11.Kapitel

Ich höre, wie ihr der Atem stockt. ,,Was?" Wimmert sie. ,,Wie kommst du denn darauf?"

,,Das Messer." Ich nicke zu dem Objekt auf dem Felsboden, dessen heller Klang ziemlich unverwechselbar Metall war. Zwar kann ich es nicht gut sehen, aber in der Seitentasche meines Rucksacks befindet sich eine Taschenlampe. Ich ziehe ihn im Dunkeln zu mir heran und taste, bis ich den Reißverschluss finde. Meine kalten Finger krallen sich um das vertraute, röhrenförmige Objekt und finden den Einschaltknopf. Ein paar Sekunden später flackert ein heller Lichtstrahl auf, den ich auf das Objekt auf dem Boden richte, wie einen Scheinwerfer.

Es ist ein Küchenmesser, das dort liegt. Sieht ziemlich scharf aus. Ich stelle mir vor, dass es aus der Kombüse eines Luxus Kreuzfahrtschiffes stammt, wo 5 - Sterne Köche von morgens bis abends schnippeln und schneiden, um den Gästen drei Mal am Tag erlesene Menüs zu servieren, aber genauso gut könnte es natürlich auch von irgendwo anders herstammen. Jetzt liegt es jedenfalls hier.

Ich richte den Lichtstrahl auf Liliths Gesicht. Sie kreischt und schlägt sich in einem Ausdruck von echtem Schmerz die Hände über die Augen. Sofort senke ich die Lampe und fühle mich schlecht, weil ich sie geblendet habe. Verrückt eigentlich. Sie hat versucht mich umzubringen.

,,Warum?" Frage ich barsch, die Taschenlampe auf den Boden gerichtet. Das Messer ruht in dem kreisrunden Lichstrahl wie ein wertvolles Objekt in einem Museum. ,,Warum hast du mich damals nicht einfach ertrinken lassen wie die anderen? Wie Gary?!?" Seinen Names auszusprechen tut weh. Ich unterdrücke ein Schluchzen.

Lillith nimmt langsam die Hände von den Augen. Durch das Licht der Taschenlampe kann ich ihr verweintes Gesicht und ihre schmerzerfüllten dunklen Augen sehen. Sie zittert. ,,Ich- Ich wollte dich wirklich nicht... Ich wusste einfach nicht was ich sonst tun soll!" Verzweifelt krallt sie die Finger in ihre Haare und schüttelt wiederholt den Kopf. ,,Aber ich kann nicht! Ich kann es nicht!"

Ich schnaube verächtlich. Soll mich das etwa beruhigen? Wenig beeindruckt nehme ich das Messer an mich, und halte mit der anderen Hand die Taschenlampe grade. Ich bin bereit sie wieder zu blenden, sollte sie Anstalten machen sich zu bewegen, was sie nicht tut.

Mein Herz klopft. Es ist interessant. Ich hatte schon bei unserer ersten Begegnung den Eindruck, dass sie im Dunkeln irgendwie besser sieht als normale Menschen, aber dass diese Fähigkeit auch mit einer erhöhten Lichtempfindlichkeit zu kommen scheint, kommt mir jetzt zugute. Solange ich die Taschenlampe habe, kann sie mir nichts tun.

Wir sehen uns an. Ihr Blick ist ängstlich, verstört, reuevoll, aber das könnte auch alles nur gespielt sein. Ich, für meinen Teil, bin stinkwütend.

,,Warum kannst du nicht?" Fordere ich laut zu wissen. ,,Warum konntest du alle anderen töten, aber nicht mich? Antworte mir!" Wieder richte ich den Lampenstrahl direkt in ihre Augen. Sie schreit vor Schmerz auf und kneift sie zu.

Ich krieche näher, die Lampe vor mich gereckt, wie ein gezogenes Schwert. ,,Antworte mir!"

Keine Antwort. Sie schnieft nur und vergräbt ihren Kopf hinter den Ellbogen, um sich vor dem Licht zu schützen.

Jetzt bin ich direkt vor ihr. Ich reiße ihr mit Gewalt den Arm vom Gesicht und zwinge ihre Hand auf. ,,Was-" ängstlich versucht sie sich loszureißen, aber in meiner Wut bin ich stärker als sie. Schraubstockhaft legt sich meine Faust fest um ihre und drückt den Messergriff hinein. Provozierend bringe ich Lilliths Hand, und damit die Klinge, zu meiner Kehle.

,,Tu's doch einfach!" Brülle ich. Ich bin wie von Sinnen. ,,Tu's doch einfach! Bring es zu Ende!"

,,Nein, Stop!" Verzweifelt versucht sie wieder und wieder den Arm zurückzuziehen. ,,James," wimmert sie, ,,Bitte hör auf! Lass das!" Sie weint noch stärker. ,,Bitte lass mich los!"

Ich lasse sie nicht los. Stattdessen bringe ich die Klinge noch näher an meinen Hals, bis ich spüre, wie das kalte Metall meine Haut ritzt. Meine hasserfüllten Augen bohren sich in ihre. ,,Was ist? Hast du etwa Angst, huh? Angst mich umzubringen, so wie du Gary umgebracht hast?"

,,Ich habe deinen Freund nicht umgebracht!" Weint sie verzweifelt. ,,Das waren die Sirenen!"

Die Sirenen?! Kurz dringt eine Spur logisches Denken durch meinen emotionalen Nebel und ich überlege von ihr abzulassen. Was tue ich hier überhaupt grade? Welchen Plan verfolge ich damit?

Ich blinzele langsam und entferne den Druck des Messers von meiner Kehle. Mein Hals fühlt sich feucht an. Blut? Es könnte auch von Lilliths Tränen sein, aber als ich nach unten schiele, sehe ich tatsächlich einen schmalen, länglichen Schnitt, der blutet. Ich habe mich selber mit dem Messer geschnitten. Besser gesagt, Lillith gezwungen mich zu schneiden.

Kopfschüttelnd wechsel ich den Griff und drücke das Messer, statt an meine, jetzt an Lilliths Kehle. Meine Hände schwitzen wie verrückt. Es ist das erste Mal, dass ich so etwas tue, und grade bei einem weinenden Mädchen fühlt es sich falsch an. Andererseits hat genau dieses weinende Mädchen grade versucht mich im Schlaf umzubringen, deswegen ist Ritterlichkeit hier fehl am Platz.

Provozierend frage ich: ,,Was ist los? Du willst mich nicht mehr umbringen?" Meine Stimme klingt kalt und fremd. Wie von einem anderen, einem Geisteskranken. Ich erschrecke vor mir selber.

Lillith schüttelt zitternd ganz leicht den Kopf. ,,Nein. Ich hab's dir doch gesagt, ich kann nicht!"

,,Warum kannst du nicht?"

,,Weil ich einfach nicht kann!" Sie kneift die Lippen zusammen und sagt nichts weiter.

Weil sie nicht kann, denke ich. Das ich nicht lache. Plötzlich ergreift mich eine eigenartige Ruhe. Ich frage: ,,Also wirst du es nicht noch einmal versuchen?"

Sie sieht mich mit großen Augen an und beteuert: ,,Nein!"

Okay. Aufseufzend nehme ich das Messer von Lilliths Hals und lasse von ihr ab. Ich habe keine Angst mehr vor ihr und ich möchte ihr auch nicht mehr wehtun. Die Wahrheit ist: Sie tut mir Leid. Wie sie so zitternd und weinend vor mir auf dem Felsboden kauert würde sie jedem Leid tun. Das schlechte Gewissen zwickt mich. ,,Hab ich dir wehgetan?"

Sie starrt mich ungläubig an. ,,Die Frage ist eher: Hast du dir wehgetan?"

,,Nein," sage ich und betaste meinen Hals. Besonders stark scheint der Schnitt nicht zu bluten und tatsächlich spüre ich den Schmerz nicht wirklich. Muss das Adrenalin sein.

Ich versuche Lillith anzulächeln, die dasitzt wie ein Häufchen Elend. Zurück zur ursprünglichen Taktik, James! Nett sein. Vertrauen gewinnen. Lillith ist mein einziger Kontakt auf dieser Insel. Ohne sie hätte ich bis jetzt vielleicht gar nicht so lange überlebt. Sie hat mich mit Trinkwasser, Essen und Informationen versorgt. Ihr jetzt weh zutun oder sie einzuschüchtern ist das Dümmste was ich machen kann, denn dann wird sie mir erst recht nicht mehr helfen. Ohne Lillith sinken meine Überlebenschancen alleine auf dieser Insel von, keine Ahnung, null auf minus eins. Ich atme tief ein und aus und zwinge mich zur Ruhe.

,,Es tut mir Leid," sage ich sanft. ,,Ich wollt dir keine Angst machen."

Lillith schweigt. ,,Ist schon okay," meint sie schließlich leise. ,,Ich wollte dir auch keine machen."

Ich schnaube. ,,Nein, du wolltest mich umbringen."

Sie ringt die Hände. ,,Ich dachte es geht nicht anders," erklärt sie stockend.

Ich warte, dass sie das noch etwas genauer erklärt, aber da kommt nichts mehr. Lillith schweigt beharrlich, deshalb übernehme ich wieder den Gesprächsfaden.

,,Warum sollte es nicht auch anders gehen? Es muss einen anderen Weg geben!" Ich krieche näher auf sie zu und nehme ihre Hand, eine, wie ich hoffe, freundschaftlich - bittende Geste. ,,Lillith, hör mir zu. Ich werde keiner Menschenseele je irgendetwas erzählen, von dem was ich hier gesehen habe und von dem was du mir erzählt hast! Die Welt wird nichts von den Sirenen erfahren und auch nichts von euch. Ist das das was dir Sorgen bereitet?"

Ich suche in ihrem Gesicht nach einer Reaktion, aber sie hält den Kopf gesenkt. Die schweren langen Haare verdecken Wangen, Mund und Augen fast vollständig.

Ich seufze. ,,Ich kann hier nicht bleiben, das wissen wir beide. Du kannst mich aber auch nicht töten. Das hast du selber gesagt."
Ich mache eine Pause, um zu schlucken, bevor ich mit rauer Stimme erkläre: ,,Ich möchte hier weg, Lillith. Ich möchte zurück zu meinen Eltern und zu meinen Freunden. Sie denken bestimmt ich wäre tot."

Verdammt! Eigentlich wollte ich versuchen ein wenig an Liliths Mitleid zu appellieren, aber bei dem Gedanken an Mum, Dad, Cieran, Joe, Percy und Josslyn, kommen stattdessen mir die Tränen. Zitternd frage ich: ,,Wirst du mir helfen von hier wegzukommen, Lillith? Zurück zu meinen Eltern und Freunden?"

Sie schweigt. Wickelt mein Hemd, das sie immer noch trägt, enger um ihren Körper und schweigt.

,,Selbst wenn ich wollte, ich weiß nicht wie," sagt sie schließlich mit rauer Stimme. ,,Ich kann selber nicht von hier weg."

,,Vielleicht mit einem Boot?" schlage ich hoffnungsvoll vor. Die Frauen hier müssen doch Boote haben. Oder Flöße. Irgendetwas das schwimmt.

Lillith sieht auf und schüttelt verwirrt den Kopf. ,,Die sind doch alle gesunken," sagt sie, als wäre das selbstverständlich.

,,Ihr habt also keine eigenen Boote?" Hake ich nach. Ich muss einfach ganz sichergehen. Sie verneint.

,,Wie kommt ihr denn dann von einem Ort zum andern?" Aufmerksam sehe ich sie an. ,,Oder bleibt ihr etwa die ganze Zeit hier?"

,,Wir bleiben die ganze Zeit hier. Wo sollen wir denn auch hin?" Fast wirkt sie belustigt.

,,Ich weiß nicht. Einkaufen oder so." Ich lächle. ,,Irgendwas müsst ihr doch essen."

,,Wir haben genug zu essen. Fisch, Krebse, Muscheln, Algen," zählt sie auf. ,,Oktopusse. Essen von den Booten."

Okay. Ich nicke konzentriert. ,,Lillith, wie weit entfernt liegt diese Insel von anderem Land? Ich meine, wenn man schwimmt?"

Wenn es keine Möglichkeit gibt diese Insel per Boot zu verlassen, es keine Möglichkeit gibt Hilfe hierherzurufen und es nicht so aussieht, als würde bald von alleine ein grellbunt gekleideter Suchtrupp für mich hier erscheinen, dann bleibt mir eigentlich nur noch eines übrig: Zu versuchen zu schwimmen.

Mein Herz klopft. Ich bin kein schlechter Schwimmer, aber auch nicht weltklasse. Trotzdem glaube ich, dass ich es schaffen könnte vielleicht sechs oder sieben Stunden durchzuschwimmen. Jedenfalls wenn Lillith mir aus einem der vielen Wracks noch eine Rettungsweste besorgen könnte, die mich entlastet. Allerdings droht die Gefahr, schon nach ein oder zwei Stunden auszukühlen... Und ich kenne die Strömungen hier nicht. Gebannt sehe ich Lillith an und warte auf ihre Antwort.

Sie zuckt mit den Schultern. ,,Das weiß ich nicht. Aber ich kann morgen losschwimmen und es rausfinden."

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