Onkel Matt lag reglos auf dem steinernen Boden, seine Kleidung zerfetzt und von dunklen Flecken übersät, die Blut sprachen. Eine scharfe Kälte zog sich durch den Raum, aber mein Herz brannte vor Sorge und Entschlossenheit. Wir mussten ihn hier rausbekommen, und zwar schnell.
»Komm schon, Onkel Matt«, murmelte ich, während ich mich neben ihn kniete und seine Schulter packte. Corvin trat an meine Seite und half mir, ihn zu stützen. Es war ein schwerer, fast erdrückender Moment. Die Zerrissenheit in mir wuchs, als ich ihn in meinen Armen spürte – hilflos, verletzt, aber dennoch so nah. Ich hatte ihn immer als einen der Stärksten angesehen, doch hier, in diesem Moment, war er ein Schatten seiner selbst.
Mit einem tiefen, schmerzenden Atemzug zogen wir ihn gemeinsam auf, die Muskeln in meinen Armen brannten unter der Anstrengung, aber es gab kein Zurück. Mit jeder Etappe, die wir die steinernen Stufen des alten, heruntergekommenen Tempelbaus hinaufstiegen, fühlte es sich an, als würde das Gewicht der ganzen Nacht auf uns lasten. Der kalte Boden unter unseren Füßen knirschte bei jedem Schritt, und ich konnte das Dröhnen der Wurzeln noch in meinen Ohren spüren, als ob der Brunnen noch immer hinter uns lauerte.
Zu meiner Überraschung aber führte uns unser Weg nicht hinaus aus den Minen, wie ich es erwartet hatte. Stattdessen stiegen wir die steinernen Stufen empor, die an die Klosterruine führten, die auf einem Berg thronte. Die Ruinen waren ein stilles Zeugnis vergangener Epochen – zerbrochene Mauern, die von der Zeit und den Elementen gezeichnet waren, und verwitterte Säulen, die sich in den Himmel reckten wie die Skelette einer längst vergangenen Zivilisation. Das Kloster war ein Ort der Stille und der Vergessenheit, als ob der Lauf der Geschichte hier eine Pause eingelegt hätte, um in einem nie endenden Schlaf zu verweilen.
Der Morgen war trüb, grau und von einer unheilvollen Kälte durchzogen. Ein eisiger Wind fegte über die Ruine und peitschte uns ins Gesicht, als wir die Stufen hinaufstiegen, schwer beladen mit dem Gewicht der Ereignisse, die wir hinter uns gelassen hatten. Der Himmel über uns war dicht mit Wolken verhangen, als ob die Sonne beschlossen hätte, an diesem Tag nicht zu erscheinen, als ob sie sich dem trüben Glanz des Dezembertages verweigerte. Ein feiner Schnee rieselte aus den Wolken, aber der Wind verwehte ihn fast sofort wieder, als ob er sich nicht länger an der Erde festhalten wollte.
Die Kälte kroch tief unter meine Haut, und der Atem in der Luft bildete kleine, dichte Nebelschwaden, als wir durch das verfallene Torbogen des Klosters hindurchtraten. Als wir den letzten Schritt aus dem Schatten der Ruine machten, öffnete sich vor uns der Blick auf den verschneiten Wald. Die Bäume standen starr und kahl, ihre Äste von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Die Luft war frisch und beißend, und der Duft von Eis und verfallener Erde lag schwer in der Atmosphäre.
***
Nachdem ich Onkel Matt ins Krankenhaus geschleppt hatte, wurde er sofort von den Ärzten in Empfang genommen. Seine Wunden wurden behandelt. Der Schmerz war noch nicht ganz verschwunden, aber er war am Leben. Ich stand still daneben, während die Ärzte schnell und professionell arbeiteten. Die Atmosphäre im Krankenhaus war hektisch, aber wir hatten unseren eigenen kleinen Bereich, in dem die Dämmerung des erlebten Schreckens langsam von der trüben, weißen Neonbeleuchtung durchdrungen wurde.
Es war nicht lange, bis die Polizei eintraf. Zwei Beamte, ein Mann und eine Frau, kamen direkt auf uns zu. »Könnten Sie uns bitte schildern, was passiert ist?«, fragte der Polizist, als er uns ansprach.
Onkel Matt und ich tauschten einen kurzen Blick aus, bevor er begann, die Version der Ereignisse zu erzählen, auf die wir uns zuvor geeinigt hatten: Ein Unbekannter hatte uns auf unserem Heimweg überfallen. Es sei zu einem Kampf gekommen, bei dem Onkel Matt verletzt wurde, doch wir hätten den Angreifer schließlich in die Flucht geschlagen. Der Polizist nickte ernst, aber der Blick in seinen Augen verriet, dass er mehr wissen wollte.
»Hatte dieser Angreifer vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches an sich? Krähen?«, fragte der Polizist weiter, seine Miene unbestimmt.
»Nein«, antworteten wir beide fast gleichzeitig. Ich dachte sofort an die Situation mit Julie und Leo, als ich sie vor dem Nachtgiger rettete, wie die Krähen sich auf mich stürzten, ihre scharfen Schnäbel und krallenartigen Flügel. Aber ich wusste, dass ich diese Details nicht preisgeben konnte.
Der Polizist schien diese Erklärung zu akzeptieren und notierte etwas in seinem Notizbuch, während seine Kollegin uns skeptisch musterte. »Wissen Sie, in den letzten Tagen gab es ein ähnlicher Vorfall. Zwei Jugendliche wurden ebenfalls von einem Unbekannten attackiert, aber sie hatten Glück. Sie wurden von einem weiteren Unbekannten gerettet«, sagte die zweite Polizistin und warf uns einen nachdenklichen Blick zu. Onkel Matt und ich tauschten erneut einen Blick aus. Es war klar, dass diese „Zufälle" in den Augen der Polizei kein Zufall mehr waren, aber wir hielten unsere Lügen aufrecht. Auf keinen Fall konnten wir und vor allem ich ihnen die wahre Geschichte erzählen.
Auch gegenüber Maja hatten wir uns auf die Lüge geeignet -vorerst.
»Sobald ich wieder Zuhause bin, werde ich euch die ganze Wahrheit über unsere Familie eröffnen«, hatte Onkel Matt mir versprochen, als wir allein in seinem Krankenzimmer waren.
Ich nickte nur, zu überwältigt von all den Geschehnissen der letzten Tage, um eine Antwort zu formulieren. In diesem Moment klopfte es leise an der Tür, und wir beide wandten unsere Köpfe gleichzeitig in Richtung des Geräuschs.
»Herein«, rief Onkel Matt, etwas überrascht, denn wir erwarteten keinen Besuch.
Die Tür öffnete sich langsam, und Corvin trat ein, wie immer in seinem eleganten schwarzen Mantel gehüllt. Die Sonnenbrille, die er trug, wirkte fehl am Platz bei dem tristen Dezembertag, doch sie passte zu seiner Aura der Unnahbarkeit. Er schloss die Tür hinter sich, bevor er lächelnd sagte: »Ich dachte, ich schaue mal nach, wie es dem Verletzten geht.«
»Und das sogar am helllichten Tag unter Menschen?«, fragte ich. Er grinste leicht. »Ich bin diskreter, als du denkst. Niemand hat mich bemerkt.«
Onkel Matt zog die Augenbrauen zusammen, doch seine Erschöpfung hinderte ihn daran, Corvin zu hinterfragen. Stattdessen sagte er trocken: »Nun, wenn du schon hier bist, setz dich.«
Corvin zog sich einen der ungemütlich aussehenden Besucherstühle heran und ließ sich darauf nieder, wobei er eine gelassene Haltung einnahm, als wäre er der Gastgeber und nicht der Besucher. »Ich wollte nur sicherstellen, dass bei euch alles in Ordnung ist«, sagte er schließlich, sein Blick hinter der Sonnenbrille verborgen.
Ich spürte, wie die Atmosphäre zwischen den beiden sich veränderte, und ein Gefühl von Uneinigkeit machte sich breit. »Entschuldigt mich, ich muss kurz auf die Toilette«, sagte ich, teils aus Notwendigkeit, teils, um der Spannung zu entkommen. Onkel Matt nickte nur, während Corvin mich kurz musterte, bevor er wieder seine Aufmerksamkeit auf meinen Onkel richtete.
***
Kaum hatte Magnus das Zimmer verlassen, legte sich eine kurze Stille über den Raum. Matthias richtete sich mühsam in seinem Bett auf, seine grauen Augen ruhten auf dem Halbdämonen, der lässig auf dem Stuhl saß. Die Spannung zwischen ihnen war fast greifbar, wie eine Brücke aus Erinnerungen und unausgesprochenen Worten, die über die Jahre hinweg bestand hatte.
»Ich muss dir wohl oder übel meinen Dank aussprechen, dass du meinen Neffen und mich gerettet hast«, begann Matthias schließlich, seine Stimme rau und zögerlich. Es war offensichtlich, dass ihm die Worte schwerfielen, denn der Gedanke, einem Halbdämonen zu danken, widersprach allem, was ihm beigebracht worden war. Sein Vater hatte ihn gelehrt, Dämonen und Schattenwesen zu misstrauen, sie zu jagen, nicht ihnen zu vertrauen. Doch die Wahrheit ließ sich nicht leugnen.
Corvin winkte nur locker ab und lehnte sich zurück. »Nicht der Rede wert«, sagte er mit einem Hauch von Gleichgültigkeit. »Sieh es einfach als Zeichen, dass ich dir verziehen habe.«
Matthias zog die Augenbrauen zusammen, musterte Corvin skeptisch. Er atmete tief durch, als wollte er die Last der Vergangenheit loswerden. »Nach allem, was ich dir damals angetan habe, hättest du mich auch opfern können«, gab er zu, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Ich hätte dich beinahe getötet.«
Ein leichtes Schmunzeln umspielte Corvins Lippen, aber es war nicht ganz ohne Bitterkeit. »Du warst jung und verängstigt«, antwortete er ruhig. »Aber ein Sturkopf bist du immer noch.«
Ein schwaches Lächeln huschte über Matthias Gesicht, doch die Schwere der Erinnerungen ließ es schnell verblassen.
Corvin zog langsam seine Sonnenbrille ab, enthüllte seine goldenen Katzenaugen. »Ich habe Magnus gerettet, weil ich in ihrer Schuld stand«, sagte er leise, seine Stimme voller Gewicht. Seine Augen begegneten Matthias und für einen Moment schien die Vergangenheit wieder lebendig zu werden.
»Martha«, murmelte Matthias, der Name seiner verstorbenen Schwägerin auf seinen Lippen wie ein verlorenes Gebet. »Sie hatte stets an das Gute im Menschen geglaubt. Selbst in dir.«
Corvin nickte langsam, seine Miene zeigte einen Anflug von Wehmut. »Sie hatte trotz allem immer ein reines Herz«, entgegnete er, und seine Stimme zitterte beinahe bei diesen Worten. Er sah kurz zur Seite, als ob die Erinnerung ihn übermannen könnte, bevor er sich wieder Matthias zuwandte. »Du hast sie sehr geliebt, oder?«, fragte er dann, direkt und ohne Umschweife.
Matthias wandte seinen Blick ab, starrte auf die weißen Krankenhauslaken, die seine Knie bedeckten. Seine Schultern sanken herab, und er atmete tief durch. »Ich habe damals zwei wichtige Menschen verloren«, sagte er schließlich. »Martha, das Mädchen, das mein Herz begehrte, aber sich für meinen Bruder entschied. Und Betty, die in mich verliebt war, doch ich habe sie immer nur als meine gute Freundin gesehen.«
Seine Stimme brach, bevor er hinzufügte: »Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wenn der Nachtgiger mich erwischt hätte, statt Betty.«
Corvin sah ihn mitfühlend an, doch seine Augen waren unnachgiebig. »Hat Martha von deinen Gefühlen gewusst?«, fragte er sanft.
Matthias schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, antwortete er, seine Stimme kaum hörbar. »Ich hab es ihr nie gesagt. Nach meinem Abitur habe ich Hals über Kopf die Stadt verlassen. Ich konnte es nicht ertragen.«
Corvin nickte bedächtig. »Sie hat immer vermutet, dass du weggingst, weil du Bettys Tod nie verkraftet hast«, sagte er, seine Worte wie ein Hauch von Wahrheit, den Matthias längst kannte. Matthias nickte nur. »Ich weiß«, flüsterte er schließlich, als ob dieses Wissen ihn noch immer verfolgen würde.
***
Ich öffnete die Tür zum Krankenzimmer und trat ein. »Oh gut, ihr habt euch in meiner Abwesenheit nicht die Köpfe eingeschlagen«, sagte ich halb im Scherz, obwohl die Spannung zwischen den beiden förmlich in der Luft lag. Ich schloss die Tür hinter mir und verschränkte die Arme. »Dann könnt ihr mir jetzt ein paar Fragen beantworten.«
Onkel Matt und Corvin sahen mich an, fast synchron, und nickten.
»Also, ihr zwei kennt euch?«, fragte ich, während ich die Augen skeptisch zwischen ihnen hin und her wandern ließ.
Onkel Matt nickte langsam. »Ja, wir kennen uns, weil Corvin auch 1984 dabei war, als wir versucht haben den Nachtgiger zu bekämpfen.«
Mein Blick wanderte zu Corvin, der mich mit seinem typischen, undurchschaubaren Lächeln ansah. »Nicht nur... ich war ein Teil der Jagd, zumindest von der deines Onkels«, fügte Corvin hinzu, seine Stimme ruhig und beinahe amüsiert.
Onkel Matt atmete tief durch, bevor er weitersprach. »Ich hatte ihn damals eingesperrt. Ich hielt ihn für einen bösartigen Dämo0n, eine Bedrohung, die beseitigt werden musste.« Seine Stimme wurde leiser, als ob es ihm schwerfiel, diese Worte auszusprechen. »Ich wollte ihn töten.«
Ich starrte ihn an, unfähig, die Worte sofort zu verarbeiten. »Du... wolltest ihn töten?«, fragte ich ungläubig und wandte mich dann zu Corvin.
»Deine Mutter hatte aber dazwischengefunkt. Sie hat mich gerettet.«
»Mama?«, fragte ich, meine Stimme ungläubig. Es fühlte sich an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.
Onkel Matt nickte, sein Gesichtsausdruck war ernst. »Ja, deine Mutter entstammte auch aus einer Familie von Dämonenjäger. Sie hat sich immer für das Gute in jedem eingesetzt, egal, ob Mensch oder nicht.«
Corvin lächelte sanft und zwinkerte mir zu. »Sie war eine bemerkenswerte Frau. Aber keine Sorge, die Wogen zwischen deinem Onkel und mir sind inzwischen geglättet.«
Ich schaute skeptisch zu Onkel Matt, der still nickte.
»Das ist... eine Menge auf einmal«, murmelte ich und ließ mich auf meinen Stuhl neben dem Bett sinken.
Corvin erhob sich geschmeidig, sein schwarzer Mantel schwang leicht, als er sich von seinem Stuhl entfernte. »Nun, da hier alles unter Kontrolle zu sein scheint, werde ich mich jetzt verabschieden«, sagte er mit einem leichten Lächeln, das weder freundlich noch kalt war – einfach Corvin.
Ich öffnete den Mund, um zu protestieren. »Warte, ich habe noch Fragen! Über den Nachtgiger, Elscheid, den Tempel und...«
Corvin hob eine Hand, um mich ruhig zu halten, und nickte in Richtung meines Onkels. »Du solltest dich erst einmal erholen. Es war eine lange Nacht – für uns alle.«
»Aber-«
»Es gibt keine Eile«, unterbrach er mich mit seiner typischen, gelassenen Stimme. »Wir können über all das sprechen, wenn wir beide wieder gestärkt sind. Außerdem«, er warf einen vielsagenden Blick zu meinem Onkel, »gibt es hier jemanden, der dir ebenfalls Antworten geben kann.«
Onkel Matt, der sich bis dahin schweigend zurückgelehnt hatte, nickte langsam. »Corvin hat recht. Ruh dich erst aus, Sportsfreund. Danach werden wir reden.«
Ich wollte widersprechen, doch die Erschöpfung in meinen Knochen und die leise, beständige Stimme der Vernunft in meinem Kopf hielten mich davon ab. Corvin trat näher an mich heran, legte eine Hand auf meine Schulter, kurz und leicht, wie ein flüchtiges Zeichen der Unterstützung. Schließlich drehte er sich um und ging zur Tür. Sein Mantel glitt hinter ihm her, und bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal halb zu uns um. »Jede Antwort folgt dem Ruf ihrer Stunde.«
Dann schloss sich die Tür leise hinter ihm, und der Raum fühlte sich mit einem Mal seltsam leer an.
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