[6] Das angebliche Spukhaus
Ich nickte zustimmend, und Corvin schnippte erneut mit den Fingern. Der Teekessel erhob sich von dem Nachttisch und schenkte erneut in meine Tasse ein. Ich bedankte mich für die Geste. Der warme Geschmack des Tees flutete meinen Gaumen und beruhigte gleichzeitig meine aufgewühlten Nerven, wenn auch nur vorübergehend.
Voller Ehrfurcht und mit einem Hauch von Angst fragte ich weiter. Die Vorstellung, dass ich so oft diesen Weg nachts allein nach Hause gefahren war, ohne dass jemals etwas passiert war, bis gestern, ließ mich erschaudern.
Corvin erklärte ruhig: »Ich ging davon aus, dass der Nachtgiger das letzte Mal vernichtet wurde.«
Ich sah den Halbdämon mit großen Augen an. »Das letzte Mal?«, fragte ich ungläubig. Corvin nickte und begann zu erzählen, dass vor 25 Jahren bereits ein Nachtgiger hier in Schattenhain sein Unwesen getrieben habe, jedoch vernichtet worden sei – zumindest habe Corvin das geglaubt, bis jetzt. Entweder ist das derselbe Nachtgiger von damals oder ein neuer, aus dem Schattenreich.«
Ich schluckte schwer und fragte mit großen Augen: »Das Schattenreich, ist das die Hölle?«
Corvin lächelte und sagte: »Da habe ich ja einiges dir zu erzählen.« Ich nickte ungläubig und nippte an meinem lauwarmen Tee. Corvin fuhr fort zu erklären, dass das Schattenreich nicht die Hölle sei, sondern eine düstere Zwischenwelt. Ein Ort, in dem ruhelose Geister, Dämonen und andere Kreaturen hausen. Die Katholiken würden es als das Fegefeuer bezeichnen. Ich lauschte den Worten und versuchte währenddessen, mir die düsteren Landschaften des Schattenreichs vorzustellen. Mein Verstand kämpfte damit, die Grenzen zwischen Realität und Mythos zu akzeptieren. Ich spürte, wie mein Kopf zu dröhnen begann, als meine Vorstellungskraft überstrapaziert wurde.
Corvin lächelte sanft und entschieden. »Ich denke, das es erstmal genug Aufklärung war. Du solltest dich noch etwas ausruhen.« Mit einem erneuten Fingerschnipsen schwebten die leere Teetasse und der schwarze Teekessel aus dem Zimmer. Der Halbdämon erhob sich elegant von meinem Bett und mit einer weiteren Handbewegung schwebten meine Kleidungsstücke ins Zimmer. Sie schwebten durch die Luft, als würden sie von Geisterhand geführt, und landeten schließlich auf einem Stuhl, der im Raum stand, wo sie sich ordentlich zusammenfalteten.
Corvin richtete seinen Blick auf mich und sagte ruhig: »Ich bin unten, falls du mich brauchst.« Mit diesen Worten verließ er den Raum, wobei er eine beruhigende Präsenz zurückließ. Ich ließ mich schwer ins Kissen sinken, mein Kopf pochte und dröhnte vor Aufregung und Erschöpfung aufgrund der Offenbarungen. Ich spürte, wie meine Augenlider schwerer wurden, und langsam schloss ich sie.
Doch plötzlich durchbrach ein leises Knistern die Stille, wie das Rascheln von Blättern im Wind. Mein Verstand versuchte es als Einbildung abzutun, doch das Geräusch wurde lauter, beharrlicher.
Ich versuchte es zu ignorieren, doch das Knistern verstummte nicht. Unwillkürlich öffnete ich die Augen und wandte mich um, doch hinter mir war nichts außer der Wand. Ich versuchte mich zu beruhigen, doch dann spürte ich einen kalten Hauch an meinem Nacken, der mich erschaudern ließ.
Mein Herz begann schneller zu schlagen, während sich eine unerklärliche Angst in mir ausbreitete. Ich zwang mich dazu, ruhig zu bleiben. Das Knistern wurde lauter und ein Gefühl der Panik überkam mich, als ich mich erneut umdrehte. Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren: Wölbungen auf der Wand, die sich wie die Umrisse einer Gestalt abzeichneten, die sich hinter der Tapete zu bewegen schien.
Doch bevor ich reagieren konnte, brachen plötzlich zwei rabenschwarze Hände aus der Wand hervor und griffen nach mir. Sie erstickten den Schrei aus meiner Kehle, als die eisigen Finger meinen Mund zudrückten.
Ich riss meine Augen auf und keuchte nach Luft, während ich mich in meinem Bett aufrichtete, mein Herz wild pochend in meiner Brust. Ich wandte mich hastig zur Wand, doch dort war nichts zu sehen. Mein Verstand kämpfte gegen die Überreste des Schocks an, und ich zwang mich dazu, ruhig zu bleiben, während ich versuchte, den Alptraum zu rationalisieren.
Langsam beruhigte ich mich, und die Panik wich langsam. Mein Blick wanderte zu meiner Kleidung, die ordentlich auf dem Stuhl lag, und ich beschloss, mich anzuziehen und das Schlafzimmer zu verlassen. Mit zittrigen Händen schlüpfte ich in meine Kleider, wobei mir der Schmerz in meinem rechten Arm erneut bewusst wurde. Vorsichtig öffnete ich die Holztür und trat in den Foyer. Draußen war es noch hell, aber die düsteren Wolken am Himmel hingen wie ein schwerer Schleier über dem Haus. Durch die drei großen Fenster, die den oberen Teil des Foyers erleuchteten, sah er kleine Regentropfen an der Scheibe abperlen.
Die Wände waren zu Hälfte mit dunklem, poliertem Holz vertäfelt, während die andere Hälfte der Wand mit weißem Putz verputzt wurde. An den Wänden hingen Bilder in schwarzen oder dunkelbraunen Rahmen, die von vergangenen Zeiten und unbekannten Gesichtern zeugten. Ein ausgestopfter Rehkopf starrte mit leeren Augen auf mich herab, was mir ein mulmiges Gefühl verlieh.
Das elegante Holzgeländer der Treppe führte nach unten, und in der Mitte des Foyers hing ein antiker geschwungener Leuchter. Die Dielen knarrten unter meinen Schritten.
Von unten drang gedämpfte Musik. Neugierig und mit einem leichten Gefühl der Unsicherheit stieg ich die Treppe hinunter, vorbei an einem großen Porträt, das an der Treppenwand hing.
Das Porträt zeigte einen jungen Mann und eine junge Frau, eingefangen in einem zeitlosen Moment. Der Mann stand aufrecht in einem eleganten Anzug, seine dunklen Haare und stahlgrauen Augen verliehen ihm eine Aura von Stärke und Geheimnis. Die Frau hingegen saß mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen da, ihre roten Locken fielen in sanften Wellen über ihre Schultern, und ihre grünen Augen schienen direkt auf mich zu blicken, als würden sie etwas in mir erkennen, das ich selbst noch nicht ganz verstanden hatte.
Ein Gefühl der Bekanntheit überkam mich, als ich das Porträt betrachtete, doch ich konnte mich nicht erinnern, den jungen Mann jemals zuvor gesehen zu haben.
Ich trat durch den großen Holztürbogen ins Wohnzimmer und wurde von einer Szenerie aus vergangenen Zeiten empfangen, die mit modernen Elementen verschmolzen war. Aus einem Schallplattenspieler erklang die unverkennbare Stimme von ABBA mit ihrem Lied „Why Did It Have To Be Me?", die die Luft mit einem Hauch von Nostalgie erfüllte.
Das Wohnzimmer strahlte eine gemütliche Atmosphäre aus, die von einem prasselnden Feuer im schönen Kamin verstärkt wurde. Das Knistern der Flammen verlieh dem Raum eine beruhigende Stimmung.
It's only natural
But why did it have to be me?
Nights can be empty and nights can be cold
So you were looking for someone to hold
That's only natural
But why did it have to be me?
Mein Blick fiel auf ein antikes Bügeleisen, das auf einem Bügelbrett schwebte und das Hemd bügelte. Das Hemd bewegte sich alleine, um dem Bügeleisen alle Stellen zu präsentieren. Ich trat näher und beobachtete fasziniert das Schauspiel, während mein Verstand versuchte, eine Erklärung für das Unmögliche zu finden.
Doch bevor ich eine Antwort finden konnte, erklang plötzlich Corvins Stimme hinter mir, und ich zuckte kurz zusammen vor Überraschung.
»Oh, wie ich sehe, bist du schon wieder wach«, bemerkte Corvin mit einem leichten Lächeln. Ich wandte mich dem Halbdämon zu und fragte ihn, wo wir uns eigentlich befanden. Corvins goldene Katzenaugen funkelten geheimnisvoll, als er antwortete: »Du kennst es bestimmt, das alte Falkenrath Anwesen.«
Ich war verblüfft: »Das Spukhaus?« Ich warf einen Blick um mich, doch es sah nicht wie das klassische, verfallene Spukhaus aus, das er erwartet hatte.
Corvin ließ sich in einem der eleganten Sessel nieder und kicherte. »Ihr Sterblichen und eure blühende Fantasie«, bemerkte er amüsiert. Ich nahm auf dem Sofa Platz und murmelte vor mich hin: »Also stimmten die Gerüchte, dass die Falkenraths mit Magie zu tun hatten.«
Der Halbdämon lachte: »Die Falkenraths waren keine Hexen und Zauberer, wenn du das denkst.« Er hob beschwichtigend die Hand, bevor ich darauf etwas antworten konnte. »Und auch keine Vampire. Sie waren normale Menschen, so wie du.« Dabei lächelte Corvin.
»Dann muss das auf dem Porträt an der Treppe Thomas Falkenrath sein, daher kenne ich den Mann.« Corvin nickte zustimmend und begann zu erzählen: »Ich kannte die Falkenraths, Thomas war ein guter Freund von mir. Die Frau auf dem Porträt war seine Verlobte Cecilia Morgenstern. Allerdings kam sie unter tragischen Umständen ums Leben. Thomas hat ihren Tod nie wirklich verkraftet.«
Ich hörte aufmerksam zu und erinnerte mich, an damals, was für ein Trubel in Schattenhain los war, als Thomas spurlos verschwunden war.
»Aber wie machst du das, wenn du ungebetene Gäste hast, die das Haus betreten?«
Corvin lächelte, und seine Augen leuchteten regelrecht, als er antwortete: »Dafür habe ich vorgesorgt.« Er klatschte dabei in die Hände, und plötzlich erlosch das Feuer im Kamin, die Musik verstummte, und das Bügelbrett samt Bügeleisen fiel um. Ich spürte einen kalten, eisigen Hauch, der mich umgab, während Risse in der Vertäfelung auftauchten und das Polster auf dem Sofa seinen Glanz verlor. Staub legte sich plötzlich über alles, und eines der Fenster ging zu Bruch. Corvin klärte auf: »Ein Tarnzauber. Sobald sich jemand Unerwünschtes nähert, sehen die Menschen das hier.«
Ich schluckte, sprachlos von dieser Enthüllung. Corvin klatschte erneut in die Hände, und plötzlich war wieder der ursprüngliche Zustand hergestellt.
Now I can see you are beginning to care
But baby, believe me
It's better to forget me
Corvin fragte nun lächelnd: »Bist du hungrig? Ich habe frische Butterkekse gebacken.« Mit einem schnipsen seiner Finger schwebte ein Teller mit Butterkeksen in den Raum und landete sanft auf dem antiken Couchtisch.
Ich griff nach einem Butterkeks und biss hinein, während Corvin mich anlächelte und auf die kleine antike Holzuhr auf den Kamin blickte. »Oh, ich habe fast vergessen, dass gleich Fütterungszeit ist«, bemerkte Corvin beiläufig. Ich machte große Augen und verschluckte mich beinahe an dem Keks in meinem Mund. Corvin kicherte und beruhigte mich: »Nicht du, aber komm. Ich will dir jemanden vorstellen.«
Ich schluckte nervös und erhob mich vorsichtig vom Sofa, während Corvin mich neckte: »Sei doch nicht so ängstlich. Amos wird dir schon nicht deine Finger abbeißen.« Ich folgte Corvin in die Küche, wo dieser einen Eimer mit Fleischresten hervorholte. Der Anblick ließ mich mulmig werden, während ich mich fragte, was wohl auf mich zukommen würde.
Wir traten in den verwilderten Garten und ich konnte nur erahnen, welche Pracht hier einst herrschte. Gemeinsam gingen wir über das große Grundstück zu einer kleinen Scheune, die bereits bessere Tage hinter sich hatte.
»Amos!«, rief Corvin, während ich zögerlich stehen blieb und in Versuchung war, die Flucht zu ergreifen.
Plötzlich trat ein majestätisches Wesen aus dem Schatten der Scheune. Seine massiven Flügel spannten sich aus wie die Schatten eines längst vergessenen Zeitalters. Die Feder schienen vor der Dunkelheit selbst gewoben zu sein und glänzte matt in schattigen Farbtönen, die von schneeweiß bis zu nachtschwarz reichten.
Sein Kopf, der dem eines Falken ähnelte, besaß funkelnde Augen, die eine geheimnisvolle Weisheit zu verbergen schienen. Seine Gefieder schlossen sich nahtlos an seinem muskulösen Löwenkörper an, dessen Pelz in den Schatten getaucht war, aber dennoch eine finstere Pracht ausstrahlte. Seine Krallen an den Vorderpfoten waren lang und scharf wie Dolche, und der bloße Anblick seiner kräftigen Klauen ließ mich einen Schauer über den Rücken laufen.
»Das ist Amos, mein Greif«, erklärte der Halbdämon stolz und sah mich mit funkelnden Augen an. Ich schüttelte den Kopf, kaum fähig zu glauben, dass ein solches Wesen vor mir stand.
»Ein Greif?« ich wiederholte die Worte ungläubig.
Corvin nickte. »Ein edles und kluges Wesen. Kein Wunder, dass es früher oft als Symbol auf Wappen und Herrschern und Städten zu finden war.«
Corvin näherte sich dem Greifen mit einer Selbstverständlichkeit, die zeigte, wie vertraut er mit dem majestätischen Wesen war.
»Komm näher, er wird dich schon nicht fressen«, ermunterte mich Corvin. Zögerlich trat ich näher und beobachtete fasziniert den Greif.
»Ich habe ihn damals aus den Fängen von Schwarzhändlern befreit«, erklärte der Halbdämon.
»Schwarzhändler?«
Corvin drehte sich zu mir um. »Glaubst du, dass nur Menschen krumme Dinge drehen? Wenn du nur wüsstest, was alles vor deiner Nase so alles passiert«, antwortete er und wandte sich wieder Amos zu.
»Du bist sicherlich hungrig, mein Freund, nicht wahr?«, sprach Corvin liebevoll und streichelte Amos sanft über das Gefieder, während der Greif vertrauensvoll den Kopf zuwandte.
»Es ist eine Schande, wie diese edlen Tiere gejagt und ausgeweidet werden«, sprach Corvin leise vor sich hin, ehe er ein Stück Fleisch aus dem Eimer holte und es in die Luft warf, damit der Greif zupacken konnte.
»Mit was fütterst du ihn?«, fragte ich.
Der Halbdämon wandte sich wieder zu mir um. »Wildkaninchen, das mag er am liebsten«, antwortete er und warf dem Greifen ein weiteres Stück Fleisch zu. Ich konnte nicht anders, als die Szene fasziniert zu beobachten. Es war eine seltsame Mischung aus Bedrohung und Magie. Die Grenzen zwischen Realität und Mythos hatten sich eindeutig vor meinen Augen verschwommen.
Ein ordnungsliebender Dämon füttert einen Greif... dagegen waren Grimms Märchen fast schon Lachhaft.
»Magst du ihn auch füttern?«, riss mich Corvin aus meinen Gedanken.
»Ich?« Meine Augen weiteten sich überrascht.
»Ja, ist nicht so schwer«, zwinkerte Corvin mir zu, als er den Eimer mit Fleisch vor meine Nase hielt. Ich schluckte schwer und nahm vorsichtig ein Stück Fleisch, bevor ich es Amos hinwarf. Der Greif schnappte danach und verschlang das Stück Fleisch in einem einzigen Bissen, bevor er mich mit seinen dunklen Augen ansah.
»Darf ich ihn streicheln?«, fragte ich schließlich zaghaft. Corvin nickte zustimmend. Ich streckte meine Hand aus und begann, das Gefieder des majestätischen Wesens zu streicheln. Meine Finger glitten über das weiche Federkleid von Amos, das sich kühler und geschmeidiger anfühlte, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Augen des Greifens fixierten mich, und ich spürte eine Mischung aus Ehrfurcht, Respekt und Erstaunen.
Amos schien meine Zuneigung zu erkennen. Langsam neigte er seinen Kopf, als ob er die Berührung genießen würde. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich den ruhigen Puls des Greifs unter meinen Fingerspitzen spürte.
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