[50] Nur ein Alptraum?
Ich öffnete langsam die Augen und blinzelte gegen das sanfte Morgenlicht, das durch das Fenster fiel. Draußen schien die Sonne, die ersten Strahlen tauchten alles in ein warmes, goldenes Licht. Der Frost auf den Fensterscheiben funkelte im Sonnenlicht, und für einen kurzen Moment fühlte ich mich etwas freier – als wäre die Last der letzten Tage für einen Augenblick von mir abgefallen. Vielleicht war es nur für einen Moment, aber es war ein Gefühl, das ich lange nicht mehr gehabt hatte.
Ich richtete mich im Bett auf und streckte mich, während ich die Stille genoss. Es war Weihnachtsmorgen, der Tag, der alles ein wenig heller erscheinen ließ. Auch wenn die Zukunft immer noch ungewiss war, fühlte es sich so an, als könnte dieser Tag der Anfang von etwas anderem, vielleicht sogar etwas Besserem sein.
Als ich die Treppe hinunterging, durchdrang mich der Duft von Kakao und Zimtgebäck. Maja stand in der Küche, die ersten Sonnenstrahlen erhellten ihr Gesicht. Ihre Haare waren unordentlich, aber sie strahlte eine unbeschwerte Wärme aus, die mich für einen Moment daran erinnerte, dass Weihnachten noch immer etwas Magisches hatte.
»Guten Morgen, Bruderherz«, begrüßte sie mich mit einem Lächeln, das nicht nur ihr Gesicht erhellte, sondern auch den Raum. Sie deutete auf den Küchentisch. »Leo war in der Frühe da und hat dir ein Geschenk vorbeigebracht.«
Ich blieb stehen und sah das kleine, in blau-silbernem Sternenpapier verpackte Päckchen. Es war liebevoll gebunden, und der Glanz des Geschenkpapiers strahlte in der Sonne.
»Frohe Weihnachten, Bruderherz«, sagte Maja, als sie mir die Tasse heißen Kakao reichte.
»Frohe Weihnachten, Schwesterlein«, erwiderte ich und zog sie in eine schnelle Umarmung. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, auch wenn es noch nicht ganz unbeschwert war. Aber heute wollte ich mich wenigstens für einen Moment von der Schwere befreien.
Kaum hatten wir uns voneinander gelöst, ertönte plötzlich das Klingeln an der Tür. Es war scharf und durchbrach die friedliche Atmosphäre des Morgens. Maja und ich tauschten einen Blick aus, bevor ich mich in Richtung Tür bewegte.
Ich öffnete langsam die Tür und spürte, wie die kalte Luft des Winters in mein Gesicht strömte. Vor mir stand Juliette, ihre Mütze leicht schief auf dem Kopf und ein kleines Päckchen mit Plätzchen in den Händen. Ihr Blick war weich, und ihre Augen strahlten in dem hellen Licht des Morgens. Sie lächelte leicht, als sie mich begrüßte.
»Hey, Frohe Weihnachten... ich dachte, ich bringe dir ein kleines Geschenk vorbei«, sagte sie und hob das Päckchen mit den selbstgebackenen Plätzchen, das sie mir entgegenhielt. Die Folie war mit kleinen, liebevoll gemalten Sternen verziert.
»Frohe Weihnachten auch dir, Julie«, sagte ich, ein Lächeln auf meinen Lippen. Es fühlte sich gut an, sie zu sehen, fast wie ein kleiner Lichtblick inmitten all der Dinge, die noch ungelöst waren.
Sie strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und trat einen Schritt näher. Ihr Gesicht wirkte angespannt, als sie nach einem Moment der Stille sprach. »Hör zu«, begann sie und ihre Stimme klang plötzlich etwas unsicher, »was ich noch sagen will, ist... dass es zwischen mir und Anton vorbei ist. Und...« Sie zögerte, blickte für einen Moment zur Seite, als könne sie ihren Worten nicht ganz trauen.
»Ich... ich empfinde das gleiche wie du«, brachte sie schließlich hervor, ihre Stimme leiser, fast zögerlich.
Ein warmer Schwall von Gefühlen ergriff mich, und ohne viel nachzudenken, nahm ich ihre Hand und zog sie sanft an mich. In diesem Moment wollte ich einfach nur in ihrer Nähe sein, ihre Nähe spüren. Die Worte fielen mir schwer, aber das Gefühl, dass wir beide auf der gleichen Wellenlänge waren, beruhigte mich.
Ich sah ihr in die Augen, und ohne viel darüber nachzudenken, wollte ich sie küssen. Doch beim ersten Versuch trafen unsere Nasen nur sanft aufeinander, was uns beide für einen Moment zum Lächeln brachte. Ein nervöses, aber auch süßes Lächeln.
Ich atmete tief ein und versuchte es erneut. Diesmal trafen sich unsere Lippen, und der Kuss war sanft, vorsichtig, als wäre jeder von uns sich dessen bewusst, dass dieser Moment etwas Besonderes war. Mein erster Kuss, ein Moment, den ich nie vergessen würde. Es war nicht nur der Kuss an sich, sondern die Tatsache, dass es ein neuer Anfang für uns beide war, nach all dem, was geschehen war.
Als wir uns schließlich voneinander lösten, sah ich ihr tief in die Augen. Ihr Lächeln spiegelte das gleiche Gefühl wider, das ich in mir spürte: eine Mischung aus Aufregung, Freude und vielleicht auch einer kleinen Erleichterung, als hätten wir beide etwas gefunden, das uns in dieser ungewissen Zeit Halt gab.
***
Chantal und Lukas liefen lachend durch die verschneite Landschaft, die Sonne schien hell am Winterhimmel und ließ den frisch gefallen Schnee in einem funkelnden Glitzern erstrahlen. Ihre Schritte hinterließen tiefe Abdrücke im weichen Schnee, und ab und zu warf einer dem anderen einen Schneeball zu. Es war ein Moment der Unbeschwertheit, ein friedlicher Augenblick, der die Zeit stillstehen ließ.
»Du kannst einfach nicht gewinnen, Chantal!«, rief Lukas, als er einen weiteren Schneeball geschickt in ihre Richtung warf.
»Warte nur ab, ich werde dich schon erwischen!«, antwortete Chantal lachend und nahm ihr Ziel genauer ins Visier. Doch dann, plötzlich, schien Lukas in den weißen Weiten des Waldes zu verschwinden.
»Lukas?«, rief Chantal und blickte sich suchend um. Der Schnee funkelte noch immer im Sonnenlicht, aber der Wald wirkte plötzlich fremd, als wäre er sich seiner eigenen Stille nicht mehr sicher. Kein Geräusch, kein Lachen – nur das Knirschen des Schnees unter ihren Füßen.
»Lukas, wo bist du?«, rief sie noch einmal, ihre Stimme wurde lauter, aber es kam keine Antwort. Sie lief in die Richtung, in der er das letzte Mal gesehen hatte, ihre Schritte wurden hektisch, als das Gefühl von Unbehagen in ihr aufstieg. Der Wald hatte sich verändert, der Schnee war nicht mehr so einladend, der Glanz in der Luft schien zu verblassen.
Plötzlich, fast wie aus dem Nichts, sah sie ihn – Lukas stand mit dem Rücken zu ihr, regungslos. Ein seltsames Gefühl überkam sie, und für einen Moment blieb sie stehen, den Blick auf ihn gerichtet. »Lukas!«, rief sie voller Erleichterung, als sie ihn wiederfand.
Sie rannte auf ihn zu, voller Freude, dass sie ihn endlich gefunden hatte, doch als sie in seine Nähe kam, spürte sie, wie sich eine Kälte um sie legte. »Lukas!«, sagte sie noch einmal, als sie sich an ihn warf, um ihn in ihre Arme zu nehmen.
Aber als ihre Hände seinen Körper berührten, fühlte er sich seltsam an, kalt und hart wie Stein. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihn ansah. Sein Gesicht war fahl, fast wie ein Leichentuch, die Augen leer und glasig, starrten ins Nichts. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.
»Lukas?«, flüsterte sie mit zitternder Stimme, als eine unheimliche Stille sich zwischen ihnen ausbreitete. Doch dann – plötzlich – öffnete sich sein Mund. Nicht wie bei einem normalen Menschen, sondern in einer unnatürlich weiten, grotesken Bewegung.
Zuerst kam nur ein Riss in seiner Zunge hervor, dann traten aus seinem Mund schwarze, knochige Finger, die wie Schatten über die Luft zu kriechen schienen. Mit einem Grinsen, das nicht von ihm stammte, griffen die schwarzen Hände nach Chantal, ihre Finger packten nach ihrem Gesicht, mit einer Kälte, die sich bis in ihre Knochen bohrte.
»Nein!«, schrie sie, als die Hände sie festhielten, ihre Finger drückten ihr Gesicht zusammen, zogen sie näher an den verformten Mund. Sie versuchte, sich zu wehren, schlug um sich, doch die Hände waren wie aus Eisen, hielten sie unerbittlich fest und zogen sie immer weiter hinein, in das furchtbare, hungrige Dunkel.
Sie schrie, doch der Raum um sie schien sich zu verziehen, die Luft dicker zu werden. Ihre Atemzüge wurden schneller und panischer. Die Hände zogen sie weiter in den unerträglichen Abgrund, und der Schmerz, die Kälte, die Dunkelheit – sie übermannte sie.
Chantal fuhr schreiend aus dem Schlaf, der Schrei war schrill und durchdringend. Ihr Atem war hektisch, ihre Augen weit aufgerissen, als sie sich in den Armen ihrer Mutter wiederfand. Doch trotz der Nähe, trotz der Sicherheit, die ihre Mutter versuchte zu bieten, war sie nicht zu beruhigen.
»Mein Schatz, es ist alles gut«, flüsterte ihre Mutter verzweifelt und drückte sie sanft an sich. »Du bist sicher. Du bist zu Hause. Es war nur ein Alptraum.«
Aber Chantal kämpfte sich los, schlug mit den Händen gegen ihre Mutter, ihre Atmung wild und unkontrollierbar. Chantal schrie, während ihre Mutter immer wieder auf sie einredete und versuchte zu beruhigen, doch Chantal hörte nicht hin, sie war bereits in ihrer eigenen Welt gefangen, ihr Blick von einer unerklärlichen Angst durchzogen.
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