2.Kapitel

Wir laufen einmal quer über die Insel, dahin wo die Felsgrotten sind. Kleine, harte Kiesel bohren sich in meine Fußsohlen. Alles hier ist steinig und es gibt wenig Vegetation. Deshalb haben die Menschen unsere Insel auch so lange verschmäht. In den letzten Jahrzehnten kamen immer mehr Schiffe, aber wir und die Sirenen sorgen schon dafür, dass kein Mann von ihren Besatzungen lange genug überlebt, um Fuß auf die Insel zu setzen. Die Frauen auf den Schiffen lassen die Sirenen entweder ertrinken oder sie bringen sie zu uns. Ein nicht unermesslicher Teil unserer Schwestern ist auf diese Weise zu uns gestoßen. So war es auch bei mir.

Meine Eltern waren jamaikanische Fischer, deren Boot gekerntert ist. Das wurde mir zumindestens erzählt, ich weiß es ja nicht mehr. Saga, die Mutter von Maris, meinte die Sirenen fanden wohl irgendetwas an mir besonders. Sie brachten mich den ganzen weiten Weg hierher. Ich war vierzehn Jahre alt damals und laut den anderen Frauen ganz schön schwierig zu handhaben. Sie sagen, ich hätte jede Nacht geweint und nach meinen Eltern geschrien. Sie waren froh als sie nach ein paar Jahren endlich das Ritual mit mir machen konnten und das jegliche meiner Erinnerungen auslöschte. Manchmal hasse ich sie dafür.

Ich weiß nichts mehr von der Person, die ich vorher war. Ich weiß nichts mehr von meinen Eltern, meiner Kindheit, meinen Wurzeln. Ich weiß nicht mal mehr meinen eigenen Namen. Sie nennen mich Lillith hier. Der Name gefällt mir eigentlich nicht, aber ich würde auch keinen anderen wollen. Der einzige Name, den ich will ist mein echter. Ich habe Brenda, eine der alten Frauen, die sich nach meiner ersten Prozedur um mich gekümmert hat, angefleht mir meinen alten Namen zu verraten, aber sie hat sich geweigert.

,,Das ist für dein Bestes, Liebes." Hat sie gesagt und mir den Kopf gekrault. ,,Wir wollen, dass du dich hier wohl fühlst und es kann sein, dass dieser Name dich für immer nur an das erinnern wird, was du verloren hast. Es ist besser neu anzufangen, hm?"

Was sie damit meint ist nicht nur mein Gedächtnis. Es geht wohl auch darum, dass meine Eltern ertrunken sind und die Sirenen meinen Vater ziemlich sicher gefressen haben. So viel habe ich mir zusammengereimt. Alles was ich sonst noch von meiner Vergangenheit weiß, habe ich durch Zufall erfahren, weil eine der Frauen sich verplappert hat. Ich weiß, dass ich früher Englisch gesprochen habe, mit einem starken jamaikanischen Akzent. Manchmal haben die anderen Frauen mich überhaupt nicht verstanden. Angeblich habe ich mich oft geweigert mein Essen aufzuessen und soll sehr bockig gewesen sein. Ich weiß nicht ob das stimmt. Wie gesagt, ich weiß nichts mehr von vor dem Ritual.

Wir laufen an der Kiste mit den Büchern vorbei, die wettergeschützt unter einem Felsvorsprung steht. Papier und Nässe vertragen sich nicht gut, doch zum Glück ist die Kiste aus Metall und verschließbar. Ich bleibe stehen und nehme ein Buch in die Hände. Es ist Die Schatzinsel, eine Geschichte die ich oft gelesen habe und mag, weil es um Inseln, Piraten, das Meer und andere Dinge geht mit denen ich etwas anfangen kann. Manchmal lese ich nämlich etwas und verstehe kein Wort, weil es um soviele Dinge geht, die mir unbekannt sind.

Auf einmal kommt mir eine Idee. Ich bitte Maris kurz zu warten und krame nach dem Bleistift, der in der Kiste liegt, mit dem ich manchmal besonders gute Stellen in den Büchern unterstreiche.

Man nennt mich Lillith. Kritzele ich auf die erste Seite von des Romans.

Ich werde gleich zum zweiten Mal die Milch der Sirenen trinken und mein Gedächtnis verlieren. Ich bin die Tochter von jamaikanischen Fischern. Meine beste Freundin ist Maris. Eigentlich heiße ich anders, aber ich weiß nicht mehr wie. Ich lese gerne.

Was noch? Ich überlege kurz. Ich schreibe: Ich möchte die Welt sehen.
Dann lege ich das Buch zurück, schließe die Kiste und mache mich mit Maris auf dem Weg zum Nordstrand, wo die vielen Felsen sind. Ich fühle mich etwas besser. Viel habe ich zwar nicht aufgeschrieben, aber es ist etwas. Und den Rest wird mir eine der Frauen morgen früh erzählen.

,,Da seid ihr ja endlich!" Charisma sitzt am Wasser und starrt uns entgegen, eine Falte zwischen den schwarzen Augenbrauen. ,,Ich dachte schon wir müssten euch holen kommen."

Charisma ist die Tochter von jener Frau, die 1953 als Miss Ägypten angetreten ist. Ihre Mutter heißt Marina. Wie sie mit Nachnamen heißt vergesse ich immer, aber das ist nicht weiter wichtig, denn sie hat ihn schon vor langer Zeit abgelegt. Wir sind so wenige hier, dass keine einen Nachnamen braucht.

Charisma ist hübsch. Mit vollen Lippen und ausdrucksvollen braunen Augen, die vermutlich auch ohne Sirenenmilch groß wären. Ihr Haar ist dunkel wie meins, aber im Gegensatz zu mir trägt sie es fast jeden Tag geflochten oder mit Klammern verziert. Sie liebt Schmuck. Haarklammern, Ketten, Armbänder - Alles was irgendwie glänzend ist macht sie verrückt. Wenn sie an Bord der Schiffe keinen Schmuck findet, dann bastelt sie sich ihn selber. Aus Muscheln oder Perlen, die wir manchmal in den Austern finden die wir essen.

Ich seufze. Charisma hat leicht reden. Sie hat die Prozedur für ihren zweiten Kreislauf schon hinter sich. Sie muss heute Abend nicht mitmachen sondern kann sich zu den Zuschauern gesellen.

,,Jetzt sind wir ja da!" Sagt Maris etwas schroff. Sie und Charisma geraten öfter aneinander, was eher an Charisma liegt als an Maris. Charismas Temperament ist stürmisch und wechselhaft wie die See, während Maris eher so ist wie unsere einzige Süßwasserquelle auf der anderen Seite der Insel, die zu jeder Tageszeit sanft und fröhlich vor sich hinsprudelt. Ich komme mit beiden Mädchen gut klar, aber das vermutlich nur, weil ich so wenig rede.

,,Freut ihr euch?" Fragt Charisma. Ich schüttle kommentarlos den Kopf.

Charisma liebt die Rituale. Sie würde vermutlich jedes einzelne Mal selber daran teilnehmen, wenn sie könnte. Auf eine Art verstehe ich das. Die Milch der Sirenen macht uns nicht nur wieder jung, sondern sie macht uns auch den Sirenen ähnlicher. Rein äußerlich tut sie das auf eine Weise die als schön wahrgenommen werden kann. Wir werden größer und dünner, als wären unsere Gliedmaßen in die Länge gezogen worden. Unsere Haare werden unnatürlich weich und glänzend, unsere Haut schimmert mit jedem Ritual ein wenig mehr. Unsere Augen werden größer, und unsere Gesichter definierter. Wir werden bessere Schwimmer und fantastische Taucher, die sowohl Tiefe als auch Kälte gegenüber gleichgültig sind. Wir können unter Wasser lange die Luft anhalten und  auch im Dunkeln gut sehen. All das nur durch Milch und Mondlicht. Ich kann schon verstehen warum Charisma und einige andere davon nicht genug kriegen können.

Gleichzeitig verstehe ich es überhaupt nicht. Die Prozedur ist für mich etwas, was mich beraubt. Sie beraubt mich meinem Gedächtnis, meinem Alter, meinen Erfahrungen, meiner Menschlichkeit. Und das ist noch nicht alles: Ich glaube, wenn du die Sirenenmilch trinkst verwandelst du dich nach und nach etwas mehr in eine. Manche von den ehemaligen Schönheitskönniginnen haben schon drei bis vier Rituale hinter sich. Sie sehen sirenenhafter aus als wir anderen, meiden die Sonne, und fühlen sich im Wasser wohler als an Land. Es graust mir davor zu denken sie könnten irgendwann zu echten Sirenen werden. Oder was wenn ich irgendwann zu einer echten Sirene werde?

Ich schauder. Das wäre mein schlimmster Alptraum. Zu einem dieser grässlichen Wesen werden, die in der Tiefsee hausen und Menschenfleisch fressen. Glücklicherweise ist heute erst meine zweite Prozedur.

Charisma runzelt die Stirn. ,,Wieso freust du dich denn nicht?"

,,Lillith hat Angst vor dem Vergessen." Sagt Maris. Ich stoße sie in die Seite. Charisma sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. ,,Warum das denn? Also, ich nicht, ich liebe das Vergessen. Das Vergessen ist doch der beste Part!"

Ich verdrehe die Augen. Vermutlich will Charisma am liebsten jeden Tag aufs Neue vergessen, dass ihre Mutter sie nicht liebt, denn das ist kein Geheimnis. Ich spreche diesen Gedanken aber nicht aus, denn so grausam könnte ich niemals sein.

,,Das finde ich nicht, aber es ist ein Preis, den es wert ist zu zahlen." Sagt Maris diplomatisch. Vielleicht hat sie recht.

Nach und nach treffen die anderen ein. Wir sind sieben, die heute die Milch trinken werden. Maris, Luna, Estelle, Coraline, Rhea, Selene und ich. Der Rest wird zusehen und helfen.

In andächtiger Stille warten wir auf den Mond und auf die Sirenen. Sie erscheinen fast lautlos, als es schon stockfinster ist. Normalerweise sind es nur zwei oder drei die die Milch bringen, aber heute sind es fünf. Sie begrüßen uns mit hohen, zischelnden Lauten und wir neigen unsere Köpfe vor ihnen.

Brenda und Chavatzelet, die einst Miss England und Miss Israel waren, halten eine Rede. Sie erzählen von dem Schiff das einst die Teilnehmerinnen von einer der ersten Miss World Schönheitswettbewerbe von England nach Nordamerika bringen sollte, aber unweit dieser Insel von Piraten gekentert wurde. Sie erzählen davon wie die Piraten die Frauen vergewaltigt haben und die Sirenen es sahen und sie rächten. Sie erzählen von dem heiligen Pakt, den wir seitdem mit den Sirenen haben und zum Schluss singen sie unser Lied. Wir fallen alle mit ein.

Als der letzte Ton verklangen ist und der Mond hoch oben in der Mitte des Himmel steht, ziehen Maris, ich und die anderen unsere Kleider aus und waten ins Meer. Die Wellen sind sanft heute Nacht. Sie umspülen uns und heißen uns willkommen wie alte Freunde. Die Sirenen übergeben uns ihre Milch, in Behälter die von gesunkenen Schiffen stammen gefüllt. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper. So nah bin ich den Sirenen sonst selten. In ihren schwarzen Augen spiegelt sich das Mondlicht. Ich werde mich wohl nie an ihren Anblick gewöhnen.

Bis zum Hals im Wasser stehend tauschen Maris und ich einen letzten Blick. Meiner ist nervös, ihrer freudig.

,,Versprich mir, dass wir befreundet bleiben werden!" Zische ich ihr zu.

Sie lächelt. ,,Versprochen."

Schon morgen wird dieses Versprechen vergessen sein.

Auf ein Zeichen der Priesterinnen hin heben wir die Gefäße an die Lippen. Ich unterdrücke ein Würgen. Die Milch riecht fischig und ist furchtbar ölig, ganz wie ich sie in Erinnerung hatte. In der stahlgrauen Trinkflasche mit schmaler Mundöffnung kann ich sie nicht sehen, aber das macht es kaum besser.

Mit der einen Hand halte ich mir die Nase zu, mit der anderen hebe ich die Flasche an die Lippen. Jetzt gilt es konzentriert zu bleiben. Ein kleiner Schluck entspricht dem Abzug von etwa fünf Jahren Menschenleben, ein großer dem Abzug von zehn. Ich müsste ungefähr fünfzehn Jahre jünger werden, damit ich wieder grade so eine ausgewachsene Frau bin.

Den kleinen Schluck trinke ich zuerst. Danach folgen noch zwei große, doch zwischendurch muss ich Husten und ein Teil der Milch kommt meine Speiseröhre wieder hinaufgeschossen. In diesem kurzen Moment sehe ich vor meinem inneren Auge eine schnelle Folge von Bildern.

Ich sehe Strände mit kristallklarem Wasser, Palmen und Bäume, wie in meinen Büchern. Gerichte mit bunten Gewürzen drin. Eine Frau die Netze repariert. Ein fröhlicher alter Fischermann, mit wettergegerbter brauner Haut, der lacht ohne einen Ton von sich zu geben. Ich spüre, wie ich klein bin  und auf dem Bug eines bunt gestrichenen Kanus balanciere und die sonnige Lagune hinabschaue. Ich sehe die Ufer zu beiden Seiten und noch mehr bunte Kanus wie das auf dem ich bin. Dann drehe ich mich um, weil jemand meinen Namen ruft, aber ich höre ihn nicht. Ich weiß nur, dass er gerufen wird. Mein Name. Mein echter Name. Ich schlucke heftig. Dann ist die Erinnerung, oder was auch immer es war, vorbei.

Ich trinke die letzten zwei Schlucke und merke wie mir die Flasche  abgenommen wird. Das Mondlicht spiegelt sich auf den Wellen und ich schwanke. Mein ganzer Körper wird schwer.

Kurz bevor ich ohnmächtig werde spüre ich noch wie mich jemand aus dem Wasser zieht.

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