Wenn das Herz zerreißt
Der Morgen begann, wie jeder Morgen in Kaineng – und doch, war er dieses Mal so anders.
Die ersten Sonnenstrahlen schienen über die Pagodendächer und tauchten die Stadt in einen goldenen Glanz. Der Morgen versprach einen herrlichen Tag, aber ich verschwand keinen Gedanken daran.
Wie oft schon hatten wir den Sonnenaufgang gemeinsam erlebt?
Wie schön es doch war, warm und geborgen zu liegen und durch süße Küsse geweckt zu werden. Eine sanfte Berührung, eine vertraute Stimme ...
Schmerzhaft ist die Erinnerung an den Verlust und grausam die erste einsame Nacht, denn ich habe das Liebste verloren in dieser Welt.
Tränen kullerten aus meinen Augen. Fallen auf die weiche Daunendecke, die wir uns so viele Nächte teilten. Ich denke an meine Fehler. Hätte anderes Handeln meinerseits das Schicksal verändern können?
Ich wuchs im guten Hause auf mit blauem Blut, aber ein gutes Haus war es nur für den Schein. Mein Vater war ein ruhmreicher Mann, ein tapferer Krieger und loyaler Freund Prinz Ruriks. Er sprach immer von meinem Bruder, der einst in seine Fußstapfen treten sollte und bildete ihn persönlich aus. Ruf und Ehre waren ihm genauso wichtig, wie das Ansehen seiner Familie. Für seine Männer schien er ein gerechter fairer Anführer zu sein. Doch zu Hause war er ein Tyrann.
Meine Mutter war eine junge und hübsche Frau. Als kleines Mädchen bat ich oft darum, ihr langes goldenes Haar zu bürsten. Sie kam den Pflichten einer Gemahlin wohl nach, doch sah ich sie nie Lachen.
Ich wünschte mir stets ein anderes Leben, doch auch ich wurde den Ansprüchen und Pflichten gerecht. Dazu wurde ich immerzu erzogen. So wie Vater die Zukunft meines Bruders plante, so plante er auch meine. Elementarmagierin sollte ich werden. Studiert, klug, nach Möglichkeit mächtig aber vor allem gehorsam.
Viele Jahre besuchte ich die Akademie, um die Magie zu erlernen – sie ist mir bis heute ein Rätsel geblieben.
Mein Interesse galt nie der Magie, sondern den Menschen. Wie unsinnig es mir erschien, die Elemente zu beherrschen, es fordert so viel Energie. Warum Meteore und Sandstürme beschwören – sich bis aufs letzte Erschöpfen – wenn es einen viel einfacheren Weg gab?
Es ist so leicht, Menschen zu manipulieren, sie Dinge sehen zu lassen oder ihnen den eigenen Willen aufzuzwingen. Viele bemerkten es erst, wenn es bereits zu spät ist.
Die Zeit an der Akademie verbrachte ich also weniger damit die Magie zu studieren als vielmehr mit Beobachtungen. Magier sind stark in ihrem Willen, doch wenn es gelingt, sie aus ihrem Konzept zu bringen, werden auch sie zu leichten Opfern. Nicht das ich es an ihnen ausprobiert hätte – zumindest nicht in diesem Stadium.
Vor den Toren Ascalons boten sich zahlreiche Gelegenheiten, und somit konnte ich meine Fähigkeiten allmählich weiterentwickeln.
So fand ich beispielsweise heraus, dass Männer sehr viel anfälliger waren für Trugbilder, als Frauen. Vielleicht eine der Erkenntnisse, die zu meiner Verachtung beitrug.
Irgendwann jedoch genügten mir diese gelegentlichen Experimente nicht mehr, denn ich suchte nach neuen Herausforderungen. Als man mich in der Akademie beim Anwenden meiner Künste an meinen Mitschülern erwischte, hatte dies den unwiderruflichen Verweis zur Folge. Dem Magus kam dieser Vorfall gelegen und er verwies mich nur allzu gern, weil ich seine schlechteste Schülerin war.
Mein Vater strafte mich danach für die Schändung unseres Rufes, für meinen Ungehorsam und nicht zu letzt, weil ich eine Frau war.
So eine Tracht Prügel hatte ich nicht mehr erhalten, seit ich zwölf Jahre alt war. Auch meine Mutter bot mir keinen Schutz.
Sie sah weg und schloss die Türen hinter uns, doch ich konnte es ihr nicht einmal verübeln.
Ich erinnerte mich so klar an jenen Moment, als ich am Boden kauerte, schluchzend und keuchend. Wie ich um Vergebung flehte, in einer Minute, in der er mir scheinbar eine Pause gönnte. Er ging zum Fenster, dort wo eine große antike Standvase auf einem Sockel thronte und zog den Rohrstock heraus. Allein dieser Anblick ließ mich erstarren.
Ich war eine junge Frau von 18 Jahren. Eine Tochter aus gutem Hause, stets gehorsam. Ich war eine Frau, die immer auf das Wort ihres Vaters oder ihres Bruders gehört hatte. Ich war eine Frau, die auf einen Gemahlen wartete – den ich nicht kannte – und der einzig für die von meinem Vater arrangierte Heirat anreiste.
Ich war zwar eine Frau, aber ich hatte ein Ehrgefühl, ich hatte ein Gewissen und ich hatte Stolz.
In diesem Moment beschloss ich, dass es genug war.
Nie wieder würde ich Demütigung durch einen Mann erfahren!
Ich sah, wie mein Vater langsam auf mich zukam. Atemzug um Atemzug. Ich sah den Zorn in seinen Augen und die Wut. Doch als er den Stock gegen mich erhob, rappelte ich mich auf und sah ihn an.
Meine Entschlossenheit ließ ihn vor Überraschung zögern und ich nutzte den kurzen Moment der Unaufmerksamkeit.
Als der Stock mit all seiner Kraft niedersauste, glitt er sauber durch die Schulter meines Trugbildes hindurch. Mein Vater stolperte nach vorne, hatte er doch mit Widerstand gerechnet.
Mit einem Schmerzensschrei ließ er den Rohrstock fallen und umklammerte sein verkrampftes Bein mit beiden Händen. Sein zorniger Blick setzte mir nach und er versammelte all seine Kräfte, um mir hinter mir herzuhumpeln, wohlwissend, dass er mich nicht mehr einholen würde.
So verließ ich Ascalon kurz vor der Charr-Invasion.
Wenn ich heute an meine Familie zurückdenke, die womöglich ausgerottet wurde, verspüre ich nur ein Gefühl der Gleichgültigkeit.
Vielleicht hätte es auch mich das Leben gekostet, so wie dieser Krieg viele Tote forderte. Doch die Flucht aus meinem Elternhaus ließ mich überleben. Ich reiste nach Löwenstein und setzte mit dem Schiff nach Cantha über.
Vielleicht wäre ich eine der vielen Toten, wenn ich nicht gegangen wäre.
Vielleicht wäre ich auch emotional schon tot, wenn ich dem Leitbild meines Vaters hätte folgen müssen.
Doch ganz sicher hätte ich nie sie getroffen!
Meine Freundin.
Meine Geliebte.
Mein Herz.
Ihr Name war Mae Ling. Nie vergesse ich ihre dunklen mandelförmigen Augen, ihre zierlichen Hände oder ihr zartes Lächeln.
Wie naiv ich für sie gewirkt haben muss. Das unschuldige Mädchen in der großen bösen Stadt. Sie muss meine Angst gespürt, meine Unsicherheit erfühlt haben ... aber nun ja ... sie war schließlich eine herausragende Mesmerin.
Mit ihrer Begegnung begann die schönste Zeit in meinem Leben. Zum ersten Mal musste ich nicht hören, sondern wurde erhört. Sie war das Beste, was mir je passieren konnte. Wir waren äußerlich so verschieden, sie klein und zierlich mit dunklem Haar und sanfter Stimme; ich dagegen der große robuste Allwettertyp. Das alles war uns jedoch völlig gleich, denn innerlich waren wir einander Spiegelbild.
Es war wie der erste Frühling in meinem Leben. Ich sah die Welt plötzlich aus einer vollkommen anderen Perspektive.
Mae hatte ein kleines Zimmer im Zentrum der Stadt Kaineng. Bescheiden, aber sehr gemütlich. Wir lachten oft, lagen beisammen oder lernten voneinander.
Wie verbrachten so viel Zeit wie möglich zusammen, obwohl sie oft ‚im Auftrag des Kaisers' unterwegs war, mehr durfte ich nicht wissen, denn sie hatte einen Eid abgelegt.
Ich half in einer Schenke an der unteren Straße aus, obwohl ich diese Arbeit haste. Aber so konnte ich ein wenig Gold verdienen. Die Kneipe war oft voll mit grölenden besoffenen Männern ohne Anstand oder Respekt, die ständig nach mehr Reiswein schrien. Abschaum der Straßen Kainengs, wie ich oft dachte.
Wie erleichtert ich abends war, durch ein Hintertürchen verschwinden zu können. Nach Hause, in mein Idyll und zu meiner Liebsten.
Einen besonderen Tag habe ich oft vor Augen. Mae erhielt den Auftrag zum Kloster Sing Jea zu reisen und bat mich sie zu begleiten.
Nach getaner Arbeit kam sie zu mir, damit wir gemeinsam noch etwas Zeit verbringen konnten. Wir spazierten in das Tal vor dem Kloster und Mae setzte sich mit dem Rücken gegen einen der uralten Kirschbäume. Ich legte meinen Kopf in ihren Schoß, den Blick gen Blütendach, während sie liebevoll durch mein Haar strich.
Rosafarbene Blütenblätter regneten auf uns nieder, und zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, unser Glück würde ewig wären. Wie sehr ich mich irrte.
Ich tastete nach dem kleinen Tisch neben dem Bett. Sie lag noch da – ihre Maske. Das Einzige, was mir von ihr geblieben ist.
Mae starb durch die Hand eines Assassinen, ohne dass ich es verhindern konnte. Ich stellte ihm nach, ließ ihn Leiden, rächte sie – aber das brachte mir sie auch nicht zurück.
Mein Frühling ist zu Ende.
Ihr Körper ruht unter einem Kirschbaum und ich habe alle Tränen für sie geweint. Nun trage ich ihre Maske.
Mein Frühling ist zu Ende.
Und abermals bin ich gezwungen mein Zuhause zu verlassen.
Wenn ich heute an Mae denke, den einzigen Menschen den ich je liebte, verspüre ich immer ein Gefühl von tiefer Traurigkeit.
Mein Frühling ist nun endgültig zu Ende und ich werde es jeden Mann spüren lassen, der mir begegnen wird!
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