädchen haben wir behalten. Es sind insgesamt fünf. Coraline, Maris, Greta, Selene und meine eigene Tochter Charisma."

Keiner dieser Namen sagt mir irgendetwas.

Marina ergänzt: ,,Die restlichen Frauen sind von den Schiffen."

,,Den Schiffen?" Ich weiß, was ein Schiff ist, aber ich weiß nicht was sie meint.

,,Den Schiffen, die wir zum Kentern bringen. Manchmal sind da auch Frauen drauf, in der letzten Zeit sogar immer häufiger."

Ehe ich weitere Fragen stellen kann schwimmt durch die Öffnung eine Gestalt in die Höhle. Sie richtet sich auf und watet durch das Salzwasser auf uns zu. Es ist ein Mädchen, etwa so alt wie ich. Sie ist völlig nackt.

,,Hallo, ich bin Maris. Mir wurde gesagt wir seien gute Freundinnen." Erklärt sie munter und ein wenig schüchtern. ,,Du bist doch die namens Lilith oder?" Sie mustert mich.

,,Ah." Mache ich und lächle ein wenig. ,,Ja."

Ich kann mich nicht daran erinnern eine Freundin gehabt zu haben, aber Maris sieht nett aus. Ich kann mir vorstellen, dass ich sie mögen würde.

Etwa einen halben Meter voneinander entfernt stehen wir und schauen uns an. Sie sieht nett aus, aber eben wie eine Fremde. Ich blinzele. Welche Gespräche haben wir wohl miteinander geführt? Welche Geheimnisse geteilt?

,,Ich hoffe, dass das stimmt mit der Freundschaft." Flüstert Maris. ,,Ich möchte nicht alleine sein."

Sie sieht ganz verloren aus, wie sie da steht. Ohne Kleidung und völlig durchnässt. Ängstlich. Ich sehe ihr in die Augen und versuche ihr zu verstehen zu geben, dass ich gerne wieder ihre Freundin sein will, es immer noch bin, aber wir uns in diesem Moment noch fremd sind.

Wir werden von Marina unterbrochen, die aufsteht und in die Wellen stolziert, die das Meer durch die Öffnung der Höhle hinein- und hinausspült.

,,Kommt, Mädchen!" Marina dreht sich um und zeigt eine Reihe perlweißer spitzer Zähne. ,,Die anderen warten. Es wird Zeit das wir jagen gehen."

Maris und ich wechseln einen Blick. Wir verschränken unsere Finger miteinander, dann folgen wir der hochgewachsenen Frau durch die Öffnung der Höhle in das mondbeschienene Wasser.

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