[40] Unter der Oberfläche
Ich blinzelte, als ich langsam wieder zu mir kam. Ein warmer, angenehmer Duft stieg mir in die Nase, vermischt mit dem leisen Knistern eines Kamins. Das sanfte Licht der Flammen schimmerte durch meine geschlossenen Augenlider, und ich spürte eine seltsame Ruhe, die mich durchströmte. Doch der Schmerz in meiner Brust, der mich durchzogen hatte, war noch da – dumpf und pochend.
Langsam öffnete ich die Augen und blinzelte gegen das gedämpfte Licht. Es war Corvins Wohnzimmer und ich lag auf seinem Teppich. Vor mir in gedämpftem Licht, kniete Corvin über mir. Seine Hände waren an meiner Brust, wo er offenbar meine Wunde versorgte. Ein leichter, klinischer Geruch stieg von den Verbandsmaterialien auf, die er benutzt hatte.
Langsam nahm ich meine Umgebung immer mehr wahr, und dann bemerkte ich etwas, das mir das Gefühl von Erleichterung brachte: Statt der riesigen Pranken, die noch vor kurzem meine Hände gewesen waren, hatte ich jetzt wieder normale Finger. Das Gefühl in meinen Händen war schwach, aber sie waren wieder menschlich.
»Wie?«, fragte ich krächzend, die Worte kamen mir schwer über die Lippen. Mein Kopf fühlte sich wie in Watte gepackt an, der Schmerz in meiner Brust war immer noch da, aber nicht mehr so durchdringend.
Corvin hob kurz den Blick und schenkte mir ein kleines, aber dennoch beruhigendes Lächeln. »Ich habe dir etwas dunkle Schokolade gegeben, als du fast schon zusammengebrochen wärst. Du warst völlig erschöpft und schwach. Anscheinend hat die Schokolade auf deine Dämonenenergie reagiert und sie abgeschwächt.«
Er ließ die Hände von meinem Brustkorb ab. »Das mag seltsam klingen«, fuhr er fort, »aber anscheinend gibt es eine Wechselwirkung zwischen dem Dämonenblut und bestimmten Nahrungsmitteln oder Substanzen. Ich habe noch eine Probe von deinem Blut genommen, um besser zu verstehen, was mein Blut mit deinem genau angerichtet hat.«
Ich fühlte, wie sich etwas in meinem Inneren zusammenzog, als ich an das Blut dachte.
Was genau hatte meine Verwandlung ausgelöst? War es die Dunkelheit, die in mir war, die mich in diesen Zustand versetzt hatte? Oder mein Beschützerinstinkt, als ich meinen Freunden zu Hilfe geeilt war?
Der Raum schien um mich herum zu fließen, während die Musik aus dem Schallplattenspieler im Hintergrund sachte und leise spielte. Ein leiser Jazzsong, der die Stille zwischen den Worten füllte. Die Melodie war beruhigend, fast verträumt. Sie war eine seltsame, aber willkommene Erinnerung daran, dass es in dieser Welt auch noch Ruhe gab, abseits des Chaos, das mich verfolgte.
Der Kamin knisterte leise, das Feuer tanzte in orange-gelben Wellen, und die Flammen warfen tanzende Schatten an die Wände. Die Hitze des Feuers war angenehm, sie kroch über meinen Körper und half mir, den Schock abzulegen. Langsam begann ich mich etwas zu erholen, meine Gedanken wurden klarer, die Dunkelheit in meinem Kopf ließ nach.
»Ich...«, murmelte ich, als ich versuchte, mich aufzurichten. Aber Corvin hielt mich sanft zurück.
»Bleib ruhig«, sagte er, während er erneut die Verbände überprüfte.
Der Schmerz, der noch in mir nagte, ließ mich keuchen, aber die Wärme des Feuers im Kamin und die sanfte Musik aus dem Schallplattenspieler linderte das Gefühl der Beklommenheit, das mich ergriff.
Ich versuchte, mich zu setzen, mein Kopf war noch benommen, doch die Frage, die mir auf der Zunge brannte, drängte sich in den Vordergrund. Ich blickte Corvin an, der mir seine volle Aufmerksamkeit schenkte, während er geduldig mit einer sterilen Kompresse über meine Wunde strich.
»Wie... was hat diese Verwandlung verursacht?«, fragte ich schließlich, meine Stimme rau, aber durchdrungen von einer Mischung aus Besorgnis und Verwirrung.
Corvin blickte auf, die goldenen Katzenaugen, die in diesem gedämpften Licht fast wie flüssiges Metall wirkten, fixierten mich. Er setzte das medizinische Material zur Seite und lehnte sich leicht nach hinten, als ob er über die richtige Antwort nachdachte.
»Es hat vermutlich etwas mit deinen Emotionen und deinen Instinkten zu tun gehabt«, begann er vorsichtig. »Der Dämon in dir hat wahrscheinlich die Gelegenheit genutzt, als du in Gefahr warst – vielleicht war es die pure Notwendigkeit, zu überleben, die diese Verwandlung ausgelöst hat. Aber genau sagen kann ich es auch nicht.«
Ich stieß einen tiefen, schmerzhaften Atemzug aus und schloss die Augen. Mein Herz raste, nicht nur wegen der physischen Wunde, sondern auch wegen der Erkenntnis, die sich in mir aufbaute. »Also bin ich... eine tickende Zeitbombe für mein Umfeld«, murmelte ich, mehr zu mir selbst, als zu Corvin. Das Gefühl, dass ich jederzeit die Kontrolle verlieren könnte, lastete schwer auf mir.
Corvin bemerkte das, seine goldenen Augen weiteten sich leicht, als er meine innere Unruhe spürte.
»Du kannst das in den Griff bekommen«, sagte er, seine Stimme war ruhig und fest, fast wie eine sanfte Umarmung. Er griff nach meinem Arm, um mir das Gefühl von Sicherheit zu geben. »Du musst nur lernen, diese Fähigkeit zu beherrschen. Du hast die Kontrolle über dich – du musst nur an dich selbst glauben, Magnus. Du kannst trotzdem ein normales Leben damit führen.«
Ich sah ihn an, seine Worte drangen kaum zu mir durch.
»Wie soll ich das glauben?«, flüsterte ich, meine Stimme beinahe ein Bekenntnis meiner eigenen Verzweiflung. »Mein Leben... ist seit dieser schicksalhaften Nacht von damals nicht mehr das Leben was ich kannte. Es wird nie mehr gewöhnlich sein.«
Corvin blieb still für einen Moment und ließ sich Zeit, um mir in die Augen zu sehen. Dann nickte er langsam, als würde er meine Angst und Zweifel verstehen.
»Ja, es hat sich verändert«, sagte er leise. »Aber das ist nicht das Ende. Du kannst deinen Weg trotzdem weitergehen und du wirst es schaffen. Dein Leben ist zwar anders geworden, aber das heiß nicht, dass es schlechter sein muss.«
Trotz seiner Worte spürte ich den Druck in meiner Brust wachsen, als die Realität meiner Situation immer klarer wurde. Wie könnte mein Leben je wieder „normal" sein, wenn ich jederzeit in etwas Unkontrollierbares verwandelt werden konnte?
***
Leo lag in seinem Bett, tief unter seiner Decke verborgen, die ihm dennoch kaum Wärme schenkten. Sein Schlafanzug klebte feucht an seiner Haut. Die Flucht aus dem Wald hatte seinem ohnehin angeschlagenen Gesundheitszustand den Rest gegeben. Sein Kopf dröhnte, und seine Glieder fühlten sich an, als bestünden sie aus Blei. Durch das gekippte Fenster wehte ein kühler Hauch ins Zimmer und trug das leise, sanfte Knistern fallender Schneeflocken mit sich. Es war draußen zwar hell, doch der Himmel blieb grau und schwer – als wollte er die Stille dieses Wintertages nicht stören.
Plötzlich klopfte es an seiner Zimmertür. Das Geräusch war leise, aber Leo zuckte dennoch leicht zusammen. Er drehte schwerfällig den Kopf zum Türrahmen, blinzelte müde und krächzte mit belegter Stimme: »Ja... komm rein.«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wurde die Tür aufgestoßen, und ein kleiner Wirbelwind schoss ins Zimmer. Nemo, der Yorkshire Terrier seiner Familie, rannte schwanzwedelnd hinein, seine Pfoten klapperten eilig auf dem Boden. Für einen Moment war es, als würde die Welt durch die pure Lebensfreude des kleinen Hundes wieder ein Stück heller.
»Nemo... du kleiner Spinner«, murmelte Leo, während er versuchte, ein müdes Lächeln zustande zu bringen. Der kleine Hund sprang mit einem kräftigen Satz aufs Bett und stupste Leos Arm mit seiner feuchten Nase an. Dann leckte er ihm über die Wange, als wolle er sicherstellen, dass Leo wirklich noch lebte. Sein Schwanz wedelte so heftig, dass das Bett leicht vibrierte.
Leo hob eine Hand und kraulte den kleinen Kopf seines tierischen Freundes. »Ich hab dich auch vermisst, Kleiner«, murmelte er.
Hinter Nemo traten Juliette und Lisa ein. Juliette wirkte leicht zerzaust mit den erröteten Wangen von der Kälte draußen, während Lisa leise hinter ihr hereinschlüpfte, ihre Arme verschränkt und die erdbeerblonden Haare zu einem festen Zopf gebunden. Sie schlossen die Tür behutsam hinter sich.
Leo sah die beiden überrascht an. »Was... was macht ihr denn hier?« Seine Stimme war schwach, aber ein Stück heller als zuvor.
»Deine Oma hat uns reingelassen«, antwortete Juliette und warf einen kurzen Blick zu Leo, der halb aufrecht im Bett saß. Ihr Blick glitt besorgt über sein blasses Gesicht. »Wir wollten kurz nach dir sehen und schauen, wie es dir geht.«
Lisa nickte zustimmend und zauberte eine Packung Tofifee hervor, die sie hochhielt wie einen kleinen Schatz. »Ein bisschen Nervennahrung für dich«, sagte sie und lächelte dabei.
Leo blinzelte müde und richtete sich schwerfällig ein Stück weiter auf, wobei das Kissen in seinem Rücken leicht raschelte. »Tofifee? Ihr haltet euch aber gar nicht zurück«, murmelte er mit einem schiefen Lächeln.
»Dafür sind Freunde doch da«, entgegnete Lisa.
Juliette ließ sich auf den Schreibtischstuhl plumpsen, der mit einem leisen Quietschen nachgab. Lisa hingegen nahm im Sitzsack Platz, der ein dumpfes „Pffft" von sich gab, als sie hineinsank. Nemo, der die beiden Mädchen vorher aufgeregt begrüßt hatte, watschelte noch einmal kurz zu ihnen, schnüffelte prüfend an Lisas Jeans und Juliettes Socken, als könnte er irgendein Geheimnis erschnuppern. Zufrieden mit seiner Inspektion trottete er schließlich wieder zurück zu Leo, sprang aufs Bett und ließ sich mit einem tiefen Seufzer an seiner Seite nieder. Er rollte sich eng zusammen, sein Kopf auf Leos Schoß gebettet, und begann leise zu schnaufen, als hätte er eine große Aufgabe erledigt.
Juliette lehnte sich auf dem Schreibtischstuhl vor und musterte Leo. Ihr Blick blieb einen Moment zu lange auf seinem Gesicht und den schweißverklebten Haaren hängen. »Wie geht's dir?«, fragte sie schließlich vorsichtig, die Worte so weich, als wollte sie ihn nicht zusätzlich belasten. »Ich meine... nach allem, was passiert ist.«
Leo zog die Decke ein wenig höher, als könnte er sich vor der Erinnerung an die Nacht schützen. Er räusperte sich, dann zuckte er leicht mit den Schultern.»Könnte besser sein«, antwortete er heiser und unterbrach sich mit einem Hustenanfall, der seinen Oberkörper kurz durchschüttelte. Nemo hob den Kopf und sah ihn mit schief gelegtem Kopf besorgt an, bevor er sich wieder hinlegte.
»Wie geht es dir?« Leo richtete seinen Blick auf Juliette, seine himmelblauen Augen spiegelten ehrliche Sorge wider. Schließlich war sie es gewesen, die weinend in den Armen ihres Vaters zusammengebrochen war. Das Bild hatte sich in seinem Kopf eingebrannt.
Juliette zog sich die Ärmel ihres Pullovers über die Hände, als wollte sie sich schützen, und senkte den Blick kurz auf den Boden. »Es geht...«, sagte sie leise, ihre Stimme unsicher. Aber in ihrem Kopf tauchte unweigerlich die bedrohliche Gestalt des Nachtgigers auf – die glühend roten Augen, die unnatürlich Gliedmaßen, die drückende Dunkelheit, die ihn umgab. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie das Bild vertreiben.
»Ihr beide hattet wirklich Glück im Unglück, wisst ihr das?« Lisas Stimme schnitt durch die Stille. Sie saß mit verschränkten Armen im Sitzsack und betrachtete die beiden mit einem Ausdruck, der gleichzeitig Erleichterung und Schock zeigte.
»Weil wir einen Schutzengel hatten. Einen Engel der Nacht«, antwortete Leo leise.
Juliette sah an Leo an, bevor ihr Blick zu Lisa wanderte, die mit ernstem Gesichtsausdruck im Sitzsack saß. Lisa erwiderte ihren Blick für einen Moment, dann schüttelte sie leicht den Kopf und ließ die Arme sinken. »Es geht noch verrückter«, sagte sie zögernd.
Leo blinzelte und richtete seine Aufmerksamkeit auf Lisa. »Was meinst du damit?«
Lisa atmete tief durch, als würde sie sich sammeln müssen. Sie sah zu ihrem Schoß, spielte unruhig mit dem Rand ihres Pullovers, bevor sie zu sprechen begann: »Ich hatte einen Traum...« Sie hob den Kopf, ihre grünen Augen wirkten seltsam ernst, fast ein wenig verstört. »Ich weiß, das klingt jetzt verrückt, aber ich habe eine Art Engel in diesem Traum gesehen. Nicht so, wie man sich Engel normalerweise vorstellt, mit weißen Flügeln und goldener Aura. Nein... er war anders. Er war schwarz, komplett in Schatten gehüllt, aber seine Augen...« Sie zögerte kurz und schluckte. »Sie waren eisblau, habe ich recht?«, ergänzte Leo seine Freundin. Sie nickte und warf einen flüchtigen Blick zu ihrer Freundin. Juliette hatte von Lisas Traum bereits erfahren, und dennoch lief ihr ein Schauer über den Rücken, als Lisa ihn erneut erzählte.
»Aber das Komische ist, dass er mir nicht wie ein Feind vorkam. Eher... wie ein Beschützer.«
Leo zog die Decke enger um sich und sah Lisa mit offenem Mund an. »So wie du ihn beschreibst, erging es auch mir«, antwortete der Junge und hustete dabei.
Lisa schwieg für einen Moment, ihre Miene blieb ernst. Sie wusste mehr, viel mehr, aber sie hörte die warnenden Worte ihrer Großmutter in ihrem Kopf.
»Lisa, die Welt fürchtet, was sie nicht versteht. Wenn du jetzt erzählst, dass du eine Hexe bist, könnten die anderen dich meiden oder falsch von dir denken. Magie ist ein Geschenk, aber auch ein Geheimnis, das geschützt werden muss. Vertraue es nur denjenigen an, die es wirklich verdienen. Warte auf den richtigen Moment.«
Draußen wirbelten die Schneeflocken weiter sanft zu Boden, und die Stille des Zimmers wurde nur vom leisen Schnarchen Nemos unterbrochen.
»Was glaubt du, was uns im Wald aufgelauert hat?«, stellte Leo die Frage an Juliette, seine Stimme rau und leise.
Juliette zuckte mit den Schultern, ihre Finger spielten nervös mit einer Falte in ihrer Jeans. »Es... es passt zu dem, was mein Vater immer erzählt hat. Der Nachtgiger. Ein Schauermärchen, um mich als Kind ins Bett zu schicken.«
Leo sah nachdenklich zur Decke. »Glaubt ihr, das Ding steckt hinter den Vermisstenfällen?«
Juliette und Lisa wechselten einen schnellen, besorgten Blick, doch keiner von ihnen sagte etwas.
***
Ich saß zusammengekauert auf meinem Bett, die Arme fest um meine Knie geschlungen. Mein Zimmer war in ein trübes Halbdunkel getaucht, der Himmel draußen wolkenbedeckt, als hätte sich die Welt mit meinem inneren Chaos abgestimmt. Das matte Licht drang kaum durch die Vorhänge und ließ die Ecken des Zimmers noch dunkler wirken. Es passte – ein stiller, grauer Raum, in dem die Wände enger zu werden schienen.
Immer wieder kreisten meine Gedanken, unaufhaltsam wie ein Sturm. Ich starrte auf meine Hände, als würden sie gleich wieder zu Pranken werden.
Was, wenn ich mich wieder verwandle?
Das Bild meiner Verwandlung, die unkontrollierbare Kraft, das dunkle Lachen in meinem Kopf. Ich konnte jederzeit die Kontrolle verlieren. Jederzeit.
Und was dann?
Die bloße Vorstellung jagte mir eine eiskalte Angst ein, die sich wie ein Knoten in meiner Brust zusammenzog. Ich war eine tickende Zeitbombe, und es machte mir Angst. Furcht vor mir selbst – was für ein Hohn.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Das Geräusch riss mich aus meinem Gedankenstrudel, ließ mich unwillkürlich zusammenzucken.
»Magnus?«
Die Tür öffnete sich langsam einen Spalt, und Majas Gesicht tauchte im schwachen Licht auf. Ein kurzer Blick auf mich reichte ihr, um die Stirn zu runzeln. »Ich muss jetzt zur Arbeit. Ist alles in Ordnung bei dir? Du bist so ungewöhnlich ruhig.«
Ihr besorgter Blick brannte in mir, als würde sie durch die Fassade blicken, die ich so verzweifelt aufrechterhielt. Ich hob den Kopf nur ein wenig, vermied aber ihre Augen. »Alles gut...«, murmelte ich hastig und versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen. Ich zwang ein schiefes Lächeln auf meine Lippen, auch wenn es sich fremd und falsch anfühlte. »Ich bin einfach müde. Mehr nicht.«
Maja zögerte in der Tür, ihr Blick ruhte noch immer auf mir. Sie schien etwas sagen zu wollen, vielleicht einen Einwand, aber dann atmete sie nur leise aus.»Na gut...«, sagte sie schließlich, ihre Stimme weich. »Aber wenn was ist, du weißt ja?«
Ich nickte, ohne ein weiteres Wort. Sie blieb noch einen Moment stehen, bevor sie die Tür leise schloss.
Als der Raum wieder in Dunkelheit versank, sank ich mit einem tiefen Seufzen zurück auf mein Bett. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir.
„Alles gut." Die Worte hallten in meinem Kopf wider, eine glatte Lüge. Nichts war gut.
Draußen färbte sich der wolkenverhangene Himmel langsam dunkler, und ich starrte auf die Schatten, die an den Wänden tanzten. Ich konnte die Angst nicht abschütteln, dass sie bald nicht nur in meinem Kopf sein würden.
Ich saß noch eine weitere Weile reglos auf meinem Bett. Die Gedanken kreisten wie ein endloser Strudel in meinem Kopf, und je länger ich nachdachte, desto klarer wurde die Entscheidung: Ich musste Abstand halten. Abstand zu Juliette, zu Leo – zu allen.
Ich war eine Gefahr, und solange ich nicht verstand, was mit mir los war, durfte ich niemanden mehr in meine Nähe lassen.
Ein plötzliches, sanftes Blinken lenkte meine Aufmerksamkeit ab. Neben mir auf dem Nachttisch vibrierte mein Handy schwach und der Bildschirm leuchtete auf. Ich griff danach, klappte es auf und sah die Nachricht: „Hey, melde dich doch Mal. Muss dir was erzählen. – Leo"
Ich starrte auf die Worte, doch meine Finger bewegten sich nicht. Stattdessen ließ ich das Handy langsam sinken und klappte es wieder zu. Ignorieren war einfacher, als erklären zu müssen, warum alles in mir schrie, dass ich sie meiden musste.
Ich weiß nicht, wie lange ich so da saß, in Stille und Dunkelheit, während draußen die Wolken noch dichter wurden und der Tag langsam zur Nacht verblasste. Dann hörte ich plötzlich ein leises Geräusch, kaum mehr als ein Kratzen, und es zog mich abrupt zurück in die Realität. Ich drehte den Kopf in Richtung Fenster und mein Herz setzte einen Schlag aus.
Eine Krähe saß auf der Fensterbank. Ihre schwarzen Federn glänzten schwach im schwindenden Licht, und ihre funkelnden Augen sahen mich an, als wüsste sie mehr, als sie sollte. Ich zögerte einen Moment, dann stand ich langsam auf und ging zum Fenster. Der Boden knarrte leise unter meinen Füßen, als ich die eisige Kälte spürte, die durch das Glas nach innen drang.
Vorsichtig schob ich das Fenster auf. Ein kalter Luftzug strich durchs Zimmer, ließ die Vorhänge flattern, doch die Krähe blieb reglos. Plötzlich breitete sie ihre Flügel aus und flog hinein. Ich zuckte zurück, stolperte beinahe, doch ehe ich blinzeln konnte, veränderte sich die Gestalt des Vogels. Ein Schatten breitete sich aus, verzerrte sich und formte sich zu etwas Größerem.
»Corvin?«, flüsterte ich ungläubig.
Da stand er vor mir – Corvin, mit seinem schwarzen Mantel, dessen Saum leicht im Luftzug flatterte. Der Schal, den er locker um den Hals gewickelt hatte, verdeckte fast sein Kinn, und seine schwarzen Handschuhe saßen makellos wie immer. Seine goldenen Katzenaugen musterten mich.
»Abend«, begrüßte Corvin mich mit einem leichten, fast spöttischen Lächeln, während er die Hände in die Taschen seines Mantels schob. »Wie geht's dir?«
Ich spürte, wie meine Schultern herabsanken und ich kaum Kraft fand, eine aufrichtige Antwort zu formulieren. »Beschissen«, murmelte ich schließlich und rieb mir über das Gesicht.
Corvin schnaubte leise und zog die Augenbrauen ein Stück hoch. »Sehr schön, du bist immer noch derselbe«, kommentierte er trocken, und ein Hauch von Belustigung schwang in seiner Stimme mit.
Ich sah ihn misstrauisch an. »Was willst du? Hast du schon Ergebnisse von den Blutproben?«
Er schüttelte langsam den Kopf, während ein paar Strähnen seines schwarzen Haares über seine Stirn fielen. »Nein, noch nicht. Das dauert.« Corvin ließ seinen Blick langsam durch mein Zimmer wandern. Seine goldenen Augen blitzten amüsiert, während er sich mit verschränkten Armen gegen die Fensterbank lehnte.
»Gemütlich«, sagte er schließlich, und in seiner Stimme lag dieser unterschwellige Spott, den er so gut beherrschte. »Fast ein wenig... gewöhnlich.«
Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf das Chaos: zerknüllte Kleidung, ein halb leerer Teller auf dem Schreibtisch und ein Berg unaufgeräumter Bücher.
»Ein wenig Ordnung könnte dir guttun. «
Ich verdrehte die Augen. »Sehr witzig.«
»Düsterkeit mag zwar zu deinem neuen Selbstbild passen, aber auf Dauer nicht gut.«
»Warum bist du hier? Sicherlich nicht um mir Reinigungstipps zu geben, oder?«
Der Halbdämon lächelte. »Ich bin hier, weil wir das heilige Feuer besorgen wollten. Du willst doch den Nachtgiger auch loswerden?«
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