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Meine Familie und ich lebten zeit meines Lebens in Dachau. Das ist der Grund, warum einige Ereignisse dieses Werkes sich dort ereignet haben.



Hach, Dachau, die kleine große Stadt, die sich in Nähe zu München befindet. Dieses Stück Kunst, welches im Schmutz und Staub der Industrialisierung angefangen hat zu verkommen. Doch ich darf eigentlich gar nicht zu laut über die Eisenbahnindustrie schimpfen, immerhin verdiente sich meine Familie mit der Pulver und Munitionsfabrik auch eine kleine goldene Nase. Auch wenn wir nie am Hungertuch nagen mussten, an das Reichtum unserer Vorfahren wird meine Familie nie wieder herankommen. Ländereien konnten meine Eltern keine mehr groß vorweisen, gewiss, mein Elternhaus im viktorianischen Stil am Stadtrand ist ein beachtlicher Wohnsitz, denn ich nach wie vor sehr schätze, doch an die Sommerresidenz, die mein Onkel geerbt hat, kommt es bei weitem nicht heran.



Eines der ersten Ereignisse, über die ich hier nennenswert berichten möchte, ereignete sich am 9. Juli 1914, wie bereits angekündigt in Dachau.



Mein Bruder ist ein paar Jahre älter als ich, genauer gesagt 5. Während ich im zarten Alter von 10 Jahren war, war mein Bruder bereits 15, also schon ein ordentlicher Knabe, wie mein Großvater stets zu sagen pflegte.



An diesem schönen Sommertag lief ich, an der Hand meiner Mutter, durch die Altstadt. Es war wie immer ein kleines Treiben, Zeitungsverkäufer, Kaffeehäuser, rauchende Männer, die mit ihren Ehefrauen durch die Straßen liefen, oder eben alleine auf Bänken saßen.



Mein Vater hatte meinen Bruder neben sich. Ich triefte an diesem Tag schon den ganzen Tag vor Neid. Mein Bruder würde in Zukunft auf das Gymnasium gehen. Schon seit Stunden und Tagen belobigte ihn die ganze Familie dafür. Nicht nur war es schlimm genug für mich, dass er so hervorgehoben wurde, nein das hatte auch zur Konsequenz, dass der Blick auf mich skeptischer wurde.



Gewiss rückblickend betrachtet, stellte wohl keiner mehr Erwartungen an mich als sittsam, höflich und ordentlich zu sein. Eine Dame, wie es sich gehörte, doch für die 10-jährige Henriette war es eine Qual. Meine Mutter liebte es, mich stets auf meine Haltung aufmerksam zu machen, auch auf jede Falte in meiner Kleidung. Ich glaube mein ständiges Verlangen nach Perfektion und Ordnung liegt ganz tief dort irgendwo vergraben.



Den ganzen Tag war ich schon schlecht gelaunt, doch meine Mutter zwang mich förmlich zu einem Lächeln, immerhin waren wir in der Öffentlichkeit. Ich habe aus Trotz extra nicht gelächelt. Doch lauschte mit absoluter gelangweilter Haltung der Konversation meiner werten Eltern. Ich glaube, es ging um irgendwas Belangloses.



Ich habe schon immer den Drang, mein Umfeld genau zu beobachten. Auf jeden Fall war meine Aufmerksamkeit bei einem Paar, es waren eine Frau und ein Mann, in etwas ärmlicher Kleidung, wohl eher die Unterschicht.



Er war laut, schrie, schien alkoholisiert zu sein und sie stand völlig verängstigt daneben. An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern, doch ich kann mich bis heute sehr genau an einen Satz erinnern.



„Sieh dich nur an, Weib! Ohne mich bist du gar nichts! Ohne mich kannst du gar nichts!"



Ich weiß gar nicht, wieso das mein 10-Jähriges ich so beschäftigt hat, doch ich weiß, dass ich den ganzen langweiligen Spaziergang über diese Worte nachgedacht hatte. Warum sollte denn eine Frau ohne einen Mann gar nichts können? Gewiss waren mir die gesellschaftlichen Regeln und Normen der Zeit bewusst und bekannt, doch ich verstand sie damals nicht. Also schon. Doch ich verstand die pure Logik dahinter nicht.



Gewiss Männer waren körperlich stärker, dafür fehlte ihn oft Feingefühl oder zumindest eine Spur Scharfsinn. Zumindest die Männer, die ich bis dahin kannte. Wilhelm war dermaßen überheblich, dass er oft die Realität völlig verschätzte und ohne das Geld unserer Familie wohl kaum auf das Gymnasium gehen würde. Und mein Vater, der hatte seine Gehirnzellen wohl nie richtig benutzt, das hatten immer andere für ihn getan. Der einzige Mann, der in diese Theorie nicht passte, war mein geschätzter Onkel Eduard.




Nun der Tag war recht ereignislos, doch ich weiß, dass ich an diesen Tag immer noch beschäftigt war. Eigentlich hatte mich das Hausmädchen schon ins Bett gebracht, doch da ich immer noch keine Antwort auf meine Frage hatte, wollte ich mit meinen Eltern reden. Gewiss, sie ließen mich nicht dumm. Ich bekam eine Ausbildung zu Hause, ein Privatlehrer kam zweimal die Woche und unterrichte mich in Allgemeinbildung, Lesen, Schreiben, Mathematik und im Umgang mit dem Klavier. Doch die Worte des Mannes ließen mich nicht los. Hieß das etwa, wenn ich etwas ohne einen Mann sein wollte, müsste ich mir so viel Bildung wie möglich aneignen? Und wenn ja, reichte meine Bildung dann aus?




Ich weiß noch, dass ich ohne Strümpfe über das dunkle Paket gelaufen bin und die Ruhe meiner Eltern im Salon gestört habe. Mein Vater war am Lesen gewesen und meine Mutter, ich meine, sie hatte gestickt. Zornig war mein Vater allemal, dass ich gegen die Anweisung nicht im Bett lag. Doch meine Mutter konnte ihn beschwichtigen, das konnte sie immer sehr gut.
Meine Gedanken und Ideen, die ich hatte, sprach ich lieber nicht aus, ich wusste wie empfindlich Vater sein konnte, wenn es um etwas Neues ging, etwas was die Gesellschaft anzweifelte oder ihr gar widersprach. Deswegen beließ ich es bei der Frage, ob ich denn nicht etwas mehr Bildung bekommen könnte. Ich war ein kluges Kind, ich schob es darauf, dass ich ja kaum soziale Kontakte hätte, da ich ja fast nur zu Hause wäre.




Mein Vater erklärte mir, dass er mich nicht auf eine öffentliche Schule schicken würde. Ich weiß noch, dass ich lange diskutiert habe mit ihm. Das war die wirklich erste Streiterei, wo ich hartnäckig und dickköpfig war. Ich hatte mir das mit der Schule in den Kopf gesetzt, das wollte ich unbedingt! Ich wollte nicht so enden wie diese Frau auf der Straße. Nicht so armselig und unfähig sich zu wehren. Nein, selbst mit zarten 10 Jahren hatte ich schon eine ordentliche Menge Stolz, vielleicht nicht angemessen, doch darüber lässt sich streiten.




Meine Eltern waren es wohl irgendwann leid gewesen, doch sie hatten eingelenkt, ich würde auf eine Schule gehen, auf eine private Höhere Töchterschule, genauer gesagt auf das Karolinen-Gymnasium in Rosenheim.



Rückblickend betrachtet habe ich damals die ersten wichtigen Lektionen für den Grundstein meines Lebens gelernt:



Sei hartnäckig und halte an deinem Ziel fest!

Und die zweite, noch wichtigere Lektion:

Mache dich niemals so abhängig von einem Mann, dass du dich auf öffentlicher Straße beschimpfen lassen musst und dich nicht im Stande siehst, dich zu wehren.

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