[31] Vom Ende zum Anfang Teil I
Lisa saß im Wartezimmer des Krankenhauses, ihr Blick starr auf den blassgrauen Linoleumboden gerichtet. Alles um sie herum schien gedämpft, wie in einem Traum, der nicht enden wollte. Die harten Plastikstühle waren unbequem, aber sie nahm es kaum wahr. In ihrem Kopf herrschte ein unaufhörliches Rauschen – die Worte, die sie vorhin gehört hatte, hallten in ihrem Inneren wider, ohne dass sie sie wirklich begreifen konnte.
Ihr Vater... schwer verletzt... im Wald...
Die sterile Atmosphäre des Krankenhauses, der Geruch von Desinfektionsmitteln und die monotone, fast beunruhigende Stille machten die Situation nicht besser. Jede Sekunde zog sich endlos hin, und Lisa konnte das Gefühl der Verzweiflung kaum ertragen. Sie war immer noch wie gelähmt von dem Schock, unfähig, klare Gedanken zu fassen.
Plötzlich riss eine leise Stimme sie aus ihrer Starre. »Hier«, sagte Juliette sanft, die nun vor ihr stand, eine kleine Wasserflasche in der Hand. Sie setzte sich neben ihrer Freundin und reichte ihr die Flasche, ihre Augen voller Sorge und Mitgefühl.
Lisa nahm das Wasser dankbar an, ihre Finger zitterten leicht, als sie den Verschluss aufdrehte und einen Schluck trank. Die Kühle des Wassers beruhigte ihren trockenen Hals, aber der Knoten in ihrer Brust blieb fest.
»Ich bin da, egal was sein sollte«, sagte Juliette mit fester, aber sanfter Stimme und legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter. Lisa nickte langsam, stumm, ihre Lippen pressten sich fest zusammen. Sie fühlte die Anwesenheit ihrer besten Freundin wie einen Anker, der sie daran hinderte, vollständig in das Chaos in ihrem Kopf abzutauchen.
Die Minuten verstrichen quälend langsam. Es war spät, und die beiden waren allein im Wartezimmer. Das gelegentliche Piepen eines Monitors oder das gedämpfte Klappern von Schuhen auf dem Gang waren die einzigen Geräusche, die die bedrückende Stille durchbrachen.
»Wie konnte das passieren?«, murmelte Lisa plötzlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Sie starrte immer noch auf den Boden, als ob die Antwort dort zu finden wäre.
Juliette schwieg, denn auch sie hatte keine Antwort darauf. Stattdessen zog sie Lisa sanft zu sich heran, hielt sie in einer stummen Umarmung.
Herr Fassbinder trat leise ins Wartezimmer, die Sorgenfalten in seinem Gesicht waren unübersehbar. »Gibt es Neuigkeiten?«, fragte er mit gedämpfter Stimme und musterte die beiden Mädchen, die erschöpft auf den Plastikstühlen saßen. Lisa und Juliette schüttelten synchron den Kopf.
»Konntest du deine Großmutter erreichen?«, fragte Herr Fassbinder und sah Lisa aufmerksam an.
Lisa nickte müde. »Ja, sie wird morgen früh da sein. Carolyn ist bei unseren Nachbarn, Frau Frank kümmert sich um sie.« Ihre Stimme war leise, fast mechanisch, als ob die Worte keinen wirklichen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen finden konnten.
Juliette warf einen besorgten Blick zu ihrem Vater, bevor sie fragte: »Ist es in Ordnung, wenn Lisa heute Nacht bei uns schläft?«
Herr Fassbinder zögerte nicht lange und nickte verständnisvoll. »Selbstverständlich.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Wartebereich, und ein Arzt trat ein. Er wirkte erschöpft, aber dennoch professionell, als er zu ihnen sprach. »Die Verletzungen sind leider schwer und er hat einen hohen Blutverlust erlitten«, erklärte er ernst, und Lisa fühlte, wie ihr Herz erneut in die Tiefe sank. »Wir mussten ihn ins künstliche Koma versetzen, um die Heilung zu unterstützen.« Die Worte trafen sie wie ein Schlag, und für einen Moment schien die Welt stillzustehen.
Herr Fassbinder, der hinter ihnen stand, warf einen sorgenvollen Blick auf Lisa, bevor der Arzt ihn bat, ihm wegen einiger Formalitäten zu folgen. »Ich komme gleich wieder«, sagte er zu den Mädchen und verschwand mit dem Arzt hinter den Türen.
Im Wartezimmer breitete sich eine erdrückende Stille aus. Lisa starrte ins Leere, ihr Kopf voll von den Worten des Arztes, doch es war etwas anderes, das sich in den Vordergrund drängte. Der Alptraum. Der neblige Wald, die roten Augen des Monsters, die bedrückende Kälte... Es fühlte sich so real an.
Und jetzt, nach dem, was ihrem Vater zugestoßen war, konnte sie die Frage nicht mehr unterdrücken:
War das alles vielleicht eine Art Vorhersehung gewesen?
***
Im Schatten des Waldes stand Corvin, reglos und fast unsichtbar für die Menschen, die am Tatort beschäftigt waren. Blaulichter tauchten die Szenerie in ein ständiges Flackern, das den Nebel zwischen den Bäumen unheimlich aufleuchten ließ. Ein ständiges Kommen und Gehen der Polizeibeamten, die Gespräche der Ermittler und das entfernte Murmeln der Schaulustigen auf der Straße schufen eine unruhige Atmosphäre. Aber Corvin hielt sich fern, gut verborgen in der Dunkelheit, den Kopf voll von Fragen.
Der Nachtgiger hatte wieder zugeschlagen.
Es war deutlich. Die junge Frau, deren lebloser Körper bereits abtransportiert wurde, trug die Zeichen des Monsters. Doch etwas stimmte nicht. In all den Jahren war der Halbdämon nie Zeuge davon geworden, dass der Nachtgiger seine Opfer zurückließ. Normalerweise verschwanden sie spurlos, als wären sie nie existiert. Kein Blut, keine Leichen, nichts. Doch diesmal lag die tote Frau blutüberströmt und verstümmelt da, ihre Augen grausam ausgekratzt.
Warum hatte der Nachtgiger sein Opfer zurückgelassen?
Das war die Frage, die Corvin nicht losließ. Er runzelte die Stirn, während er sich weiterhin im Schatten hielt.
War der Nachtgiger überrascht worden? Hatte der Polizist, ihn vielleicht bei seinem Angriff gestört?
Schenkte man den Geschichten über den Nachtgiger sein vertrauen, hatte das Monstrum seine Opfer in die Schattenwelt verschleppte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Doch heute Nacht war etwas anders.
Corvin beobachtete, wie einige Beamte den Tatort absperrten und Notizen machten. Ein merkwürdiges Kribbeln durchlief seinen Körper.
War das Untier unvorsichtig geworden?
Oder hatte sich etwas verändert, das selbst der Halbdämon nicht verstand?
Er richtete seinen Blick auf den Wald, der sich hinter der Szenerie erstreckte, dunkel und nebelverhangen. Ein unsichtbares Etwas lag in der Luft, fast greifbar. Irgendwo da draußen, tief im dichten Wald, musste der Nachtgiger sein.
Vielleicht hatte er seine Angriffe intensiviert?
Corvin beschloss, dass er schleunigst mehr herausfinden musste. Der Halbdämon trat noch tiefer in die Finsternis zurück, bis das Flackern der Blaulichter hinter ihm verblasste. Nur das Knacken von Zweigen unter seinen Füßen und das gelegentliche Rascheln der Blätter im leichten Novemberwind begleiteten ihn. Die kalte Nachtluft strich ihm über das Gesicht, als er tiefer in den Wald vordrang, die Gedanken in seinem Kopf ebenso wirbelnd wie die Kälte um ihn herum.
Das Grab von Eugen Elscheid hatte ihn zu keinem neuen Hinweis geführt, obwohl Corvin gehofft hatte, dort etwas Nützliches zu finden. Doch es war genauso trostlos und leer wie der Rest des düsteren Mausoleums. Nur ein halbverwestes Skelett und Staub, keine versteckten Hinweise, keine Artefakte, die ihn auf die Spur bringen könnten. Aber er wusste, dass es irgendwo noch etwas geben musste. Irgendwo, tief verborgen, lagen Antworten vergraben – wenn er nur wüsste, wo er suchen sollte.
Was Corvin aus dem Tagebuch hatte entziffern können, war wenig – verbrannte Seiten, unlesbare Passagen –, aber der Rest war von Flammen verschlungen worden. Die meisten Aufzeichnungen dieses Mannes waren verloren, Opfer des verzweifelten Versuchs seiner Schwester, die Spuren seines Wahnsinns auszulöschen.
Doch Corvin wusste es besser. Magie hinterließ immer Spuren. Wenn Eugen so begnadet mit der schwarzen Magie war, wie die Gerüchte besagten, musste irgendwo noch mehr existieren. Die verbrannten Fragmente des Tagebuchs, die er gefunden hatte, boten nur einen flüchtigen Einblick in das, was dieser Mann wirklich gewesen war – ein gefährlicher Anhänger des Okkulten, der dämonische Rituale vollzogen hatte, um Macht zu erlangen. Macht, die ihn schließlich zerstört hatte.
Die Nacht schien kälter zu werden, je weiter Corvin voranschritt. Der Wind flüsterte durch die Bäume, als wäre der Wald selbst ein lebendiges Wesen, das ihm warnende Worte zuraunte. Aber Corvin ließ sich nicht abschrecken. Wenn Eugen seine Verbindung zur Schattenwelt wirklich in den Minen gefestigt hatte, dann kam er nicht drum herum, die Minen zu erforschen, selbst wenn er sich damit gefährdete. Er würde dorthin zurückkehren, dorthin, wo die Dunkelheit am tiefsten war, und herausfinden, welches Wissen Eugen zurückgelassen hatte.
***
Die Nachricht von der Leiche und der Angriff auf einen Polizisten hatte die Stadt erfasst wie ein eisiger Hauch, der durch jede Straße wehte und selbst die lautesten Stimmen zum Schweigen brachte. Niemand konnte es fassen – Tamara Stengele, die junge Kellnerin aus dem Schatten Grill, war tot. Sie hatte Spätschicht gehabt und war auf dem Heimweg gewesen, als das Grauen über sie hereinbrach. Nun redete die ganze Stadt von ihr, und das Schatten Grill, normalerweise ein Ort des ungezwungenen Beisammenseins, hatte die Türen für drei Tage geschlossen, aus Respekt und Trauer.
Vor dem Eingang des Lokals lag ein Meer aus Blumen, flackernde Kerzen in jeder erdenklichen Form und Farbe standen dazwischen und schienen gegen die graue, kühle Novemberluft zu kämpfen. Ein gerahmtes Bild von Tamara, mit ihrem warmen Lächeln und den lebhaften Augen, stand inmitten der Blumen. Ich sah hinüber zu Leo, der die Szenerie schweigend betrachtete. Wir beide hatten uns dick eingepackt, doch die Kälte schien uns durch die Jacken hindurch zu erreichen – oder vielleicht war es die Kälte des Schreckens, die sich wie eine zweite Haut anfühlte.
»Es ist so schrecklich... so sinnlos...«, sagte Leo schließlich, seine Stimme leise und rau, als hätte auch er eine Spur Furcht aufgenommen. »Meinst du... könnte es der gleiche Täter sein, der auch für die anderen drei Vermisstenfälle verantwortlich ist?« Er drehte sich zu mir, suchte in meinen Augen nach einer Antwort.
Ich spürte einen Anflug von Panik, doch ich verbarg ihn und schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen... vielleicht«, erwiderte ich. Ich konnte nicht anders, als stumm an das zu denken, was ich wusste, was ich mit Leo jedoch nicht teilen konnte.
Der Nachtgiger.
Eine Frage jedoch nagte an mir: Warum fand man dieses Mal eines seiner Opfer?
Leo starrte weiterhin in das Kerzenmeer vor uns. Sein Gesichtsausdruck war angespannt. »Morgen ist die Beisetzung, oder?«, fragte er, den Blick noch immer fest auf die Blumen gerichtet.
Ich nickte. »Ja. Ich gehe mit Maja und Clarissa hin.« Mein Magen krampfte sich zusammen bei dem Gedanken an das, was kommen würde. Auch wenn ich Tamara nicht wirklich nahegestanden hatte, fühlte ich eine schwere Last auf meinen Schultern. Außerdem hatte ich seit der Beerdigung meiner Eltern den Friedhof nicht mehr aufgesucht.
Wir verharrten noch einen Moment in der Stille vor dem Lokal, die dunklen Wolken verdunkelten den Himmel, und der Wind ließ die Flammen der Kerzen erzittern. Es fühlte sich an, als wäre die Stadt, in der ich mein ganzes Leben verbracht hatte, in ein Netz aus Finsternis und Angst gehüllt worden, aus dem es keinen Ausweg gab.
Es war ein kühler, nebliger Vormittag, als Maja, Clarissa und ich uns auf den Weg zum Friedhof machten. Die Stille der Straße schien die Trauer nur zu verstärken. Niemand sprach, die Worte schienen uns allen im Halse stecken zu bleiben, überwältigt von der Schwere des Anlasses. Überall begegneten uns Menschen in dunkler Kleidung, die Gesichter hinter Schleiern oder tief in Schals verborgen. Die Anteilnahme an Tamaras Tod war groß; so groß, dass die Friedhofskirche aus allen Nähten platzte, als wir sie betraten.
Der Sarg stand vor dem Altar, sanft angestrahlt vom Licht der Fenster. Direkt daneben stand ein Bild von Tamara. Ihr Lächeln schien aus der Vergangenheit zu kommen, als Erinnerung an das Leben, das so abrupt enden musste. Die Bankreihen waren gefüllt, und in der ersten Reihe saßen Tamaras Eltern. Ich spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen, als ich sie sah, und erinnerte mich daran, wie sie bei der Beerdigung meiner Eltern dabei gewesen waren, schließlich waren Herr Stengele und mein Vater Arbeitskollegen gewesen.
Maja und Clarissa gingen voran, tauchten ihre Finger in das Weihwasserbecken und bekreuzigten sich. Als ich es ihnen gleichtat, spürte ich plötzlich ein scharfes Brennen, als hätte ich mich an einem heißen Eisen verbrannt. Erschrocken zog ich die Hand zurück und betrachtete meine Fingerspitze, die rot und irritiert wirkte, als hätte ich wirklich Feuer gefasst.
»Alles gut?«, fragte Maja und sah mich mit einem Hauch Besorgnis in den Augen an. Ich nickte hastig, zu überrascht und unsicher, um das Gefühl in Worte zu fassen.
Hatte das etwas damit zu tun, dass ich ein Wiedergänger bin?
Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Unbehagen breitete sich in mir aus. Kaum hatten wir den Platz eingenommen, den Philipp uns in der Mitte freihielt, fühlte ich eine Beklemmung, die mich wie eine Welle zu überrollen schien. Die Worte des Pfarrers, das geflüsterte Weinen, das Knistern der Kerzen – alles wirkte plötzlich drückend, als wäre ich in einem unsichtbaren Netz gefangen.
Eine unerträgliche Hitze kroch in mir hoch, wie ein Feuer, das tief in meinem Innern brannte und sich unaufhaltsam ausbreitete. Meine Kehle schnürte sich zu, und ein Gefühl des Erstickens machte sich breit. Verzweifelt griff ich an meinen Hals und lockerte die Krawatte, doch es half nichts – jeder Atemzug fiel mir schwerer als der letzte. Die Gesichter der Trauernden, die gedeckten Blumen, all das begann vor meinen Augen zu verschwimmen und sich zu verziehen.
»Ich... ich muss an die frische Luft«, krächzte ich leise zu meiner Schwester. Sie warf mir einen besorgten Blick zu, ihre Augen prüften mein Gesicht.
»Was ist los? Geht's dir gut?«
»Nur etwas unwohl«, log ich, um sie zu beruhigen. »Ich komme allein zurecht.«
Bevor sie mir weitere Fragen stellen konnte, erhob ich mich, leise und bedacht, um niemanden zu stören. Die beklemmenden Blicke schienen mich zu verfolgen, als ich die Kirche verließ. Kaum trat ich hinaus in die kühle Novemberluft, sog ich tief die frische Luft ein, die die Hitze in mir für einen Moment dämpfte.
Ich atmete tief ein, versuchte, meinen Atem zu beruhigen, und zwang mich, langsame Schritte über den Friedhof zu machen. Die Stille des Ortes drückte schwer auf meine Sinne, während die Nebelschwaden um die Gräber krochen. Kann ich jetzt keine Kirchen mehr betreten?
Diese Frage, pochte in meinem Kopf. Ich versuchte, den Gedanken zu verdrängen, doch er schlich immer wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins und zog andere düstere Gedanken mit sich.
Langsam ließ ich meinen Blick über die vertrauten Plätze schweifen. Ich erkannte die Trauerweide, die sich über die Gräber meiner Eltern erhob, ihre tiefhängenden Äste wie trauernde Arme, die sich über den Ort des Gedenkens legten. Doch anstatt mich auf sie zuzubewegen, wandte ich den Blick ab. Es war, als hätte ich keine Kraft, mich diesem Teil der Vergangenheit zu stellen. Stattdessen zog es mich wie von einer unsichtbaren Hand zum älteren Teil des Friedhofs, der eine andere Art von Geschichten in sich trug. Die Totenleuchte ragte gespenstisch auf, ein Denkmal an die Opfer des Dreißigjährigen Krieges – ein Mahnmal, das nur die Zeit überwunden hatte.
Einige Schritte weiter, hinter einer Gruppe überwucherter Gräber, stieß ich auf ein Mausoleum. Der Bau ähnelte einem Tempel, streng und erhaben, als ob er die Ewigkeit herausfordern wollte. Ich konnte die verblichenen Buchstaben im Tympanon gerade noch so erkennen: Elscheid. Darüber thronte das Familienwappen, und auf dem Dach stand ein Kreuz, von Moos überzogen und gebleicht von den Jahren. Ein verziertes Eisentor verschloss die Tür, und die Kälte des alten Metalls schien bis in die Umgebung zu strahlen. Alles wirkte hier so still, so seltsam unheimlich in der Verschmelzung von Schatten und Nebel.
Gerade als ich einen Schritt auf das Mausoleum zumachte, durchbrach ein kehliges Krächzen die Stille. Eine Krähe hatte sich auf einen Grabstein in der Nähe gesetzt und blickte mich mit ihren dunklen, glänzenden Augen an.
»Corvin?«, flüsterte ich, halb überrascht, halb erleichtert. »Bist du es?«, fragte ich und trat näher an die Krähe heran.
Doch bevor ich eine Antwort von der Krähe bekam, erklang plötzlich eine tiefe, ruhige Stimme hinter mir: »Mit wem redest du da?«
Mein Herz machte einen erschrockenen Sprung, und ich wirbelte herum. Vor mir stand Corvin, gehüllt in einen langen schwarzen Mantel, seine Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, die sein Gesicht noch geheimnisvoller erscheinen ließ.
»Was... ich... ich dachte...«, stammelte ich und deutete verwirrt auf die Krähe, die auf dem Grabstein saß. Corvin schmunzelte und ließ ein leises, amüsiertes Lachen hören. »Nur weil ich mich in eine Krähe verwandeln kann, heißt das noch lange nicht, dass ich jede Krähe bin, die du siehst.«
Er stieß die Hände in die Taschen seines langen, dunklen Mantels und warf mir einen Blick zu, der ein wenig Spott, aber auch Neugier verriet.
»Was machst du eigentlich hier?«, fragte ich und hob skeptisch eine Augenbraue. Die Nebel um uns herum schienen fast zuzuhören, wie sie sich still und dicht zwischen den Grabsteinen ausbreiteten.
Corvin zuckte mit den Schultern und lächelte schief. »Das könnte ich dich genauso gut fragen«, erwiderte er gelassen.
Ich seufzte und erzählte ihm, was passiert war. »Ich fühlte mich unwohl und bin raus, außerdem habe ich mich am Weihwasser verbrannt.« Ich hielt meine Fingerspitze hoch, an der sich ein roter, fast glühender Abdruck zeigte.
Corvin sah mich mit einem Anflug von Belustigung an. »Willkommen in der Welt der Dämonen und Wiedergänger.«
Ich verdrehte die Augen. »Na super. Noch mehr solche Überraschungen?«
Er zuckte lässig mit den Schultern. »Geweihte Orte werden dir auch Probleme bereiten.«
»Wie Kirchen?«, fragte ich, und er nickte nur, während sein Blick wieder auf das düstere Mausoleum gerichtet war.
»Genau. Aber ich bin nicht hier, um dir Unterricht in Dämonenbiologie zu geben«, sagte er mit einem ernsten Unterton, »ich habe weitere Nachforschungen angestellt. Wegen unserem Monster des Monats.« Seine Worte trafen mich wie ein Schlag – er hatte tatsächlich einen Anhaltspunkt gefunden.
»Ich habe immer auf die Geschehnisse von 1984 gestarrt, aber dabei den Ursprung übersehen«, erklärte er. »Die Zyklen der Nachtgiger, sie haben gewisse Perioden, in denen sie aktiv werden.«
»Ja, das hattest du schon erwähnt. Aber was willst du damit sagen?« Meine Neugier war geweckt, und mein Herz klopfte schneller.
Corvin schmunzelte und nickte. »Rechne mal. Von jetzt auf 1984 zurück und dann nochmal rückwärts.«
Ich runzelte die Stirn und machte die Rechnung. »Das wären 25 Jahre. Also komm ich auf...« Meine Stimme verklang, als mir der Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf fuhr. »1959 – das Jahr, in dem der Elscheid gestorben ist!«
Corvin nickte und zog eine Augenbraue hoch. »Du hast es erfasst.«
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