Verraten

Ein knappes halbes Jahr trafen mein Vater und ich uns nun schon heimlich. Es war die Zeit, in der ich begann, mich von meiner Mutter zu lösen. Nicht mehr an ihrem Rockzipfel zu hängen. Ihr missfiel das. Sie akzeptierte nicht, dass ich begann eigene Wege zu gehen. Verstand nicht, dass ich mich lieber mit Freunden traf, als Zeit mit ihr zu verbringen. Sie verstand meine Wandlung nicht.
Ich war nie ein Mensch, dem es wichtig war,  wie Jemand aussah oder welchen Bildungsweg der Jenige ging. Wenn ich mit Menschen auf einer Wellenlänge schwamm, dann freundete ich mich mit ihnen an. So war es auch mit Marie. Sie kannte ich seit dem Kindergarten. Ihre Familie war nicht sehr angesehen, in unserem Wohngebiet. Kurz nach der Wende verloren beide Elternteile ihre Arbeit. Ihr Vater verfiel dem Alkohol und war oft sehr agressiv. Die Mutter oft überfordert mit dem gewalttätigen Ehemann, Haushalt, der Geldnot und den drei gemeinsamen pubertierenden  Kindern, die im Alter alle nur cirka je ein Jahr auseinander lagen. Viele nannten sie Assis. Aber Marie war so eine liebe Seele. Feinfühlig, hilfsbereit und verständnisvoll. Sie konnte Geheimnisse bewahren. Vermutlich, da sie in ihrer Familie selbst viele solcher Dinge erfahren musste, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Sie hatte schon als Kind verstanden, dass Tiere die besseren Lebewesen waren. Schenkte ihnen ihre volle Aufmerksamkeit. Dank ihr, habe ich einen Raben füttern dürfen. Das war eine wundervolle Erfahrung. Sie hatte ihn flugunfähig gefunden und ihn einfach mit nach Hause genommen. Da Wochenende war, hatte sie beschlossen, den Raben bis Montag zu behalten, um ihn dann zum Tierheim zu bringen. Das sind Dinge, die einen Menschen für mich interessant und liebenswert machen und dabei ist mir doch der Schulabschluss vollkommen egal. Mir war es Schnuppe, dass Marie in die Hauptschule ging, da sie eine Lernschwäche hatte, während ich zu der Zeit noch auf ein Gymnasium ging.
Meine Mutter war da oberflächlicher. Ihr passte mein Umgang mit Marie so gar nicht. So ergab es sich, dass Marie im Treppenhaus auf mich wartete und meine Mutter vor mir nach Hause kam. Marie fragte, ob ich raus dürfte. Für die Antwort meiner Mutter, schäme ich mich noch heute. "Nein, wenn Mel vom Klavierunterricht kommt, muss sie noch lernen, denn sie geht auf ein Gymnasium und nicht nur auf eine Hauptschule, wie du."
Marie hatte es mir ein paar Tage später erzählt. Mir kamen sofort die Tränen,  da mir das so unendlich leid tat. Sie jedoch versicherte mir glaubhaft,  dass sie mir nicht böse war, denn ich konnte ja nichts für meine Mutter.
Ich weiß nicht, weshalb Marie ihr so ein Dorn im Auge war. Vermute aber, dass sie glaubte,  sie sei der Grund, weshalb ich mich von ihr abnabelte. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter heraus fand, dass mein Vater und ich uns trafen. Wie sie es erfuhr, ist mir bis heute unklar. Keine Ahnung, ob sie uns gesehen oder ob es ihr Jemand zugetragen hatte. Ich hatte sie gefragt, aber nie eine Antwort darauf erhalten. Mittlerweile ist mir das auch ehrlich gesagt egal. Die Wahrheit war endlich raus. Das Versteckspiel hatte ein Ende. Alles toll! Sollte man meinen. Aber weit gefehlt.
Meine Mutter drehte komplett durch. War so am Ende mit ihren Nerven,  dass sie sich für Wochen krank schreiben ließ. Schmiss sich heulend vor mir auf den Boden, wie ein bockendes Kleinkind. Vollkommen theatralisch. Sollte das Mitleid in mir erregen? Wahrscheinlich! Nur weckte es in mir kein Mitleid. Viel  mehr trieb es mich noch weiter von ihr weg. Ich konnte sie einfach nicht in den Arm nehmen und trösten. Ihr Verhalten wirkte abstoßend auf mich. Und auch heute, fällt es mir noch schwer, Menschen zu trösten. Immer sehe ich meine Mutter, theatralisch bockend, sich Tränen aus den Augen pressend, auf dem Boden liegen. Ich kann Niemanden in den Arm nehmen, tröstende Worte daher beten und warten, bis die Tränen getrocknet sind. Was absolut nicht bedeutet, dass ich herzlos bin und kein Mitleid empfinden kann. Wenn ich heut zu Tage mit meiner besten Freundin chatte und sie weint, finde ich größtenteils  schon die richtigen Worte, die sie wieder zum lächeln bringen und die Tränen trocknen lassen. Ich kann halt nur Niemanden in den Arm nehmen und werde auch selbst nicht gern in den Arm genommen, wenn ich heule.  Außer von meinem Freund. Er ist absolut der Einzige,  bei dem ich diese Nähe als angenehm empfinde und mich dann geborgen fühle. Bei allen Anderen ist es mir unangenehm und ich versuche mich dann immer daraus zu lösen.
Meine Mutter erhoffte sich wahrscheinlich,  dass ich den Kontakt zu meinem Vater von allein abbrach,  wenn sie ihr meisterliches Schauspiel nur weiter führte. Das war jedoch nicht der  Fall. Es trieb mich nur näher zu ihm. Er und Ilona, die elf Jahre jünger war, als meine Mutter, hatten so viel mehr Verständnis, als es meine Mutter je hatte. Bei ihr gab es so viele Regeln. "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!" war immer ihr Lieblingsspruch. Es gab kein einziges Wochenende, an dem ich nicht Punkt 7.00 Uhr aufstehen musste. Frühstücken, lernen, Zimmer aufräumen und putzen und noch mal lernen. Irgendwas unternehmen oder sich mit Freundinnen treffen, durfte ich nur, wenn ich den Schulstoff auch  wirklich beherrschte. Kein Wunder, dass ich in der Grundschule nur wenige Freunde hatte, da alle dachten, ich sei eine Streberin. Sie alle hatten ja keine Ahnung.
Bei Ilona und meinem Vater war das anders. Sie schliefen aus und genossen ihr Leben,  wenn sie frei hatten und trotz allem versank ihr Heim nicht im totalen Chaos. Die Wohnung meiner Mutter jedoch, sah eher aus wie eine sterile Puppenstube, in der absolut Niemand wohnte. Diese Erkenntnis habe ich übrigens von Marie und ja, sie hatte vollkommen Recht. Beim Essen durfte man nie kleckern oder krümeln.  Es wurde immer alles brav mit Messer und Gabel gegessen und immer gerade am Tisch sitzend, über einen Teller.
Wie spießig das alles war, wurde mir erst so richtig bewusst, als ich zum allerersten Mal  Melone bei meinem Vater gegessen habe. Ich suchte verzweifelt mein Besteck. Wie sollte ich denn ohne diese Utensilien, diese Frucht essen? Mein Vater lachte nur. Nahm sein Stück Melone in die Hände und biss voller Vergnügen ein Stück Fruchtfleisch heraus. Der Saft tropfte in seinen Bart und lief an seinen Händen hinunter. Und anstatt die Kerne beschämt in die Hand zu spucken, um sie dann, als wäre nichts gewesen auf den Teller zu legen, landeten sie direkt aus seinem Mund, auf dem Porzellan vor ihm. "So isst man eine Melone!" lachte er mich an. Also tat ich es ihm gleich. So gut wie an diesem Tag hatte mir eine Melone noch nie geschmeckt.
Meine Mutter kam also absolut nicht weiter bei mir, mit ihrer hysterischen Mitleidstour. Sie war in solchen Dingen aber eine sehr kreative Frau. Kampflos wollte sie sich nicht geschlagen geben, ihren Willen durchzusetzen. Also ging sie den nächsten Schritt und der war tausend Mal schlimmer, als alles davor.

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