Die Melodie Deines Lebens

Eine unangenehme Stille, ein Schweigen, das mich zu erdrücken droht, belagert den Raum, als sich meine Finger langsam und zaghaft in Richtung der schwarzen und weißen Tasten bewegen. Schwarz und Weiß, Ying und Yang, Gut und Böse? Meine rechte Hand beginnt zu spielen, während die linke weiterhin geduldig auf ihren Einsatz wartet. Von hinten spüre ich, wie sich die prüfenden Blicke meiner Eltern tief in meinen Rücken bohren. Sie wissen, ich werde es nicht hinbekommen. Sie wissen es, und dennoch foltern sie mich. Ich sei schon immer ein hoffnungsloser Fall gewesen, sagen sie. Unfähig. Des Familiennames unwürdig. Erst wenn ich ein Instrument perfekt beherrsche, passe ich in das verzerrte Bild, das die Gesellschaft von uns verlangt.

»Deine Großmutter war die bekannteste Pianospielerin im ganzen Land«, pflegt mein Vater stets zu sagen. Jedes Mal, wenn ich ein Stück nicht so perfekt spiele, wie sie es von mir verlangen, werde ich mit der Vergangenheit meiner Vorfahren konfrontiert. Ich habe es satt, aber das darf ich nicht laut sagen. Denn sie haben so schon genug von mir.

»Heute Abend erklingt die beliebteste Symponie weit und breit im Theater und du könntest ein Teil davon sein, wenn du dir nur einmal Mühe geben würdest!«, höre ich meine Mutter hinter mir schimpfen. »Deine Großmutter Eleanor war dafür bekannt, das Solo zu spielen und sie spielte es so wundervoll. Ich wünschte, du wärst mehr wie sie und würdest eines Tages sogar an ihrer Stelle stehen... «

Mit aller Mühe versuche ich, die richtigen Tasten im richtigen Moment zu treffen, aber so sehr ich mich auch bemühe - es möchte mir einfach nicht gelingen.

»Die Musik ist das, was du aus ihr machst, Amelia«, hallt ihre Stimme in meinen Gedanken wider. Nie konnte ich in der Musik etwas Schönes entdecken. Stets verband ich sie nur mit Leid und einem Zwang zu etwas, das ich so nie gewollt habe. Gewiss, ich mag die Musik. Sie ist ein Teil von mir, genauso wie sie ein Teil aller derer ist, die sich schon einmal auf sie eingelassen haben. Aber mein ganzes Leben über wird mir ein solch' verzerrtes Bild der Musik vorgehalten, dass ich sie inzwischen nicht mehr sehen kann. Schwarz, mehr nicht.

Die schiefen Töne zerreißen die Luft, spalten sie in zwei Teile; da gibt es mich, und da gibt es meine Eltern. Die, die die Musik schon immer verehren, auf Händen tragen und sich ein Leben ohne ihr nicht mehr vorstellen können.
Mein Vater ist für die edelsten Instrumente des Landes bekannt. Er sei auch derjenige, der meiner Großmutter damals ihren Flügel hergestellt hatte, erzählte man mir. So habe er meine Mutter getroffen. Es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen, die Musik hätte sie zusammengeführt, sie miteinander vereint und den jeweils anderen nie wieder gehen gelassen.

Meine Mutter hingegen spielte - anders als deren Mutter - Geige. »Die Engel sind wieder am Singen«, heißt es immer, sobald sie ihr Streichinstrument zückt und ihr Umfeld mit seinen magischen Melodien verzaubert.

Nur ich bin das schwarze Schaf der Familie. Schon von klein an hat man versucht, mir das Klavierspielen einzuflößen, aber erfolglos. Und so sitze ich erneut auf diesem harten Stuhl, quäle meine hilflosen Finger über die Tasten und verunreinige die Luft mit meinen Teufelsklängen.

Nach einer qualvollen Stunde, die sich mehr nach einer Woche angefühlt hat, darf ich endlich gehen. Eilig stehe ich auf und haste aus dem Zimmer. Während des Laufens gleitet mein Blick aus dem Fenster, ich sehe grau, Regen. Aber davon lasse ich mich nicht beirren. In unserem schmalen Flur im Erdgeschoss angekommen, greife ich nach meinem dunkelgrünen Mantel, der fein sorgfältig auf einen Haken an unsere Garderobe aus Ebenholz gehängt wurde. Während ich in meine braunen Lederstiefel steige, summe ich still die Melodie des Liedes, das ich soeben spielen musste. Es hat sich in meinen Kopf gebrannt und dort wird es wohl für die nächsten Stunden, wenn nicht sogar Tage bleiben.

Nach einem letzten flüchtigen Blick in den Spiegel verlasse ich das alte Herrenhaus, das ich liebevoll mein Zuhause nenne. So sehr ich meine Eltern manchmal auch hassen möge, so sind sie mir dennoch das liebste, das ich habe und ich bin froh, sie meine Eltern nennen zu dürfen.

Klare Regenluft bläst mir entgegen, als mit einem dumpfen Geräusch die Haustür hinter mir ins Schloss fällt. Ich spanne meinen schwarzen Regenschirm auf und begebe mich auf die belebten Straßen der Stadt. Mit meinem tristen, dunklen Schirm falle ich gar nicht auf, so scheint doch die ganze Welt in ein müdes Grau getaucht zu sein. Alle anderen Farben scheinen, des Lebens verbannt zu sein. Nicht einmal die Parkbank, die an der nahegelegenen Bushaltestelle steht, ist mehr wiederzuerkennen. Einst war sie leuchtend rot, jetzt ist es mehr ein ausgewaschens Braun, der Regen hat ihr die wahre Gestalt genommen.

Während ich so durch die Straßen bummele, der Regen mit gleichmäßigem Geräusch auf meinen Schirm prasselt und ich bei jedem Schritt aufpassen muss, nicht ausversehen in eine Pfütze zu treten, ertönt plötzlich aus der Ferne eine leises Liedchen. Ich bleibe stehen und lausche, versuche herauszufinden, von wo die Melodie kommt. Mein Kopf wendet sich dem örtlichen Kaufhaus zu; ein großes, allerdings sehr altes Gebäude, vollgestopft mit sämtlichen Geschäften, die mit aufdringlicher Reklame versuchen, neue Kunden zu gewinnen.
Ich bahne mir einen Weg über den ausladenden Marktplatz und komme schließlich am Kaufhaus an. Die Musik ist inzwischen eindeutig lauter, verständlicher geworden. Ich bilde mir ein, die Melodie zu erkennen, spitze die Ohren und höre angestrengt zu, aber so sehr ich mich auch bemühe, ich habe keine Ahnung, woher ich dieses wunderschöne und beruhigende Lied kennen könnte. Als ich das Gebäude betrete, kann ich den Ursprung der Musik bereits von Weitem erkennen. Eine zierliche Gestalt, an einem Flügel sitzend, befindet sich am anderen Ende der großen Eingangshalle. Als ich mich nähere, erkenne ich, dass es sich bei der Gestalt um eine Frau handeln muss. Da sie etwas gebeugt sitzt, nehme ich an, dass sie schon etwas älter ist.

Zu meiner Verwunderung scheinen sich die anderen Besucher des Kaufhauses gar nicht für das verzaubernde Spiel der alten Dame zu interessieren. Mit gesenktem Blick, der starr auf das in den Händen liegende Telefon gerichtet ist, laufen sie blind an einander vorbei, am Leben vorbei.
Ich stelle mich vor den pechschwarzen Flügel der Frau, der sorgfältig am Rande platziert worden war, und lausche ihrem Stück. Inzwischen bin ich mir hundertprozentig sicher, dass ich es kenne. Es scheint, als würde ich diese Melodie schon ewig kennen, sie heute aber zum ersten Mal hören.

Was mir besonders an der Dame auffällt, ist ihre doch sehr edle Kleidung - ein langes, dunkelrotes Kleid, darüber ein brauner Mantel mit Fellkragen; hohe Schuhe. Aber vor allem sticht mir ein großer, prächtiger Hut, verziert mit einer majestätisch aussehenden Feder an der linken Seite, ins Auge. Ich kann nicht genau sagen, was mich an dieser Kopfbedeckung so fasziniert. Vielleicht ist es dieses Spezielle, das der Hut ausstrahlt.

Die Dame bemerkt meine Gesellschaft, schenkt mir ein sanftes Lächeln und beendet ihr Stück. Ich fühle mich ein wenig unwohl, da es so scheint, als hätte sie nur wegen mir aufgehört zu spielen.

»Es tut mir äußerst leid. Sie zu unterbrechen, war nicht meine Absicht«, entschuldige ich mich mit zögernder Stimme. Doch die Frau lächelt weiter, ein sanfter Gesichtszug, der mich schnell wieder beruhigt. »Keine Sorge, meine Liebe. Ich wäre sowieso fertig gewesen.«

Ihre Stimme hat einen so außergewöhnlichen Klang, sie scheint die Worte mehr zu singen als einfach nur zu sprechen. Fasziniert und vollkommen in ihren Bann gezogen, lächele ich nun ebenfalls. »Sagen Sie, könnten Sie mir vielleicht verraten, wie diese wundervolle Komposition heißt, die sie soeben beendet haben?«, frage ich neugierig. Daraufhin lacht die Dame für einen kurzen Moment, wobei die Feder an ihrem Hut sanft im Takte ihres Lachens mitwippt. »Es dir einfach nur zu verraten, wäre zu einfach. Die Musik ist viel komplexer als das. Du musst sie tief in deinem Inneren spüren, sie in dir aufnehmen. Erst dann ist sie dir von Nutzen. Ein Titel allein ist sinnlos.«

Während sie spricht, strahlt ihr ganzer Körper eine positive Euphorie aus. Über Musik zu reden, scheint eine Leidenschaft von ihr zu sein; die Musik scheint eine Leidenschaft von ihr zu sein.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagt sie und faltet ihre Hände dabei so genau, als würde sie mit vollster Konzentration Origami aus ihren Fingern herstellen wollen.

»Was denke ich denn?«, frage ich herausfordernd und ziehe eine Augenbraue nach oben. Um uns herum laufen weiterhin zahlreiche Menschen, doch keiner scheint die sonderbare alte Dame zu bemerken. Nur ich werde hin und wieder schief von der Seite angeschaut, dabei frage ich mich, was es die Leute zu interessieren hat, dass ich mich hier mit dieser Frau unterhalte. Aber so sind die Menschen nun einmal; neugierig wie eh und je.

»Du denkst, was mache ich hier eigentlich? Du fragst dich, was ich für einen Stuss von mir gebe und ob das alles eine Bedeutung hat. Und in diesem Punkt, Liebes, kann ich dir sogar eine Antwort geben. Natürlich hat es eine Bedeutung! Alles im Leben hat eine Bedeutung, ob du es glaubst oder nicht.«

»Was meinen Sie damit?«, frage ich, nun doch ein wenig verwirrt über die Worte der älteren Frau, während sich meine Augen zu einem fragenden Blick zusammenziehen.

Die Dame lächelt erneut. »Vielleicht war dies nun doch ein bisschen zu hoch für dich, entschuldige. Wie dem auch sei, kommen wir zum eigentlichen Thema. Du weißt, warum du hier bist, nicht wahr?"

Ich runzele die Stirn. Was meint sie? Ich bin hier, weil ich die Melodie ihres Liedes so wunderbar fand. Ich bin hier, weil ich mich von ihr angezogen gefühlt habe. Oder?

»Ich hörte Ihre Musik und musste einfach herausfinden, woher sie stammte«, erzähle ich wahrheitsgemäß. Wieder lächelt die Dame, legt ihren Kopf etwas schief und schaut mich anschließend mit einem etwas ernsten Blick an. »Aber natürlich. Es ist die Musik, die dich hierher zu mir leitete. Niemand kann ihr widerstehen, es ist fast wie mit einer Droge.« Die Frau hebt ihren linken Arm und nimmt die zauberhafte Feder von ihrem Hut, hält sie vor sich und dreht sie mit Bedacht, während sie sie konzentriert dabei beobachtet, wie sie zwischen ihren zarten Fingern rotiert.

»Eine Droge?«, wiederhole ich fragend. Die Dame nickt kaum scheinbar, zu sehr schwebt sie in ihren Gedanken. Bald schon ist sie fort.
»Auch die Musik hat ihre Nebenwirkungen. Eng mit ihr verbunden ist die harte Arbeit. Es ist ein langer Weg bis zur Perfektion, dem perfekten Spiel. Aber dabei sollte man nie den Spaß aus den Augen verlieren. Hat man dir das denn nie beigebracht, mein Kind?«

Ich schüttele mit dem Kopf. »Da wo ich herkomme, ist die Musik ein großer Teil unseres Lebens. Aber ich konnte in ihr nie die Erlösung finden, die mir immer vorgeschrieben wurde. Diese ... Freiheit, dieses unsagbare Gefühl, von dem alle immer sprechen, hatte ich noch nie.«

Ihr Lächeln fällt. Die Dame lehnt sich mit besorgter Mine ein Stück nach vorn, ihr eindringlicher Blick liegt auf mir. »Es wird Zeit, dass man dir die wahre Bedeutung der Musik beibringt, mein Kind.«

Sie rückt auf ihrem Hocker ein Stückchen beiseite, befestigt die Feder wieder an ihrem Hut und klopft auf den nun freien Platz neben sich. »Komme her, Kleine. Komm' her.«

Ein wenig unsicher nähere ich mich der Dame, schaue von ihr zum Hocker, zurück zu ihr und anschließend wieder auf den Hocker. Letztendlich gebe ich mir aber einen Ruck und setze mich zu ihr. Die Dame lächelt mich an und weist dann auf die schwarzen und weißen Tasten vor ihr. »Bist du bereit?«, fragt sie mit einem gewissen Unterton in ihrer Stimme, den ich nicht ganz deuten kann, so sehr ich mich auch darauf konzentriere.
»Bereit für was?«, hake ich deswegen verwirrt nach. Doch anstatt einer Antwort, bekomme ich lediglich ein leichtes Lächeln von ihr, so wie Großmütter ihre Enkel anlächeln, wenn diese wieder einmal eine Frage gestellt haben, die man nicht so richtig beantworten kann.

Sie wendet ihren Blick von mir ab, legt ihre Fingerspitzen auf die Tasten vor ihr und beginnt zu spielen. Ich erkenne sofort, dass es sich um die gleiche Melodie wie vorher handelt.

Entspannt durch die ruhige Musik, schließe ich meine Augen und lausche dem magischen Stück der alten Dame. Doch schon nach kurzer Zeit bricht sie ab und schaut erneut zu mir.

»Die Musik ist nicht das, für was du die hältst. Die Musik ist eine Kunst, genauso wie das Malen und genauso wie das Schreiben eine Kunst ist.« Sie streicht über das dunkle Holz des Flügels. »Man muss sie zu schätzen wissen. Erst wenn man komplett in ihrem Bann ist, wenn man sie fühlt - kann man anfangen, sie auch wirklich zu spielen.«

Die Frau beginnt erneut, ihr Stück zu spielen. Aber dieses Mal fängt sie nicht von vorn an, sondern spielt von genau der Stelle weiter, bei der sie aufgehört hat. Ich beobachte sie und frage mich dabei, was sie mit ihren Worten wohl gemeint hat. Wie fühlt man die Musik? Wenn man sie sein Leben lang mit qualvoller Perfektion verbunden hat, kann man dann überhaupt noch in der Lage sein, sie neu für sich zu entdecken?

»Und jetzt du«, sagt die Hutträgerin auffordernd und weist mit ihrer rechten Hand auf den Flügel. Ich bin im ersten Moment durchaus überfordert und weiß nicht, was ich tun soll. Die Dame scheint dies zu bemerken und schenkt mir ein weiteres Mal ihr sanftes Lächeln. Dann nimmt sie mit Bedacht meine Hände und legt sie auf den Tasten ab. »Ich sehe dir die Verwirrung an. Aber keine Sorge, du wirst schon bald merken, was ich meine.«

Dann führt sie meine Finger über die Tasten und murmelt mir dabei ins Ohr, wie ich ihr Lied zu spielen habe. Sie zeigt es mir bis in kleinste Detail, damit ich im Nachhinein selbst dazu in der Lage war, es zu spielen.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich das kann«, sage ich verunsichert und schaue der Dame dabei direkt in ihre Augen. Erst da merke ich erst, dass sie genau die gleiche Farbe haben wie meine; eine perfekte Mischung aus Grün und Blau. Allerdings verwundert mich diese Tatsache, da die Augenfarbe von mir und meiner Familie ziemlich selten ist.

»Die Augen sind der Spiegel zur Seele«, sagt die Frau lächelnd. »Komm' , versuche es einmal.«

Nervös lege ich meine Hände an die Tasten, versuche, mich an ihre Worte zu erinnern und beginne schließlich, zu spielen. Doch schon nach kurzer Zeit merke ich, dass es nichts wird. Die Töne klingen schief, zerstören die zauberhafte Atmosphäre, die bis eben noch in der Luft gelegen hat.

»Das wird so nichts«, sagt sie mit ruhiger Stimme.

»Du musst die Musik fühlen. Nur dann kann aus deinem Spiel etwas Großartiges werden.« Sie lehnt sich ein wenig zurück.
»Ich weiß nicht..«, seufze ich zweifelnd. »Es ist mir auch unangenehm, vor den ganzen Leuten hier zu spielen.«

»All' die Menschen hier sind eigentlich gar nicht wirklich da. Stelle dir das vor. Es gibt nur dich und die Musik. Alles andere ist unwichtig. So habe ich stets meine Auftritte gemeistert«, rät sie mir mit einem aufmunternden Blick. »Und nun auf ein Neues!«

Ich kann nicht sagen, wie lang ich dort im Kaufhaus gesessen und mit der alten Dame Klavier gespielt habe. Aber es hat sich ziemlich lang angefühlt. Allerdings muss ich auch zugeben, dass ich eine schrecklich anstrengende Schülerin gewesen bin. Und dennoch hat sie bis zum Ende durchgehalten. Wir übten so lange miteinander, bis ich die Komposition einwandfrei und ohne Fehler spielen konnte. Es ist nun perfekt.

»Ich möchte, dass du heute Abend ins Theater gehst und dir die Symphonie anhörst«, sagt die Dame zum Schluss, als ich gerade ein letztes Mal durch das Stück durchgekommen bin. »Ich möchte, dass du hinter die Bühne gehst und sagst Melody hat mich geschickt.«

»Ihr Name ist Melody?«, frage ich neugierig, ohne dabei auf ihre Bitte einzugehen. Erst da wird mir bewusst, dass ich nicht einmal nach ihrem Namen gefragt habe und genauso wenig habe ich meinen genannt. Es wundert mich ein wenig, dass sie nicht ein einziges Mal danach gefragt hat oder auf die Idee gekommen ist, sich selbst vorzustellen.

Die Dame lächelt nur leicht und schüttelt mit dem Kopf. »Nein, meine Liebe«, lacht sie. »Aber unter dem Namen kennt man mich.« Verwirrt ziehe ich meine Augenbrauen ein Stück zusammen. Was meint sie damit? Ist Melody dann so etwas wie ihr Spitzname?

»Darf ich denn fragen, was dann Ihr Name ist?«, hake ich nun vorsichtig nach.
»Das wirst du schon noch früh genug erfahren. Und nun gehe, Kleine. Es wird Zeit. Ich muss ebenfalls langsam aufbrechen.« Sie steht auf und schiebt behutsam den Hocker näher an ihren Flügel. Dann fasst sie sich mit einem kurzen Knicks an ihren befederten Hut und beginnt zu gehen.

»Wir sehen uns dann heute Abend!«, rufe ich Melody hinterher. Anstatt aber zu antworten, dreht sie sich lediglich nur um und schenkt mir ein letztes Mal ihr Lächeln, das eine solche beruhigende Wirkung auf mich hat, dass es fast schon gruselig ist. Kurzzeitig überlege ich sogar, ob ich mir darüber Sorgen machen muss. Aber dann schiebe ich den Gedanken schließlich beiseite und verlasse das Kaufhaus.

Draußen angekommen, stelle ich fest, dass es aufgehört hat zu regnen. Dafür steht nun die Sonne hell erleuchtet am Himmel und taucht den Marktplatz in eine friedliche Atmosphäre. Gemütliche schlendere ich durch die Straßen nach Hause.

Meine Eltern haben natürlich gefragt, wo ich denn gewesen sei, aber ich habe lediglich geantwortet, ich habe ein wenig frische Luft gebraucht. Zum Glück haben sie mir dies geglaubt und ich konnte unbemerkt in mein Zimmer verschwinden. Ich wollte ihnen nicht unbedingt von der Frau erzählen, da ich unangenehme Fragen vermeiden wollte.

Nun sitze ich auf meinem Bett und denke über die Begegnung mit dieser alten Dame nach. Im Nachhinein wirkt es so unwirklich, als wäre es gar nicht passiert.
Dabei bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich sie getroffen habe. Denn sonst könnte ich nun nicht so Klavier spielen und vor allem aber würde ich ihr Lied nicht beherrschen.

Als es dann auf den Abend zugeht und es Zeit für die Symphonie wird, ziehe ich eines meiner besten Kleider an - das hat meine Mutter mir einst geschenkt und meinte dabei, es sei etwas ganz besonderes - mache mich zurecht und begebe mich anschließend nach unten zu meinen Eltern. Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, dass ich sie gern zur Symponie begleiten würde. Meine Eltern gehen schon seit ich denken kann ins Theater, wenn dieses Stück gespielt wird.

Als wir an dem großen Gebäude ankommen, spüre ich augenblicklich eine unheimliche Vertrautheit mit dem Ort, doch ich weiß nicht, woher diese plötzlich kommt. Immerhin bin ich hier nur kaum bis noch gar nicht gewesen. Und dennoch verleiht mir dieses riesige Theater eine gewisse Vertrautheit. Ich traue mich aber nicht, meine Eltern darauf anzusprechen, denn wahrscheinlich bilde ich mir dieses Gefühl nur ein.

Bevor die Vorstellung losgeht, mache ich mich heimlich auf den Weg zum Backstagebereich, so wie Melody es mir aufgetragen hat. Unbemerkt mische ich mich unter die dort wild herumlaufenden Menschen und halte Ausschau nach einem Verantwortlichen für das Konzert. Doch sogleich wird mein Vorhaben auch schon unterbrochen, denn eine blonde Frau mittleren Alters mit einer großen schwarzen Brille auf der Nase und zu einem kurzen Pferdeschwanz gebundenen Haaren wird auf mich aufmerksam und fragt misstrauisch: »Was tust du hier? Du solltest dich hier nicht herumtreiben!« Unter ihrem Arm steckt ein Klemmbrett, mit dem anderen schiebt sie ihre Brille ein Stück nach oben. Auf mich macht sie einen sehr gestressten Eindruck.

»Melody hat mich geschickt«, sage ich unsicher, da ich mich nun ein bisschen fehl am Platz fühle. Ich beginne, an der ganzen Sache zu zweifeln.

Allerdings schine ich genau das richtige gesagt zu haben, denn zu meiner Überraschung weiten sich die rehbraunen Augen der Frau und ihre rot geschminkten Lippen verziehen sich zu einem breiten Lächeln. Eilig greift sie nach meiner Hand und zieht mich mit sich. »Ich hätte nicht erwartet, dass das jemals noch passieren wird. Wir haben alle schon auf dich gewartet!« Perplex stolpere ich ihr hinterher. Mein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen, denn im Moment verstehe ich gar nichts mehr. Was meint sie damit? Soll das eine Art Scherz sein? Ich frage mich wirklich, ob die alte Schreckschraube mich lediglich reingehen hat. Doch als ich mit der vermeintlichen Managerin - sie hat sich mir nicht vorgestellt, aber sie ähnelt doch sehr einer Managerin - am Zielort ankomme und diese den dort versammelten Menschen erzählt, was ich ihr gesagt habe, bemerke ich, dass anscheinend doch alles so richtig ist. Ein junger Bursche springt von seinem Platz auf, kommt begeistert auf mich zu und fragt: »Also, bist du bereit?« Verwirrt runzele ich die Stirn. »Bereit für was?«, hake ich nach.

»Naja für die Show! Dein großer Auftritt? Melody sagte, eines Tages würde eine Nachfolgerin kommen und ihren Platz in dem Orchester einnehmen!« Vollkommen überrumpelt keuche ich auf. »Bitte was?«

Die Managerin nimmt erneut meine Hand und führt mich ans Ende des Raumes. Dort hängt ein äußerst prächtiges Bild einer wohlhabend aussehenden Frau in einem langen roten Gewand ... genauso wie ich eines trage. Mein Blick wandert nach oben zum Kopf der Frau und als ich den edlen Hut mit einer befestigten Feder auf ihrem Kopf erkenne, läuft mir ein kalter Schauer den Rücken herunter. Ich spüre mein Herz schneller schlagen, als ich angestrengt versuche, eins und eins zusammenzuzählen.

»Melody - oder auch Eleanor, was ihr richtiger Name ist - war berühmt für ihr einzigartiges Solo in der Symphonie. Niemand konnte es auf die gleiche Art und Weise spielen, wie sie es tat. Es ist traurig, dass der Krebs sie schon so früh aus dem Leben genommen hat. Sie hätte locker noch zehn Jahre vor sich gehabt..« Die Frau seufzt, während sie in alten Erinnerungen zu schwelgen scheint. »Während ihres letzten Auftrittes hier im Theater sagte sie zu uns "Eines Tages wird jemand kommen, der würdig genug ist, meinen Platz zu übernehmen. Ihr werdert sie erkennen, wenn es soweit ist." Und nun bist du hier! Du weißt gar nicht, wie glücklich uns das macht!«

Ich höre gar nicht hin, als sie spricht. Zu viele Gedanken schwirren durch meinen Kopf, sodass er bereits droht zu platzen. Doch mir wird nicht einmal genug Zeit gegeben, das alles zu verarbeiten, denn ich werde von der Blondine bereits an den Schultern gepackt und in Richtung Bühne geschoben. »Ich bin mir sicher, dass du deinen Job großartig machen wirst!«

Doch bevor ich hinter dem Vorhang hervor trete, drehe ich mich zu ihr um und frage: »Wie können Sie sich so sicher sein, dass ich die richtige bin?« Die Frau lächelt. »Ich weiß es einfach. Und nun gehe, das ist nun deine Bühne!« Sie gibt mir einen sanften Schubs, sodass ich gezwungen bin, die Bühne zu betreten. Mit zaghaften, langsamen Schritten begebe ich mich zu dem Flügel, an dem auch meine Großmutter im Kaufhaus gesessen hat, und setze mich. Ich weiß auf einmal genau, welche Tasten ich wann drücken muss und wann mein Einsatz beginnt. Kurz bevor es zum Solo kommt, spüre ich eine vertraute Hand auf meiner Schulter. Ich schaue nach oben. Der Federhut bedeckt mehr als die Hälfte ihres Gesichtes und dennoch erkenne ich das vertraute Lächeln aufhören Lippen. »Bist du bereit, die Melodie deines Lebens zu spielen?«, fragt sie, bevor sie sich in einem riesigen Wirbel aus Noten in allen Farben auflöst, und ich nicke.

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Wörter: 3878

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