Der Nachtgiger hob langsame seine Arme. Aus dem Schatten seines Mantels traten zwei rote Lichter hervor – glühende Augenpaare. Zwei riesige, dämonische Krähen flogen heraus, ihre Federn schimmerten wie Öl im spärlichen Mondlicht. Ihre Schnäbel waren lang und messerscharf, ihre Klauen krümmten sich wie Dolche.
Mit einem Kreischen stürzten die beiden Kreaturen sich auf mich. Sie kamen schnell, wie Pfeile aus der Dunkelheit, ihre rotglühenden Augen fixierten mich, als wollten sie mich durchbohren. Ich spannte meine Muskeln an, und die Macht in mir flutete meinen Körper. Im letzten Moment warf ich mich zur Seite, meine Flügel schlugen kraftvoll aus und trugen mich ein Stück weiter, bevor ich mit einem gedämpften Aufprall landete. Die Krähen jagten an mir vorbei, doch sie drehten sich blitzschnell, bereit für den nächsten Angriff.
Eine von ihnen schoss erneut auf mich zu, ihre Krallen ausgestreckt. Mit einem gewaltigen Satz sprang ich ihr entgegen, meine Pranken streckten sich aus, und ich packte sie mitten im Flug. Ihr Körper war kräftig, doch ich spürte die rohe Stärke, die durch meine Hände floss. Mit einem lauten Knurren drückte ich zu. Die dämonische Krähe kreischte, ein ohrenbetäubender Laut, der durch Mark und Bein ging. Ich spürte, wie ihr Schädel unter dem Druck nachgab, das Brechen der Knochen war wie ein grausiges Knacken in der Stille.
Eine schwarze und zähe Flüssigkeit sickerte aus der Kreatur und lief über meine Klauen, tropfte auf den Boden. Der Körper der Krähe begann zu zucken, bevor er sich in schwarzen Nebel auflöste, der sich um mich herumwand, als wolle er mich verschlingen. Doch ich blieb standhaft, meine Pranken fuhren durch den Nebel, und er verzog sich langsam.
Die zweite Krähe kam wie ein schwarzer Blitz auf mich zu, ihre scharfen Klauen ausgestreckt und ihre roten Augen voller unheilvollen Zorns. Ich wartete, spürte die Energie in meinen Adern pulsieren, und als sie dicht genug herankam, machte ich einen kraftvollen Ausfallschritt zur Seite. Mit einer schnellen Bewegung schwang ich meine Pranke und packte sie im Flug. Die Kreatur zappelte und krächzte, schlug mit ihren Flügeln um sich, doch sie war in meinem Griff gefangen.
Ich drückte mit aller Kraft zu. Wieder brach Knochen, ein abscheuliches Geräusch, das durch den Wald hallte. Schwarze Flüssigkeit quoll hervor, spritzte auf meinen Arm. Mit einem letzten Laut löste sich die Krähe ebenso wie ihre Vorgängerin in einem wabernden Nebel auf, der sich um mich legte, bevor er vom Wind verweht wurde.
Ich richtete mich auf, atmete schwer, meine Brust hob und senkte sich unter der Last von Adrenalin und Wut. Der Nachtgiger stand immer noch da, regungslos, seine leuchtenden roten Augen bohrten sich in meine. Es war, als würde er mich verspotten, mich herausfordern, als wäre ich nichts weiter als ein Spielzeug für ihn.
»Schau, was wir beide alles erreichen können...«, flüsterte die Stimme meines inneren Dämons, begleitet von einem tiefen, hämischen Lachen. Es hallte in meinem Kopf wider, lauter als das Echo meines Herzschlags. »Du und ich, Magnus. Wir sind ein unschlagbares Team.«
»Sind wir nicht«, knurrte ich, meine Stimme fest, doch ich konnte die Zweifel in mir spüren, die er zu nähren versuchte. Ich schüttelte den Kopf, versuchte die Dunkelheit zu vertreiben, die sich wie ein schleichendes Gift in mir ausbreitete.
»Oh, Magnus... du weißt, dass du lügst«, lachte mein innerer Dämon. Doch ich verdrängte ihn, zwang ihn zurück in die Tiefe meines Geistes.
Ich fokussierte mich wieder auf den Nachtgiger. Meine Pranken schlossen sich zu Fäusten, die Klauen kratzten gegeneinander und erzeugten ein leises, metallisches Geräusch, als ob sie selbst nach Blut dürsteten. Ich atmete tief ein, mein Blick fest auf den Nachtgiger gerichtet, dessen rote Augen in der Dunkelheit flackerten wie böse Flammen.
Mit einem tiefen Knurren aus meiner Kehle stieß ich mich ab und stürmte auf ihn zu. Der Boden bebte leicht unter meinen schweren Schritten, und der Wind riss an mir, während ich schneller wurde, mein Blick wie ein Raubtier auf seine Beute gerichtet. Der Nachtgiger bewegte sich keinen Millimeter, seine regungslose Silhouette wirkte wie ein Schatten, der in der Dunkelheit verankert war. Doch als ich nah genug war, machte er eine schnelle, unnatürliche Bewegung, glitt zur Seite mit einer Eleganz, die so unheimlich war, dass es wirkte, als hätte er die Zeit selbst gebeugt.
»Zu langsam, Magnus... viel zu langsam«, kommentierte mein innerer Dämon mit einem Lachen.
»Halt die Klappe!«, brüllte ich in meinen Gedanken und drehte mich um. Doch bevor ich erneut angreifen konnte, hob der Nachtgiger erneut seine Arme und ein weiterer Schwarm dämonischer Krähen kamen herausgeflogen. Ihre leuchtenden, roten Augen blitzten in der Dunkelheit auf, und ihr schrilles Krächzen zerschnitt die Stille wie Rasierklingen.
»Ist das alles?«, spottete ich laut, meine Stimme triefte vor Sarkasmus, als ich mich bereit machte, die Kreaturen abzuwehren. Doch der Nachtgiger antwortete nicht, blieb einfach stehen, regungslos wie eine Statue. Seine Augen, diese verfluchten roten Augen, starrten mich unverwandt an, als könnte er tief in meine Seele blicken.
Die Krähen stürzten sich auf mich, ein Wirbel aus schwarz glänzenden Flügeln, Schnäbeln und Krallen. Ich sprang zur Seite, rollte mich ab und schlug mit meinen Flügeln, um die erste Welle abzuwehren. Eine Krähe sauste knapp an meinem Kopf vorbei, doch mit einer schnellen Bewegung riss ich sie mit meiner Pranke aus der Luft und schleuderte sie gegen einen Baum. Sie zerplatzte in einer Wolke aus schwarzem Nebel.
Die zweite und dritte stürzten sich gleichzeitig auf mich. Ich duckte mich, ließ sie knapp über meinen Kopf hinwegfliegen und schwang meinen Arm nach oben. Die eine zerfetzte ich mit meinen Klauen, und sie löste sich ebenso in Nebel auf wie die andere zuvor. Die dritte versuchte, mich von hinten zu attackieren, doch ich schlug mit meinen Flügeln zurück und schleuderte sie wie eine zerbrechliche Puppe zu Boden, wo sie mit einem letzten Krächzen verging.
Ich richtete mich auf, die Brust hob und senkte sich schwer, doch meine Augen fixierten wieder den Nachtgiger. Er hatte sich keinen Zentimeter bewegt, stand da, als wäre er der Dirigent eines makabren Orchesters, das mich zu Fall bringen sollte.
»Willst du es nicht selbst versuchen?«, zischte ich. Doch der Nachtgiger antwortete nicht.
Er schien mich zu beobachten, zu bewerten, als wäre ich ein Puzzlestück in seinem Spiel. Sein Schweigen war eine Provokation, die mein Blut weiter zum Kochen brachte.
»Feigling«, knurrte ich und warf mich erneut auf den Nachtgiger, schlug nach ihm, doch meine Angriffe trafen nur Leere. Immer wieder wich er aus, seine Bewegungen fließend und unnatürlich. Es war, als würde er mich verspotten, als würde er mich absichtlich ins Leere laufen lassen, um meine Geduld zu brechen.
»Bleib stehen, Wixxer!«, brüllte ich, meine Stimme hallte durch den finsteren Wald. Doch er gehorchte nicht. Meine Klauen schrammten mit einem ohrenbetäubenden Knirschen gegen einen Baum, der unter der Wucht meiner Verzweiflung splitterte und krachend zu Boden fiel. Holzsplitter flogen in alle Richtungen, doch der Nachtgiger blieb unbeeindruckt. Er glitt zurück, seine glühenden Augen nie von mir abwendend, als wolle er jede meiner Bewegungen studieren.
Mein Atem wurde schwer. Mein Herz pochte wie ein wildes Tier in meiner Brust. Es war nicht nur die körperliche Erschöpfung, sondern auch der Zorn, der mich ausbrannte. Ich spürte, wie die Dunkelheit, die Macht in mir, stärker pulsierte, drängte, ihren Platz einzunehmen. Doch ich ignorierte sie, schüttelte den Kopf und stürmte erneut auf ihn los.
Bevor ich ihn erreichen konnte, hob der Nachtgiger seine langen, knochigen Arme. Die Luft um mich herum veränderte sich schlagartig, wurde schwer, erdrückend. Ein kalter Nebel kroch über den Boden, und aus ihm wuchsen lebendige Schatten hervor, die sich wie zähe Schlangen um meine Beine wickelten. Ich spürte, wie sie zogen, zerrten, mich herunterrissen.
»Nein!«, brüllte ich, meine Pranken schlugen wild um sich. Ich konnte sie spüren, diese Schatten, kalt und unnachgiebig wie Stahl, doch sie gaben nicht nach. Ihr Griff wurde fester, schnürte meine Bewegungen ein. Mit einem letzten Aufbäumen riss ich eine von ihnen auseinander, doch bevor ich mich ganz befreien konnte, kamen sie zurück – in doppelter Zahl.
Vor mir, im dichten Nebel, materialisierten sich neue Kreaturen. Größer, monströser als zuvor. Sie sahen aus wie Krähen, doch ihre Körper waren grotesk und unmenschlich. Ihre roten Augen funkelten, ihre Mäuler waren mit spitzen, schwarzen Zähnen gespickt, die nur auf Fleisch warteten. Sie kreischten, ein durchdringender, markerschütternder Klang, der meine Ohren vibrieren ließ.
Bevor ich reagieren konnte, stürzte sich eine von ihnen auf mich. Ihre Klauen fuhren über meine Brust, rissen meine Haut auf. Der Schmerz war schneidend, brennend, als hätte sie Gift hinterlassen. Ich spürte, wie Blut warm über meine Haut tropfte. Ich taumelte zurück, schnappte nach Luft, doch meine Bewegungen wurden langsamer. Mein Körper war wie in einen Kessel aus Hitze und Schmerz getaucht, und ich spürte, wie meine Kraft schwand.
»Du verlierst...«, flüsterte die dunkle Stimme in meinem Inneren. Sie klang diesmal anders als sonst, nicht spöttisch, sondern kalt und drängend. »Du brauchst mich, Magnus. Lass mich die Kontrolle übernehmen.«
»Nein!«, keuchte ich, während ich mit aller Kraft versuchte, die Schatten von mir zu reißen. Meine Finger bohrten sich in den Boden, um mich hochzuziehen, doch die Kälte, die von den Schatten ausging, war lähmend. Ich spürte sie, die Dunkelheit in mir, wie sie immer stärker wurde, an mir zog, mich einlullte mit ihren falschen Versprechungen.
»Ich kann dir die Macht geben...«, raunte die Stimme, jetzt fast genüsslich. »Du und ich... zusammen könnten wir ihn vernichten.«
»Schweig!«, zischte ich, mehr zu mir selbst als zu der Stimme. Doch die Versuchung wuchs. Jede Sekunde, die verging, machte mir klar, wie sehr ich am Verlieren war. Der Nachtgiger, seine glühenden roten Augen, sie bohrten sich in mich, als könnten sie meine Schwäche sehen. Sein Blick war nicht der eines Kämpfers, sondern der eines Jägers, der seine Beute mit Genuss beobachtet.
Mit einem letzten Kraftakt stemmte ich mich hoch, mein Blick fixierte den Nachtgiger. Doch kaum hatte ich mich aufgerichtet, hob er erneut die Hand. Eine unsichtbare Kraft traf mich wie ein Schub, schleuderte mich zurück. Ich prallte hart gegen einen Baum, die Luft wurde aus meinen Lungen gepresst.
Ich schnappte nach Luft, doch die Schmerzen in meiner Brust und die unbarmherzige Kälte um mich herum hielten mich davon ab, richtig durchzuatmen. Der Nachtgiger trat näher. Die Schatten krochen wieder vor, zogen an meinen Armen und Beinen, schnürten mich ein, als wollten sie mich in den Boden ziehen.
»Du bist nichts ohne mich«, höhnte die dunkle Stimme in meinem Kopf, diesmal eindringlicher, stärker. »Du wirst sterben. Lass mich dir helfen!«
Ich biss die Zähne zusammen, versuchte, mich zu befreien, doch die Schatten waren zu stark. Meine Pranken rissen und schlugen, doch ich war zu geschwächt. Mein Atem ging schwer, und Blut lief aus der Wunde an meiner Brust, warm und klebrig. Ich hob meinen Blick, sah, wie der Nachtgiger sich über mich beugte, seine unnatürlich langen Arme ausstreckend, als wolle er mich endgültig verschlingen.
Die Luft um mich wurde noch schwerer, kälter, und ein stechender Schmerz durchzog meinen Körper, als die Schatten enger zogen. Meine Flügel, die zuvor mächtig und stark waren, schienen unter der Last der Dunkelheit zu zittern. Ich wollte brüllen, doch meine Stimme war wie erstickt. Der Nachtgiger war übermächtig, seine Präsenz erdrückend. Die roten Augen schienen triumphierend zu glühen, als er eine knochige Klaue hob, bereit, den letzten Schlag zu führen.
Doch plötzlich durchbrach ein gleißender Lichtschein die Dunkelheit. Ein Feuerball – leuchtend blau und mit einer Intensität, die die Nacht zu verschlingen schien – schlug mit voller Wucht gegen den Nachtgiger. Die Kreatur wich erschrocken zurück, ein tiefes, wütendes Zischen entkam ihr, als die Flammen sich um ihren Mantel ausbreiteten. Der Nebel schien für einen Moment zu vibrieren, als hätte das Feuer selbst die Dunkelheit zurückgedrängt.
»Hände weg von ihm, du Schattenkriecher!«
Ich blickte benommen auf und sah eine Gestalt durch den Wald schreiten. Corvin. Seine Augen glühten wie geschmolzenes Gold, und in seinen Händen flammten blaue Feuerbälle, die vor Hitze pulsierend tanzten. Die Flammen warfen gespenstische Schatten auf die Bäume, doch ihre Wärme durchbrach die eisige Kälte, die der Nachtgiger mit sich gebracht hatte.
Corvin stand wie eine lebende Flamme zwischen mir und dem Nachtgiger, seine blauen Feuerbälle zischten und loderten in seinen Händen, während die Kreatur vor ihm zurückwich. Das Licht seiner Flammen warf gespenstische Schatten auf die umliegenden Bäume, doch in ihrer Hitze schmolz die eisige Dunkelheit, die der Nachtgiger heraufbeschworen hatte. Die roten Augen des Wesens funkelten noch immer vor Zorn, doch der Schmerz durch Corvins Feuer ließ es zögern. Ein weiterer gezielt geworfener Feuerball zerschmetterte die Finsternis, die sich um den Nachtgiger sammelte, und trieb ihn endgültig zurück.
Mit einem langgezogenen, durchdringenden Kreischen verschwand der Nachtgiger im dichten Nebel. Der Schatten löste sich auf, wie Rauch, der von einem starken Wind verweht wurde. Doch die Kälte blieb, ein leises Flüstern der Dunkelheit, das noch immer im Wald lag. Corvin ließ die Flammen in seinen Händen verblassen, seine Schultern hoben und senkten sich schwer. Für einen Moment war nur das Knistern des verkohlten Bodens unter seinen Füßen zu hören.
Langsam drehte sich der Halbdämon zu mir um. Seine goldenen Katzenaugen, die vorhin vor Kampfeslust geglüht hatten, glimmten nun weicher, fast besorgt. »Magnus«, sagte er meinen Namen leise, und ich konnte hören, wie seine Stimme vor Anspannung zitterte.
Er kniete sich neben mich und legte vorsichtig eine Hand auf meine Schulter, seine Finger glühten noch immer leicht von der Magie. »Was... was ist passiert...?«, stammelte er atemlos, seine Augen wanderten über mich – meine Pranken, die riesigen Flügel, die sich schwer und verletzlich auf den Boden legten.
»Bist du verletzt?«
Seine Stimme wurde eindringlicher, besorgter.
Ich hob schwach meinen Blick. Meine Brust brannte, jeder Atemzug fühlte sich an, als würde er Feuer durch meine Lungen jagen. Doch das war nicht das, was mich quälte. Ich spürte, wie die Dunkelheit in mir schwieg, sich zurückzog, aber nicht verschwand. Wie ein schlafender Riese, der nur auf eine Gelegenheit wartete, sich wieder zu erheben.
»Ich... ich bin ein Monster jetzt...«, brachte ich mit heiserer Stimme hervor. Meine Klauen zitterten, und ich wollte sie fortstoßen, als gehörten sie nicht zu mir. Doch sie waren da – ein Teil von mir.
Corvin musterte mich, seine Augen suchten meinen Blick, doch in seinem Gesicht lag nicht der Schrecken, den ich erwartet hatte. Da war etwas anderes – etwas zwischen Bewunderung und tiefer Sorge. »Nein... du bist kein Monster«, sagte er, seine Stimme weich, aber entschlossen. »Du bist immer noch Magnus... wir kriegen dich wieder auf die Beine...«
Ein leises Rascheln ließ uns beide aufschauen. Aus der Dunkelheit trat Amos hervor. Er bewegte sich mit einer Eleganz, die seltsam beruhigend war, obwohl er mit seinen riesigen Klauen den Waldboden aufriss.
Corvin stand auf, während der Greif einen Kopf leicht neigte, wie ein stummer Gruß, bevor er seinen Blick auf mich richtete. Seine scharfen Augen schienen mich zu durchdringen, als könne er die Wahrheit in meiner Seele sehen. Doch er machte keine Anstalten, mich zu verurteilen – er blieb einfach stehen, ein stiller Wächter in der Dunkelheit.
Ich wollte etwas sagen, doch meine Stimme versagte. Stattdessen ließ ich meinen Kopf zurücksinken, spürte, wie die Kraft aus meinen Gliedern wich. Die Welt um mich wurde leiser, und erst da bemerkte ich es – den Schnee.
Leise, fast unscheinbar, begannen die ersten Flocken vom Himmel zu fallen. Sie wirbelten in der kalten Nachtluft, glitzerten im Schein von Corvins verblassendem Feuer. Die weiße Stille legte sich über den Wald, als wolle sie all das Dunkle zudecken, das gerade geschehen war.
Corvins Blick wanderte nach oben, wo der Schnee sanft auf uns niederfiel. Er legte seine Hand wieder auf meine Schulter. »Wir schaffen das, hörst du? Was auch immer ist, ich bin bei dir.«
Ich konnte nicht antworten. Die Kälte und der Schmerz in meiner Brust forderten ihren Tribut.
***
Die Dunkelheit des Waldes schien sie verschlingen zu wollen, während Juliette und Leo, mit Daisy eng an Juliettes Brust gedrückt, um ihr Leben rannten. Das Knacken der Äste unter ihren Füßen vermischte sich mit dem rasenden Klopfen ihrer Herzen, und die eisige Luft schnitt wie Messer in ihre Lungen. Daisy wimmerte leise, ihre kleinen Beine zitterten vor Angst, doch Juliette hielt sie fest, als wäre der Hund das letzte Stück Normalität in dieser Nacht.
»Weiter, Leo!«, keuchte Juliette, ohne zurückzublicken. Ihre Beine brannten, jeder Schritt fühlte sich an, als würde sie durch Schlamm waten, doch die Angst trieb sie weiter. Neben ihr stolperte Leo, rang keuchend nach Atem, sein Husten wurde immer heftiger.
Die Schatten des Waldes lichteten sich endlich, und vor ihnen erstreckte sich die vertraute Silhouette ihres Städtchens. Die kahlen, verworrenen Bäume, die einst so ruhig wirkten, ragten jetzt wie stumme Zeugen der Finsternis um sie herum.
Als die Straße von Juliette und Magnus endlich vor ihnen lag, ließ der eisige Sturm, der ihnen durch die Nacht gefolgt war, etwas nach. Plötzlich begann es zu schneien, leise und sanft. Die ersten Flocken fielen wie kleine glitzernde Juwelen auf ihre erschöpften Gesichter, doch es war keine Ruhe, die sie spürten. Es war die erdrückende Last der vergangenen Minuten, die sich wie ein Schatten über sie legte.
Die Straßenlaternen warfen trübes Licht auf die Straße, und in der Ferne war Juliettes Haus zu sehen – ein Leuchtturm in der Dunkelheit. Doch sie sagten kein Wort. Ihre Schritte hallten durch die Stille, ein gehetzter Rhythmus, der nur von Leos schwerem Husten unterbrochen wurde.
Als sie schließlich die Auffahrt von Juliettes Haus erreichten, sahen sie, wie das vertraute graue Auto ihres Vaters gerade in die Einfahrt rollte. Michael Fassbinder, noch in seiner Uniform, stieg aus dem Wagen und schien sie sofort zu bemerken. Seine scharfen Augen scannten die Szenerie – die gehetzten Gesichter der Jugendlichen, Leo, der fast zusammenbrach, und Juliette, die Daisy wie ein Schutzschild an sich presste.
»Julie?«, rief er, seine Stimme streng, aber mit einer deutlichen Spur von Sorge.
Noch bevor er die Autotür zuschlagen konnte, rannte Juliette auf ihn zu. Daisy sprang aus ihren Armen, landete tapsig auf dem Boden und trottete Richtung Haus, während Juliette sich in die Arme ihres Vaters warf. Die Tränen, die sie bis dahin zurückgehalten hatte, brachen hervor, und sie vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter. »Papa... wir... da war etwas...«, stammelte sie, unfähig, die Worte zu finden.
Michael legte eine schützende Hand auf ihren Kopf, seine Augen wanderten sofort zu Leo. Der Junge stand ein paar Schritte hinter ihnen, die Hände auf die Knie gestützt, rang nach Atem und hustete heftig. Der Anblick seines blassen Gesichts ließ Michael in Alarmbereitschaft gehen.
»Leonard?«, fragte er streng und trat einen Schritt auf ihn zu. Doch Leo konnte nur abwehrend die Hand heben, als wollte er signalisieren, dass er noch nicht sprechen konnte.
»Was ist passiert?«
Juliette hob den Kopf, ihre Augen glitzerten rot und feucht, doch das Zittern ihres Körpers war langsam abgeklungen. Sie atmete tief durch, als wollte sie etwas sagen, doch Daisy unterbrach sie mit hektischem Bellen. Der kleine Hund kratzte ungeduldig an der Haustür, als wollte sie inständig ins Warme.
»Kommt erstmal rein«, sagte Michael entschieden, seine Stimme fest, aber nicht unfreundlich. Mit einem Arm hielt er Juliette an sich gedrückt, während er mit der anderen Hand die Tür aufschloss. Ein Blick über die Schulter galt Leo, dessen wackeliger Gang und blasses Gesicht seine Sorge verstärkten. Der Junge kämpfte noch immer mit jedem Atemzug, seine Schultern bebten leicht vor Anstrengung.
»Drinnen seid ihr in Sicherheit... ihr seid in Sicherheit«, fügte Michael leiser hinzu, diesmal sanfter, und führte die Jugendlichen ins Haus. Hinter ihnen begann der Schnee leise zu tanzen, und eine zarte weiße Schicht legte sich auf die Stadt.
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