[30] Im dunklen Wald
Lisa schritt langsam durch den Nebel, der sich wie ein schwerer, feuchter Schleier um den düsteren Wald legte. Der kühle, feuchte Boden unter ihren bloßen Füßen war mit nassem Laub bedeckt, das bei jedem ihrer Schritte ein leises Rascheln von sich gab. Sie fröstelte in ihrem dünnen Schlafanzug, der ihr nicht mehr den gewohnten Schutz bot, und dennoch zog etwas Unerklärliches sie tiefer in den Wald. Es war, als hätten ihre Füße ein Eigenleben, als könnte sie sich nicht umdrehen, nicht entkommen.
Vor ihr tauchte eine massive, knorrige Gestalt eines alten Baumes aus dem Nebel auf. Etwas war daran gelehnt – ein Schatten, schwer zu erkennen. Lisa blinzelte, versuchte, ihre Augen in der Dunkelheit zu schärfen. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie näherkam. Da waren sie: rote Augen, viele rote Augen, die sie unbarmherzig fixierten. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als eine monströse Gestalt sich vor ihr aufbäumte.
Der Monster!
Er war riesig, mit einem schwarzen Federkleid umhüllt und sein Kopf war vogelartig, doch grotesk verzerrt, mit einem langen Schnabel, aus dem ein zischendes, schweres Atmen drang. Die vielen Augen in seinem Federkleid starrten Lisa direkt an, sie bohrten sich förmlich in ihre Seele.
Sie wollte schreien, wollte rennen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Der Nachtgiger neigte seinen Kopf langsam zur Seite, als ob er sie eingehend studierte. Da spürte sie plötzlich, wie etwas Kaltes ihre Schulter umklammerte. Ihre Haut zog sich zusammen, die Kälte schnitt wie ein Messer.
Mit einem Keuchen riss Lisa ihre Augen auf und fuhr hoch. Sie war in ihrem Bett, verschwitzt und außer Atem. Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust, und für einen Moment war sie sich nicht sicher, ob sie noch träumte oder wach war.
Schon wieder dieser Alptraum...
Seit zwei Wochen verfolgte er sie, ließ ihr keine Ruhe. Der Wecker schrillte unerbittlich neben ihr, doch Lisa blieb starr in ihrem Bett sitzen, unfähig, den Traum loszulassen.
Was hatte das alles zu bedeuten?
Lisa zwang sich schließlich aus dem Bett. Sie schlüpfte in ihre warmen Socken und hüllte sich in ihren violetten Bademantel. Sie macht sich auf den Weg nach unten, die Treppe hinunter zu einem trüben Morgen, der ihr das Gefühl gab, als ob der Alptraum immer noch einen Schatten über die Realität warf.
Der morgendliche Duft von Kaffee und Frühstück breitete sich in der gemütlichen Küche aus, als Lisa diese betrat. Ihr Vater Georg Karnbaum, ein Polizist mit kurzem rotem Haar und einem gepflegten Bart, stand am Küchentresen und goss sich gerade eine Tasse Kaffee ein. Carolyn, Lisas kleine Schwester, saß bereits am Frühstückstisch. Ihr rotblondes Haar war in wilden Locken, und sie schaufelte Schokopops in sich hinein, während bunte Cartoons auf dem Fernseher sie fesselten.
Georg hob den Blick, als er seine älteste Tochter erblickte, und ein warmes Lächeln zierte sein Gesicht.
»Guten Morgen, mein Engel. Wie hast du geschlafen?«, fragte er liebevoll. Lise erwiderte das Lächeln, doch in ihren grünen Augen spiegelte sich eine tiefe Müdigkeit.
»Gut, nur viel zu kurz.«
Es war eine kleine Lüge, die sie aussprach um ihren Vater nicht zusätzlich zu belasten. Er hatte bereits genug Stress mit seiner Arbeit und der Verantwortung für beide Töchter, seit ihre Mutter vor zwei Jahren die Familie verlassen hatte, um ihrer künstlerischen Leidenschaft in Berlin nachzugehen.
Plötzlich durchbrach das Klingeln des Telefons die Stille in der Küche und Lisa zuckte zusammen. Ihr Vater bat sie den Anruf entgegenzunehmen, während er die warmen Aufbackbrezeln aus dem Ofen holte. Der verlockende Duft von frischen Brezeln füllte die Küche.
Lisa näherte sich dem Telefon mit einem leichten Zögern. Als sie den Hörer abnahm und zögerliches »Hallo« aussprach, herrschte für einen kurzen Moment Stille, nur unterbrochen von einem leisen Rauschen. Dann erklang eine vertraute, warme Stimme am anderen Ende der Leitung: »Guten Morgen, mein Liebes.«
Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf Lisas Gesicht aus. Es war ihre Großmutter Hulda Karnbaum, die sich gemeldet hatte.
»Oma! Wie schön, dich zu hören«, entgegnete das Mädchen erleichtert. Hulda erkundigte sich sofort nach dem Wohlbefinden der Familie und Lisa bejahte fröhlich. Hulda bat ihre Enkelin darum, den Hörer an ihren Vater weiterzugeben, und Lisa gehorchte. Sie reichte dem Hörer ihren Vater und machte sich währenddessen eine warme Tasse heiße Schokolade.
Während ihr Vater mit seiner Mutter sprach, lauschte Lisa kurz den Worten ihres Vaters. »Ja, alles ist gut hier. Mach dir keine Sorgen, Mutter«, hörte sie Georg beruhigend sagen. Als er auflegte, wandte er sich seiner Tochter zu.
»Inmitten von Erwachsenenpflichten, Arbeit und der Erziehung seiner eigenen Kinder, bleibt man für die eigenen Eltern wohl immer das ewige Kind, das mit Schokoladenfingern das Sofa ruinierte – jetzt nur mit einer höheren Körpergröße und einem eigenen Kreditkartenlimit«, schmunzelte Georg leicht nachdenklich und mit einem Hauch Humor. Lisa nickte zustimmend und lächelte dabei. Ihr Vater kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter und bestrich sich eine frische Brezel mit Butter.
»Mach dich fertig für die Schule«, sagte er mit einem Lächeln, das die morgendliche Eile überdecken sollte. »Ich kann dich heute zur Schule fahren, wenn du willst. Ich hab später eh einen Zahnarzttermin.«
Lisa nickte, während sie ihre eigene Brezel bestrich, den Geschmack der Butter kaum wahrnehmend. »Heute ist mein freier Tag«, fügte ihr Vater hinzu, während er Carolyn, ermahnend ansah, die gerade die letzten Schokopops aus ihrer Schüssel schlabberte. »Ich nutze ihn, um mal das Haus auf Vordermann zu bringen.«
»Komm, Carolyn, wir machen dich fertig für den Kindergarten«, sagte er dann mit einem liebevollen Lächeln zu der Kleinen, die strahlte und begeistert plapperte. »Papa, heute haben wir Basteltag!« Lisas Vater lachte, während er ihr wildes Haar glattstrich. »Aber ohne geputzte Zähne werden sich dich nicht basteln lassen«, entgegnete er, worauf Carolyn aufsprang und nach oben ins Bad flitzte, gefolgt von Georg.
Lisa nahm langsam einen Bissen von ihrer Brezel, der Geschmack schien sie kurz zu erden, doch der Schatten des Alptraumes schlich noch immer in den Ecken ihres Geistes herum.
***
Nachdem Georg Karnbaum seine Tochter an der Schule abgesetzt hatte, beobachtete Lisa ihren Vater noch kurz, wie er winkte, bevor er davonfuhr, und machte sich auf den Weg ins Schulgebäude. Als sie das Foyer betrat, empfing sie das vertraute Stimmengewirr ihrer Mitschüler. Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, da sah sie Juliette auf sich zusteuern. Bevor Lisa etwas sagen konnte, schlang ihre beste Freundin schon die Arme um sie.
»Guten Morgen!«, begrüßte Juliette mit einem Lächeln. Doch dann hielt sie inne und musterte sie mit ihren haselnussbraunen Augen. »Alles okay? Du siehst irgendwie... blass aus.«
Das Mädchen rang sich ein schwaches Lächeln ab, als sie sich aus Juliettes Umarmung löste. »Ich hab nur schlecht geschlafen, nichts schlimmes, wirklich«, versicherte sie hastig und lenkte sofort das Gespräch in eine andere Richtung, um das Thema zu wechseln.
»Hast du eigentlich eine Antwort von Magnus bekommen?«
Juliette schüttelte den Kopf, als sie gemeinsam auf den Vertretungsplan zugingen. »Noch nicht«, sagte sie mit einem Seufzen. »Ich hoffe, dass er bald antwortet.« Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe, während sie die Schüler um sie herum ignorierte.
Seit Anton und Magnus aufeinander losgegangen waren, schien Magnus Juliette aus dem Weg zu gehen. Lisa spürte den Unmut in ihrer Freundin, konnte sich aber nicht verkneifen, ihre Meinung zu äußern. »Du weißt, wie ich zu dem Thema stehe«, sagte sie ruhig und musterte Juliette aus den Augenwinkeln.
Juliette verdrehte leicht die Augen. »Ja, ich weiß, du kannst Anton nicht ausstehen.« Sie schaute zu Lisa auf, mit einem Hauch von Verärgerung, aber auch Enttäuschung im Blick. »Aber er ist nicht so schlimm, wie du immer denkst.« Lisa blieb vor dem Aushang des Vertretungsplans stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das hat gute Gründe«, erwiderte sie nüchtern, auch wenn Juliette das anders sah. »Er ist auf Magnus los gegangen.«
»Ich weiß, sein Verhalten ist nicht immer perfekt«, gab Juliette zu und sah dabei aus, als wollte sie ihren Freund verteidigen. »Er hat es nicht immer leicht, vor allem mit seinem Vater. Du kennst die ganze Geschichte nicht. Er ist nicht so, wie du denkst. Er ist kein schlechter Mensch.« Lisa schnaubte und warf einen genervten Blick auf die Listen mit den Stundenplänen. »Das mag ja sein, aber das gibt ihm trotzdem nicht das Recht, sich wie ein Arschloch aufzuführen.« sie drehte sich wieder zu Juliette um, deren Schultern leicht hingen. Juliette schwieg einen Moment und senkte den Blick. Sie konnte nicht leugnen, dass ihre Freundin recht hatte, aber trotzdem wollte sie Anton nicht ganz aufgeben. »Vielleicht... vielleicht klärt sich das alles ja noch«, murmelte sie schließlich.
»Immerhin hat der Tag was Gutes«, sagte Lisa und riss das Gespräch in eine leichtere Richtung. »Geschichte bei der Schlaftablette entfällt heute.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Juliette nickte und ließ ein kleines Lachen hören.
Sie machten sich auf den Weg Richtung Klassenzimmer, das Geräusch ihrer Schritte hallte in dem langen Schulflur wider. Lisa konnte sich jedoch nicht zurückhalten und sprach das Thema erneut an. »Warum hast du dich eigentlich für Anton entschieden? Ich meine, ehrlich, alle dachten, dass du und Magnus das Traumpaar schlechthin seid. Die Leute nennen euch immer noch „Mauliette".« Sie grinste ein wenig schief und sah zu Juliette hinüber.
Juliette verdrehte leicht die Augen und seufzte. »Magnus ist mein bester Freund, seit ich denken kann. Das ist was anderes. Und was, wenn es nicht geklappt hätte? Dann hätte ich nicht nur einen Freund verloren, sondern auch meinen besten Freund.«
»Und bist du sicher, dass du das nicht bereits getan hast?«, entgegnete Lisa scharf. »Ich meine, schau dir an, wie er sich gegenüber dir verhält.«
Juliette blieb einen Moment still, bevor sie seufzte. »Magnus hat nie wirklich gezeigt, dass er mehr für mich empfindet. Du weißt, dass ich darauf gewartet habe... aber es kam nichts.« Ihre Stimme war leise, als würde sie versuchen, sich selbst zu überzeugen. Lisa schnaubte leise und verdrehte die Augen. »Was hätte er denn machen sollen? Sich wie Romeo unter dein Fenster stellen und dir seine ewige Liebe erklären?«
Juliette lachte kurz, der Gedanke war offensichtlich absurd, aber gleichzeitig schien ihr der Gedanke doch zu gefallen. »Nein, aber das wäre schon süß gewesen.« Sie zog die Schultern hoch. »Anton... er war immer bemüht, mich zu überraschen. Und er tut es immer noch. Er ist einfach aufmerksam.«
Lisa schüttelte den Kopf, die Stirn leicht gerunzelt. »Musst du wissen... aber ich bleibe dabei: Du und Magnus gehören zusammen. Und du weißt es auch.« Sie sah Juliette ernst an. Das Mädchen wich ihrem Blick aus und zuckte nur mit den Schultern, während sie die Tür zum Klassenzimmer erreichten.
***
Als Lisa am Mittag nach Hause kam, schloss sie die Haustür leise hinter sich und streifte ihre Schuhe ab. Sie erwartete eigentlich, ihren Vater gemütlich im Wohnzimmer vorzufinden, vielleicht mit einer Zeitung oder einem Buch in der Hand. Stattdessen hörte sie das leise Klirren von Schlüsseln und das Rascheln von Kleidung. Als ihr Vater die Treppe hinunterkam, sah sie wie er sich seine Polizeiuniform überstreifte und hektisch seine Sachen zusammensuchte.
»Papa?« Sie runzelte die Stirn. »Ich dachte, du hast heute frei?«
Georg blickte von seinem Gürtel auf, den er gerade umlegte, und lächelte entschuldigend. »Hätte ich eigentlich auch. Aber die Grippewelle hat das Revier fest im Griff. Fast die halbe Belegschaft ist ausgefallen, und da wurde ich gefragt, ob ich heute für die Spätschicht einspringen könnte.«
Lisa seufzte leise. »Also fällt der Pizzaabend aus?«
Georg nickte bedauernd. »Ja, tut mir leid, mein Schatz. Aber keine Sorge, wir holen das nach. Versprochen.«
Lisa nickte, auch wenn sie leicht enttäuscht war. Der wöchentliche Pizzaabend war ein festes Ritual bei den Karnbaums. Gemeinsam kneteten sie den Teig, schnitten die Zutaten und belegten die Pizzen individuell – jeder nach seinem Geschmack. Es war eines der Highlights der Woche, an dem sie als Familie was unternahmen.
»Carolyn ist den Nachmittag bei Josie«, erklärte ihr Vater weiter, während er seine Jacke über den Arm legte und nach seinen Autoschlüsseln griff. »Frau Frank bringt sie gegen halb sechs wieder nach Hause.« Lisa nickte und trat einen Schritt näher.
»Soll ich darauf achten, dass sie ihre Zähne richtig putzt, bevor sie ins Bett geht?«
Georg grinste. »Genau. Du kennst das ja schon. Ich bin vermutlich gegen halb zwölf wieder da.« Er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Danke, mein Engel.«
Lisa nickte erneut, und auch wenn sie ein wenig enttäuscht war. »Pass gut auf deine Schwester auf«, rief Georg, als er aus der Tür trat und sich noch einmal kurz zu ihr umdrehte. Dann war er weg, und das Haus fühlte sich plötzlich so still an.
***
Die Schicht zog sich endlos hin, und gegen halb neun begann Georg seine Runde als Streifenpolizist. Die dunkle Novembernacht lag still über der Stadt, und die Straßen waren leer und verlassen. Das Surren des Polizeifunks unterbrach gelegentlich die monotone Stille, doch sonst war nichts Außergewöhnliches passiert. Die dichten Wolken am Himmel ließen keinen Mondschein durchdringen, und die Laternen warfen lange, verzerrte Schatten auf den Asphalt. Es war der typische, trostlose Novemberabend, an dem sich die meisten Menschen lieber in ihren warmen Häusern aufhielten.
Gegen zehn Uhr fuhr Georg in den Außenbereich, in die abgelegeneren Gegenden der Stadt. Hier waren die Straßen schmaler, und die Bäume des umliegenden Waldes schienen sich bedrohlich in die Höhe zu recken, ihre Äste wie knorrige Finger gen Himmel gestreckt. Alles war ruhig, fast schon gespenstisch. Gerade, als er eine scharfe Kurve nahm, fiel ihm eine Gestalt am Straßenrand auf.
Für einen Augenblick hielt Georg den Atem an. Die Person schien plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. In einem Mantel gehüllt, kaum erkennbar in der Dunkelheit, huschte sie in den Wald, verschwand zwischen den Bäumen.
Ein ungutes Gefühl breitete sich in Georgs Magen aus. Wer auch immer das war, hatte hier draußen in der Finsternis nichts Gutes im Sinn. Keine Taschenlampe, kein Hund – nichts, was auf einen Spaziergänger hindeuten könnte. Georg hielt das Auto sofort an, griff nach seinem Funkgerät und gab seine Position durch. Vorsicht war in solchen Situationen immer geboten.
»Zentrale, Karnbaum hier. Habe soeben eine verdächtige Person im Außenbereich gesehen, die in den Wald verschwunden ist. Ich benötige Verstärkung.«
»Verstanden, Verstärkung ist unterwegs, Karnbaum. Bleiben Sie auf Position.«
Doch Georg wusste, dass jede Sekunde zählte. Er nahm seine Taschenlampe und zog seine Dienstwaffe. Das Licht der Taschenlampe durchbrach nur spärlich die dichten Nebelschwaden, die wie ein schwerer Schleier über dem Waldboden lagen. Der Novemberregen der letzten Tage hatte das Laub in einen matschigen Teppich verwandelt, und mit jedem Schritt fühlte Georg, wie seine Schuhe darin versanken. Der Wald war still, fast bedrückend.
Er schritt weiter voran, den Blick fest auf die Stellen gerichtet, wo die Gestalt verschwunden war. Die Äste knackten unter seinen Füßen, und das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, war das gleichmäßige Rascheln des Laubs.
Je tiefer er in den Wald vordrang, desto dichter wurde der Nebel. Die kühle, feuchte Luft machte das Atmen schwer, und die Dunkelheit schien ihn von allen Seiten zu umschließen. Doch Georg ließ sich nicht beirren. Wer auch immer das war, er musste herausfinden, was er oder sie hier zu suchen hatte.
Plötzlich hörte er ein leises Knacken. Er blieb stehen und richtete die Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Nichts. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er atmete tief durch, um die aufkommende Anspannung zu unterdrücken.
Er ging weiter, Schritt für Schritt. Doch das ungute Gefühl in seinem Bauch wuchs. Georgs Schritte wurden langsamer, als er plötzlich eine Gestalt im schwachen Lichtschein seiner Taschenlampe entdeckte, die regungslos an einem Baum lehnte. Das kalte Mondlicht, das nun schwach durch die Wolken brach, schien die Szene noch gespenstischer zu machen. Vorsichtig trat er näher, seine Waffe fest in der Hand, die Taschenlampe auf die Person gerichtet.
Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er erkannte, dass es sich um eine junge Frau handelte. Ihr Kopf war zur Seite geneigt, als würde sie schlafen, doch etwas stimmte nicht. Ihr Gesicht war von Blut verschmiert, das in dunklen Bahnen ihre Wangen hinunterlief. Ihre Augen – oder das, was einst ihre Augen gewesen waren – waren ausgekratzt, die leeren Augenhöhlen ein schrecklicher Anblick. Ihr Mund stand weit offen, als hätte sie in ihrem letzten Moment einen stummen Schrei ausgestoßen.
Georgs Kehle schnürte sich zu, doch er musste handeln. Vorsichtig beugte er sich zu ihr hinunter, sein Blick suchte nach einem Lebenszeichen. Er sprach sie leise an: »Hallo? Können Sie mich hören?«
Nichts. Keine Reaktion.
Er tastete mit zittrigen Fingern nach ihrem Puls, doch die Haut war kalt, zu kalt. Doch gerade in dem Moment, als seine Hand ihre Brust berührte, spürte er eine Bewegung. Unter ihrer Jacke, die leicht im Wind raschelte, schien sich etwas zu regen. Ein Zittern durchlief den toten Körper der Frau.
»Was zum...«, flüsterte Georg, als plötzlich ein scharfes Krächzen die Stille durchbrach. Eine dunkle, unheimliche Krähe stieß aus ihrer Brust hervor, ihre rot leuchtenden Augen funkelten im Licht der Taschenlampe. Das Tier flatterte wild umher, bevor es in die Luft schoss, seine schwarzen Flügel bedrohlich und schwer im kalten Nebel.
Georg wich erschrocken zurück, stolperte über eine Wurzel und fiel fast hin. Sein Atem ging schnell, und sein Herz pochte laut in seiner Brust. Die Taschenlampe zitterte in seiner Hand, als er hektisch um sich blickte.
Dann spürte er es – dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Es kroch ihm den Rücken hinauf, wie eine kalte Hand, die sich um seine Kehle legte. Langsam hob er den Kopf und ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe durch die düsteren Schatten des Waldes wandern. Zwischen den knorrigen Stämmen der Bäume, die wie schwarze Säulen im Nebel standen, sah er sie plötzlich. Rote Augen, dutzende davon, starrten ihn aus der Dunkelheit heraus an. Unheimlich, unnatürlich.
Georg griff nach seinem Funkgerät, doch noch bevor er einen Funkspruch absetzen konnte, hörte er das Rascheln und Scharren von Flügeln.
Die Nachtkrabben stürzten sich auf ihn.
In einer schwarzen, wirbelnden Masse von Federn und Krallen umringten sie ihn, ihre rot glühenden Augen funkelten bedrohlich. Georg schrie auf, schlug wild mit den Armen um sich, doch die Kreaturen waren überall. Ihre Krallen gruben sich in seine Haut, und der Schmerz durchzuckte ihn wie Feuer.
***
Lisa saß gemütlich auf dem Sofa im Wohnzimmer, ihre Beine hatte sie unter sich geschlagen, und das Teenagermagazin „Bravo" lag auf ihrem Schoß. Sie war in einen der typischen Tests vertieft, der versprach, den perfekten "Dating-Typ" zu enthüllen. Die Fragen waren amüsant: "Wie reagierst du, wenn dein Schwarm dir schreibt?" oder "Was ist dein perfektes Date?" Sie lachte leise über die vorgegebenen Antworten und kreuzte immer wieder das an, was am Ehesten zu ihr passte, auch wenn sie nicht allzu viel davon hielt.
„Wenn dein Schwarm dich zu einem Date einlädt, trägst du...?" Lisa überflog die Auswahlmöglichkeiten und kicherte leise. Die Antwort „Nichts Besonderes, nur dein Lieblings-Hoodie" kam ihr fast zu passend vor.
Im Hintergrund lief der Fernseher, eine seichte Reality-Show, die sie nur halb mitverfolgte. Ihre kleine Schwester Carolyn war längst im Bett und schlief tief und fest, der ruhige Atem des Hauses lullte Lisa fast in eine entspannte Trance. Sie legte das Magazin schließlich beiseite und streckte sich. »Wer bin ich? Der Romantiker mit einer rebellischen Ader?«,murmelte sie ironisch und stand auf, um sich etwas zu trinken zu holen. Sie ging in die Küche und griff nach einem Glas, als sie plötzlich durch das Fenster ein Polizeiauto in die Einfahrt fahren sah. Verwundert runzelte sie die Stirn, während ein unangenehmes Gefühl in ihrem Bauch aufstieg.
Warum fuhr jetzt ein Streifenwagen vor ihrem Haus vor?
Ihre Gedanken rasten, und das ungute Gefühl wuchs, als es an der Tür klingelte. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube öffnete Lisa die Tür. Vor ihr stand Michael Fassbinder, der Vater ihrer besten Freundin Juliette, in seiner Polizeiuniform. Neben ihm eine Kollegin, die Lisa nicht kannte. Beide sahen ernst aus, die Stimmung war schwer, und das flaue Gefühl in Lisas Bauch wuchs zu einer kalten Welle der Angst.
»Herr Fassbinder?«, fragte sie mit leiser Stimme, die Unsicherheit war nicht zu überhören. »Ist... ist etwas passiert?«
Michael Fassbinder warf seiner Kollegin einen kurzen, ernsten Blick zu, bevor er sich wieder Lisa zuwandte. Seine Augen waren voller Mitgefühl, aber auch schwer von dem, was er gleich sagen würde.
»Es geht um deinen Vater«, sagte er schließlich. Sein Ton war ruhig, doch jedes einzelne Wort schnitt tief in die Stille hinein.
Lisas Herz setzte einen Schlag aus. Die Worte hingen in der Luft, als ob sie die Welt um sie herum einfrieren ließen.
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