[41] Im Angesicht des Lichts
Die schweren Holztüren der St. Barbara Kirche gaben ein langgezogenes Knarren von sich, als Corvin sie mit einer geschmeidigen Bewegung aufdrückte. Ein kalter Luftzug streifte mein Gesicht, und ich fröstelte, obwohl mein Herz vor Aufregung schneller schlug. Die Kirche lag im Dunkeln, nur wenige Kerzen auf dem Altar und in den Seitenkapellen warfen ihr flackerndes Licht in den Raum.
Die St. Barbara Kirche war ein Meisterwerk gotischer Architektur, mit hohen, spitz zulaufenden Gewölben, die in der Dunkelheit fast unsichtbar verschwanden. Der Bau war von einer erhabenen Schönheit, die Ehrfurcht einflößte: schlanke Säulen stiegen empor wie steinerne Bäume, verzierte Kapitelle und Spitzbögen umrahmten farbige Fenster, deren Glasmalereien Geschichten von Heiligen und Legenden erzählten. Selbst im spärlichen Kerzenlicht schienen die Figuren auf den Glasfenstern lebendig zu werden, als ob sie uns mahnend beobachteten.
Der Boden unter meinen Füßen war kalt, eine Mischung aus altem Stein und unzähligen Jahren von Gebeten, die diesen Ort durchdrungen hatten. Über allem lag ein schwerer Duft – der süße, fast würzige Geruch von Weihrauch, der sich in jede Faser der Kirche eingegraben hatte. Es war, als ob eine Jahrhundertmesse gerade erst zu Ende gegangen wäre, und die Geister der Gläubigen noch immer in den Wänden schwebten.
»Andere plündern goldene Reliquien - wir stehlen das Licht der Andacht«, murmelte ich und schnaubte leise, während wir uns vorsichtig vorwärtsbewegten.Altarfiguren erhoben sich vor uns, beeindruckend und einschüchternd zugleich. Besonders die steinerne Statue der Heiligen Barbara, die in der Mitte thronte, zog meinen Blick auf sich. Mit einer Miniatur-Burg in der Hand und Augen, die streng und wissend wirkten, schien sie uns direkt anzusehen, als ob sie die Dreistigkeit unseres Vorhabens durchschaut hätte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, doch ich schüttelte das Gefühl schnell ab.
Corvin drehte sich zu mir um, seine goldenen Augen funkelten im Kerzenlicht wie die von Raubkatzen. »Nun, wer will schon schnöden Goldkram, wenn er etwas haben kann, das wirklich mächtig ist?« Er grinste, ein schiefes, leicht amüsiertes Grinsen, das mir fast ein Lächeln entlockte – fast. Unsere Schritte hallten gedämpft auf dem kalten Steinboden wider. Ich hatte das Gefühl, jeder Laut könnte uns verraten, obwohl die Kirche verlassen schien.
»da vorne«, flüsterte Corvin und wies auf den Altar, wo mehrere Kerzen in schwarzen Haltern brannten. Die Flammen flackerten leicht, als ob sie unseren Anblick spürten.
»Wie machen wir das?«, fragte ich und senkte meine Stimme, als wäre der Raum voller Menschen, obwohl niemand in der Nähe war.
»Ganz einfach«, antwortete Corvin trocken. Er zog einen kleinen Käfig aus seiner Manteltasche, der fast wie ein Schmuckstück wirkte, seine filigranen Gitter aus silbernem Draht glänzten im schummrigen Licht der Kirche. »Wir nehmen, was wir brauchen, und verschwinden, bevor jemand merkt, dass wir hier waren.«
Ich betrachtete den Käfig skeptisch. »Ein Käfig?«, fragte ich, noch immer ungläubig.
Wie sollte das uns helfen?
Corvin ließ ein spöttisches Lächeln über seine Lippen gleiten, das in seinem Gesicht kaum eine Regung verriet.
»Es ist ein magischer Käfig. Damit werden die brennenden Kerzen geschützt«, erklärte er, als ob es die einfachste Sache der Welt wäre.
Gerade als ich mich wieder auf die Kerze konzentrieren wollte, hörte ich eine Stimme. Sie war warm und dennoch von einer Kälte durchzogen, die einen Schauer über den Rücken jagte. »Ihr wagt es, das Licht der Andacht zu stehlen?« Die Worte hallten im Raum, als wären sie von den Wänden selbst ausgespuckt worden.
Erschrocken wirbelten Corvin und ich gleichzeitig um. Mein Herz schlug schneller, als wir eine Gestalt aus den Schatten des Kirchenfensters hervortreten sahen. Die Gestalt war hochgewachsen, beinahe übermenschlich in ihrer Statur. Ein strahlendes, goldenes Licht schien von ihr auszugehen, als ob das gesamte Universum in diesem Moment durch sie hindurchstrahlte.
»Was... was ist das?«, flüsterte ich, der Mund trocken vor Staunen. Die Erscheinung trat weiter hervor. Ihre Flügel waren riesig und majestätisch, das weiße Gefieder schimmerte in einem sanften Goldton. Die Spitzen seiner Flügel funkelten im Schein der Kerzen wie brennendes Metall.
Das Gesicht der Gestalt war zeitlos, wie aus einer anderen Ära, mit symmetrischen Zügen, die etwas Erhabenes und doch Mitfühlendes ausstrahlten. Die Augen, tief und unergründlich, glühten wie bernsteinfarbene Flammen und schienen alles zu sehen – alles zu durchschauen. Sie durchdrangen mich, als ob sie jedes Geheimnis meiner Seele entblößen könnten. Das Haar der Gestalt fiel in einer perfekten goldenen Kaskade über seine Schultern, ein fast überirdischer Glanz, der sich in der Dunkelheit der Kirche abhob.
»Uriel...«, flüsterte Corvin mit einer Mischung aus Respekt und Besorgnis. Der Name klang wie ein ungeschriebenes Gesetz, das in den stillen Hallen der Kirche widerhallte. Der Engel, der für das Licht Gottes stand.
»Wagt ihr es wirklich, das Licht zu entweihen?«, wiederholte Uriel mit einer Stimme, die zugleich weich und kraftvoll war, als würde jeder Ton die Luft um uns herum dämpfen.
Für einen Moment stand die Zeit still. Ich wusste, dass wir nicht einfach entkommen konnten. Der Engel stand da, eine lebendige Verkörperung von Licht und Gerechtigkeit. Die Frage, die er uns stellte, klang wie eine unausweichliche Wahrheit, die uns in den Boden bohrte. Doch die Antwort lag in uns – in dem, was wir zu tun gedachten.
Der Halbdämon trat einen Schritt vor, seine Haltung so ruhig und überlegt wie immer. »Wir sind nicht hier, um das Licht zu entweihen«, sagte er leise, aber bestimmt. »Wir brauchen es, um gegen das Dunkel zu kämpfen, das sich über diese Stadt zu legen scheint. Es ist eine Frage des Schutzes, nicht des Diebstahls.«
Uriels goldene Augen funkelten, und für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Der Engel betrachtete uns mit einer Intensität, die alles durchdrang, was wir taten, und das, was wir dachten.
Ich stand völlig baff da. Zwar hatte ich mich inzwischen mit dem Gedanken angefreundet, dass Dämonen unter uns ihr Unwesen trieben, aber nun stand hier eine leuchtende, überirdische Gestalt des Lichts, die genauso real und greifbar war wie alles andere in dieser Kirche. Die Wahrheit, dass es nicht nur Dunkelheit, sondern auch Licht unter uns gab, schlug mir wie eine Welle ins Gesicht. Für einen Moment war ich sprachlos, unfähig, meine Gedanken zu ordnen.
Ich dachte an Leo, der vermutlich voller Aufregung und Staunen gewesen wäre, wenn er dies sehen könnte. Der würde vor Begeisterung förmlich platzen, sich in all dem Glanz und der Pracht verlieren. Aber hier und jetzt – ich war alleine mit dieser himmlischen Erscheinung, und das Gefühl, dass ich mich in einer anderen Welt befand, war beinahe unerträglich.
»Ihr sucht also das Licht, um gegen das Dunkel zu kämpfen?« Uriel fragte, als er uns weiterhin in seiner unendlichen Ruhe musterte. Wir beide nickten fast gleichzeitig, das Bedürfnis, uns mit dieser Aufgabe zu rechtfertigen, drängte uns vorwärts. Uriel ließ uns nicht aus den Augen, sein Blick so scharf, als würde er in unsere Seelen blicken.
»Warum sollte ich dir glauben, Schattensohn?«, entgegnete er mit einer Schärfe in seiner Stimme, die den Raum durchzuckte. Die Worte klangen wie ein Vorwurf, der mich zugleich zutiefst verunsicherte.
Die Zärtlichkeit des Lichts, das den Engel umgab, wich einem Hauch von Misstrauen. Mein Herz zog sich zusammen, aber ich sammelte meinen Mut. »Weil sonst weitere unschuldige Menschen dem Nachtgiger zum Opfer fallen werden«, sagte ich, meine Stimme zitterte, obwohl ich versuchte, sie fest und bestimmt zu halten. Es war, als müsste ich alles riskieren, um dieses Gespräch zu gewinnen. Uriels Augen verengten sich, und sein Blick wanderte von mir zu Corvin und dann wieder zurück. Die Spannung zwischen uns war greifbar, fast so, als ob der Raum selbst den Atem anhielt. »Ich höre, Sohn eines Adams«, antwortete er schließlich. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Die Worte hallten in meinem Kopf nach und ließen mein Herz schneller schlagen.
Ich schluckte, unfähig, sofort zu antworten. Etwas in seiner Stimme ließ mich frösteln. Corvin sah mich an. Es war nicht der übliche kühle Blick, der die Welt um uns herum in klaren Farben erscheinen ließ, sondern etwas anderes – ein leises Verständnis, als würde er wissen, was gerade in mir vorging. Doch er sagte nichts.
Langsam trat ich einen Schritt näher, mein Herz schlug schnell und ich spürte die Kälte, die in meinen Händen pulsierte, als wollte die Dunkelheit, die tief in mir lauerte, sich wieder in den Vordergrund drängen. Doch die Wärme des Engels, die wie ein sanfter Schein durch die Luft strömte, fühlte sich zugleich beruhigend und überwältigend an. Es war, als würde ich mich in einem unsichtbaren Feuer verlieren, dessen Hitze mich gleichzeitig beruhigte und in Flammen setzte.
»Hören Sie, eure Hoheit, oder Engel, wie auch immer Sie angesprochen werden wollen...«, stieß ich hervor, meine Stimme zitterte, aber ich versuchte, fest zu bleiben. »Wir brauchen das Licht, um den Nachtgiger zu besiegen. Damit ich meine Freunde davor schützen kann. Glauben Sie mir, ich habe mir das nicht freiwillig rausgesucht... aber ich kann nicht tatenlos dasitzen.«
Es war ein Aufschrei aus meiner Seele, eine Mischung aus Verzweiflung und Entschlossenheit, die mich trieb. Die Worte kamen ungebremst, als hätten sie sich in meinem Innersten gestaut und suchten nun ihren Weg nach draußen. Ich hoffte, der Engel konnte die Wahrheit in meinen Augen lesen. Dass er spürte, dass dies mehr als nur eine Bitte war. Uriel sah mich erhaben an, und die goldene Aura um ihn schimmerte fast stärker, als würde er meine Worte wie ein Gewicht messen.
»Bemerkenswert, dein Mut, Junge«, antwortete er ruhig, seine Stimme war tief und durchdringend, als ob sie direkt in meine Seele sprach.
Plötzlich bewegte er sich, mit einer Grazie, die fast überirdisch wirkte. Er ging auf mich zu, sodass wir nun auf Augenhöhe standen, und ich spürte, wie sich seine Präsenz noch verstärkte. Seine Augen, ein intensiver Bernstein, trafen meinen Blick und ich konnte kaum den Atem anhalten. Es war, als ob die Zeit stillstand, während er mich musterte. Seine Augen schienen nicht nur mein Gesicht zu sehen, sondern jede Schicht meines Wesens, jede Unsicherheit und jede Furcht, die ich in mir trug. Es war, als ob er den Kampf in mir erkannte, den ich tagtäglich führte.
»Du kämpfst tapfer gegen die Dunkelheit, Junge«, sagte er mit einer unerklärlichen Wärme in seiner Stimme, die fast wie ein sanfter Hauch an meinem Herz vorbeizog. »Doch denke daran, dass nicht jedes Licht im Dunkeln der gleiche Zweck dient. Manche Flammen auf, nur um zu verbrennen.«
Ich schluckte, unsicher, wie ich auf seine Worte reagieren sollte. Doch bevor ich darauf antworten konnte, wandte sich Uriel wieder Corvin zu, als hätte er meine Gedanken in diesem Augenblick abgelegt, als wären sie keine Bedrohung mehr.
Die Veränderung in seiner Haltung war subtil, aber spürbar. Er schien den Halbdämon ebenso zu mustern, als ob er ihn auf die gleiche Weise wie mich durchdringen wollte.
Dann, mit einer Ruhe, die gleichzeitig bedrohlich und heilig wirkte, richtete er sich vollkommen auf. Es war, als ob der Raum um ihn herum noch größer wurde, als ob er in der Lage war, das ganze Universum mit einem Blick zu umfassen. Seine goldenen Augen schimmerten intensiv, und als er die Hand erhob, formte sich aus der Luft vor ihm ein kleiner, leuchtender Feuerball. Die Flammen flackerten kurz, dann warf der Feuerball ein strahlendes Licht, das wie ein winziger, lebendiger Stern wirkte.
»Lux vel ignis Dei«, sagte Uriel mit einer Stimme, die wie der Klang von heiligem Metall war, scharf und klar, »Mein Licht ist Gott und es soll auch eures sein.«
Der Feuerball flammte auf und schwebte in der Luft, als hätte er ein Eigenleben. Die Luft um uns herum schien plötzlich zu vibrieren, erfüllt von einer Macht, die weit über das hinausging, was ich je gefühlt hatte. Für einen Moment schien es, als würde alles im Raum auf das Licht des Engels fokussiert werden.
Corvin reagierte sofort. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er den magischen Käfig, den er bei sich trug. Der Käfig, der klein und unscheinbar war, schien fast zu zittern, als der Feuerball sich langsam, aber zielgerichtet auf ihn zubewegte. Die Flammen züngelten und funkelten, als sie in den Käfig glitten, wobei die Luft um uns herum fast noch heißer wurde. Ein Hauch von mystischer Energie schwebte im Raum, und der kleine Käfig schloss sich mit einem leisen Klicken. Der Feuerball war eingesperrt – ein leuchtendes, gefangenes Wesen.
Ich starrte auf das Licht, das nun im Käfig lag, wie ein Tier, das gefangen und doch ungebrochen war. Es war atemberaubend, dieses Leuchten in der Dunkelheit der Kirche. Für einen Augenblick vergaß ich die ganze Welt um mich herum.
Uriel, der den Vorgang mit einer erhabenen Ruhe beobachtet hatte, wandte nun seinen Blick erneut auf uns. »Wer das Licht Gottes sucht«, sagte er mit einer ernsten, jedoch nicht unfreundlichen Stimme, »dem werde ich auch helfen.« Er machte eine kurze Pause, als ob er sicherstellen wollte, dass wir die Bedeutung seiner Worte verstanden.
Doch dann fügte er hinzu, und seine Stimme wurde schwerer, als wäre sie mit einem Hauch von Vorahnung durchzogen:
»Bedenkt – das Licht, das ihr sucht, kann euch ebenso verbrennen, wie es euch rettet. Nutzt es weise, oder ihr werdet von der Dunkelheit gezeichnet.«
Mit diesen Worten verschwand er, und die Kirche wurde wieder von einer eisigen Stille erfüllt.
***
Die Straßen lagen still und verlassen vor uns, nur das gedämpfte Klacken unserer Schritte hallte in der kühlen Nachtluft. Der Wind wehte kalt durch die Gassen, als ob er die Last unserer Begegnung mit Uriel spüren würde. Mein Kopf war noch immer voller Fragen, aber die Antworten schienen immer weiter weg.
Der Engel. Uriel. Ein Wesen aus Licht. Ich hatte es gesehen.
»Woher kanntest du seinen Namen?«, fragte ich schließlich, die Frage drängte sich mir auf. Ich blickte zu Corvin, der ruhig neben mir ging, den Käfig mit dem Licht Gottes wie eine Laterne in der Hand.
»Man hat viel Zeit, sich einzulesen, wenn man so alt ist, wie ich«, antwortete der Halbdämon mit einem leichten Lächeln, das nicht ganz seine Augen erreichte. Er schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, doch ich konnte die Schwermut in seiner Stimme spüren.
»Und hast du zuvor schon einmal einen Engel gesehen?«, fragte ich weiter.
»Ja«, antwortete er, doch seine Miene blieb undurchdringlich. »Vor Uriel hab ich schon Mal einen anderen Engel getroffen, aber das ist eine andere Geschichte.«
»Glaubst du, Uriel hat gesehen, dass ich ein Wiedergänger bin?«, fragte ich dann, die Unsicherheit in mir wuchs.
War ich so leicht zu durchschauen? Würde Uriel uns oder mich stoppen?
Corvin warf mir einen Blick zu, als er die Frage hörte.
»Keine Sorge«, sagte er ruhig. »Engel mögen mächtig sein, aber Erzengel gehören nur zu dritten Hierarchie der neun Chöre der Engel. Sie sind Boten, keine Richter. Sie agieren auf Aufträge, sie beobachten, aber sie handeln nicht immer selbst.«
Ich nickte, fühlte mich trotzdem nicht ganz beruhigt. Die Frage nach meiner Existenz würde mich wohl noch lange beschäftigen.
»Wie geht es weiter?«, fragte ich dann, die Richtung von allem suchend.
»Ich werde die Fackel fertig machen«, antwortete Corvin, der Blick vor uns gerichtet, »und wenn du bereit bist, steigen wir in die Minen hinab.«
Ich atmete tief ein. Ein Zurück gab es nicht. Entweder wir kämpften und besiegten das Monstrum für ein und allemal oder wir ließen uns von der Dunkelheit verschlingen.
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