[3] Das Geburtstagsgeschenk
Der Überraschungsfilm entpuppte sich als „Die Vögel" von Hitchcock. Zwar waren Leo und ich große Fans von Horrorfilmen, aber dies war unser erster Streifen des Meisterregisseurs. Der Film zog uns von Anfang an in seinen Bann, mit seiner unheimlichen Atmosphäre und den beklemmenden Szenen. Die Spannung steigerte sich von Minute zu Minute und Hitchocks meisterhafte Inszenierung ließ uns beide gebannt auf unseren Sitzen verharren.
Nach dem Film verließen wir das Kino. Draußen war es deutlich kälter geworden und der Vollmond tauchte die Straße in ein unheimliches Licht. Für einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, als ob die düstere Stimmung des Films sich in die Realität übertragen hätte.
Wir sprachen über den Film, während die Straßenlaternen gespenstische Schatten auf den Bürgersteig warfen.
»Für einen Liebhaber von Horrorfilmen, bist du schon sehr schreckhaft«, stichelte ich gegen meinen besten Freund mit einem spöttischen Grinsen.
»Das bin ich überhaupt nicht«, verneinte Leo energisch und korrigierte hastig seine Brille, als hätte er etwas zu beweisen.
»Da sagt das Popcorn auf dem Kinoboden was anderes.«
Doch seine leicht gerunzelte Stirn verriet, dass meine Bemerkung nicht spurlos an ihm vorbeigegangen war.
Der eisige Wind strich durch die leere Gasse, begleitet von einem dumpfen Lachen aus dem entfernten Schatten. Ich konnte nicht umhin zu grinsen, als ich Leos augenblickliche Verteidigung beobachtete. Die Fassade eines Horrorfilm-Liebhabers, der behauptete, nichts zu fürchten, begann Risse zu zeigen.
Als wir unsere Fahrräder erreichten, bemerkte ich, wie eine schwarze Krähe majestätisch auf dem Lenker meines Rades thronte. Ihr Blick schien mich förmlich zu durchbohren und ein unangenehmes Gefühl von Unbehagen kroch meine Wirbelsäule hinauf. Der Vollmond über uns wirkte wie ein bleiches Auge, das die Szene still beobachtete.
»Sieh Mal Leo«, flüsterte ich und deutete auf die Krähe, die mit ihren glänzenden schwarzen Knopfaugen meinen Blick erwiderte. Leo zog die Augenbrauen hoch, aber bevor er etwas sagen konnte, versuchte ich, das unheimliche Gefühl zu vertreiben, indem ich meine Hand langsam in Richtung der Krähe bewegte.
Die Krähe schien meine Absicht zu spüren und stieß einen scharfen Ruf auf. Ich zuckte zurück und die Krähe flatterte aufgeregt auf, ihre schwarzen Federn flimmerten im fahlen Licht. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als sich unsere Blicke erneut trafen.
»Man, das war seltsam«, murmelte ich und schüttelte den Kopf, um die unheimlichen Gedanken zu vertreiben. Gemeinsam schlossen Leo und ich unsere Fahrräder auf. Das metallische Klacken des Schlosses hallte durch die Stille der Nacht und ich konnte nicht umhin, einen Blick über die Schulter zu werfen, um sicherzustellen, dass die Krähe verschwunden war.
»Wie wäre es mit einer Runde Milchshakes und knusprigen Fritten?«, schlug ich vor, während ich mich geschwind auf mein Drahtesel schwang. Leo nickte zustimmend.
»Dieses Mal geht die Runde allerdings auf deine Kosten«, konterte er, in die Pedale tretend.
»Aber es ist mein Geburtstag!«, protestierte ich und folgte ihm mit einem herausfordernden Lächeln.
»Ein Versprechen ist ein Versprechen und wird nicht gebrochen!«, rief Leo, einen flüchtigen Blick auf mich werfend, bevor er noch mehr Geschwindigkeit aufnahm. Wir begannen ein spontanes Wettrennen entlang der Hauptstraße, die uns zum „Schatten Grill" führte. Vorbei an den charmanten Fachwerkbauten, die sich mit modernen Neubauten abwechselten, rasten wir über die Straße.
»Aber ich habe nichts versprochen!«, versuchte ich zu argumentieren.
»Der Verlierer zahlt!«, rief Leo herausfordernd und beschleunigte weiter. Ich trat kräftig in die Pedale, um ihm den Titel des Gewinners nicht kampflos zu überlassen.
»Es mag zwar kein Kuchen mit 16 Kerzen sein, aber besser das als gar nichts«, entgegnete Maja, meine zwei Jahre ältere Schwester, die mir ein sorgsam geschnittenes Stück des berühmten Käsekuchens vom „Schatten Grill" servierte. Die cremige Köstlichkeit glänzte verführerisch im warmen Licht. Neben seinen saftigen Burgerspezialitäten war das „Schatten Grill" auch für seine himmlischen Desserts bekannt, und allein der Anblick des Käsekuchens ließ das Wasser in meinem Mund zusammenlaufen.
Seit dem tragischen Tod unserer Eltern hatte sich Maja unfreiwillig von der Rolle der großen Schwester zu einer Art Ersatzmutter für mich entwickelt. Die Vormundschaft war formell an Onkel Matthias, auch als Onkel Matt bekannt, den jüngeren Bruder unseres Vaters, übergegangen.
Doch als reisender Journalist, ein wahrer Globetrotter, bewegte sich Onkel Matt wie ein ruheloser Geist von einem Ort zum anderen. In den Zeiten, in denen er für seine Recherchen unterwegs war, übernahm Maja das Kommando und sorgte für Stabilität in unserem Alltag.
Der Käsekuchen, den sie mir mit einer einzigen, brennenden Kerze präsentierte, war mehr als nur ein süßes Geburtstagsangebot. Es war ein Zeichen ihrer Hingabe und Fürsorge in den Zeiten, in denen wir uns gegenseitig Halt geben mussten. Mit einem liebenvollen Lächeln achtete meine Schwester darauf, dass ich mich wenigstens an meinem Geburtstag etwas Besonderes fühlte.
Das „Schatten Grill" war an diesem Abend gut besucht. Die großen Fensterscheiben des Restaurants waren kunstvoll mit gruseligen Kürbisfratzen und Pappgeistern verziert. Die Atmosphäre wurde von Musik untermalt, doch inmitten des lebhaften Stimmengewirrs ging sie beinahe unter. Leo und ich hatten das Glück, einen Tisch an einem der großen Fenster ergattert zu haben. Die gegenüberliegende Wand des Raumes bestand aus rotem Backstein und war geschmückt mit Fotos in eleganten schwarzen Rahmen, die die Anfänge des Lokals in den 80er Jahren zeigten, als es gegründet wurde. Der allgemeine Stil des Lokals war modern und loftartig gestaltet. Über jedem Tisch und entlang der großen Theke hingen robuste schwarze Industrieleuchten und die Tische selbst hatten Eisengestelle mit massiven Holzplatten.
Ein verlockender Duft von saftigen Burgern und knusprigen Pommes hing wie eine verführerische Wolke in der Luft.
»Wünsch dir etwas, bevor du die Kerze auspustet«, erinnerte mich Maja scherzhaft. Einen Moment lang hielt ich inne, bevor ich die Kerze auspustete. Ein beifälliger Applaus von Leo und Maja folgte. Dankbar lächelte ich und schaute in die eisblauen Augen meiner Schwester, die wir beide von unserer Mutter geerbt hatten.
Maja lächelte liebevoll.
»Für meinen kleinen Bruder immer gerne«, antwortete sie und drückte mich zärtlich an sich.
»Wie lange musst du noch arbeiten?«, erkundigte ich mich.
»Bis um elf. Danach gehen Clarissa und ich zur Halloweenparty von Philipp«, erzählte meine Schwester mit einem strahlenden Lächeln. Ihre Augen leuchteten, als sie den Namen ihres Freundes erwähnte. Philipp Langeneck war der erste feste Freund von Maja, nachdem ihr vorheriger Freund, wenn man überhaupt von einer Beziehung sprechen konnte, mit ihr ein ständiges On-Off-Spiel betrieben hatte. Philipp stand meiner Schwester in den schweren Wochen nach dem Tod unserer Eltern so unterstützend wie möglich zur Seite.
Plötzlich tauchte hinter Maja eine schwarzhaarige junge Frau auf, die halb so groß war und mit üppigen Kurven gesegnet war. Die gelockten Haare umrahmten ihr Gesicht, während ein schwarzes T-Shirt mit einem verführerisch tiefen Ausschnitt ihre weiblichen Vorzüge betonte. Clarissa Jonas, eine enge Freundin von Maja, die ihr auch den Job hier im „Schatten Grill" verschafft hatte, gesellte sich zu uns. Sie wies Maja darauf hin, dass Gäste an einem der Tische bezahlen wollten, wobei ihr Blick auf das Käsekuchenstück mit der Kerze fiel.
»Feiert ihr einen Jahrestag oder so?«, fragte sie neugierig, Leo und mich abwechselnd ins Visier nehmend. Doch bevor ich antworten konnte, kam sie mir bereits zuvor.
»Ihr zwei seid wirklich süß. Ich wusste es doch, dass zwischen euch beiden etwas läuft«, sagte sie und grinste uns mit ihren strahlenden Augen an.
»Was? Nein... wir sind nicht zusammen... nur gute Freunde«, versuchte ich den Irrtum aufzuklären und wedelte dabei hilflos mit den Händen.
»Magnus hat heute Geburtstag. Seinen 16. Geburtstag«, erklärte Maja, während sie mir in die Wange kniff und dabei schelmisch lächelte. Leo saß mit einem knallroten Kopf da und lächelte verlegen. Clarissa gratulierte mir und drückte mich dabei in ihren Busen, sodass ich kaum Luft bekam.
»Ihr beide würdet aber so ein süßes Pärchen abgeben«, bemerkte sie scherzhaft.
»Danke.«
Die peinliche Situation ließ mein Gesicht glühen und ich spürte, wie mein Puls sich beschleunigte.
»Dann gehe ich mal abkassieren... die Hausschlüssel hast du?«, fragte Maja mich und zog dabei ihren Notizblock aus der Schürze. Ich nickte und holte den Schlüsselbund aus meiner Hosentasche.
Sie lächelte.
Maja verabschiedete sich, indem sie durch mein Haar wuschelte.
»Schreib mir, wenn du daheim bist.«
Clarissa wurde indes von einem weiteren Tisch gerufen, um eine Bestellung aufzunehmen.
»Nur gute Freunde? Dein Ernst?«, entgegnete Leo skeptisch, während er sich zurücklehnte und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Es tut mir leid... ich war etwas überrumpelt. Natürlich sind wir beste Freunde«, verteidigte ich mich, nahm den Schluck von meinem cremigen Schokomilchshake und setzte das Glas ab.
»Das hoffe ich doch sehr.«
Leo lächelte leicht skeptisch.
»Das ist die Wahrheit. Ohne Maja, Onkel Matt und dich wüsste ich nicht, wie ich die letzten Monate überlebt hätte«, erklärte ich aufrichtig und schenkte meinem besten Freund seit der fünften Klasse ein dankbares Lächeln.
»Dazu ist der beste Freund auf der ganzen Welt auch da«, stellte Leo stolz fest.
»Werde jetzt nicht überheblich.«
Ich zwinkerte ihm spielerisch zu.
»Willst du noch dein Geschenk auspacken?«, fragte Leo.
Das Geschenk hatte ich völlig vergessen.
»Aber klar doch«, antwortete ich und holte das in rotes Geschenkpapier eingewickelte Päckchen aus meiner Jackentasche. Mit Bedacht begann ich, das Papier zu entfernen, und enthüllte eine elegante schwarze Box. Leos Augen leuchteten gespannt, während ich die Box öffnete und einen silbernen Anhänger mit einer Kette herausnahm. Der runde Anhänger trug eine präzise Gravur eines Kompasses.
»Ich weiß, dass die letzten Monate sehr hart für dich gewesen waren und du dich oft verloren gefühlt hast. Die Kette soll dich daran erinnern, falls du dich Mal verloren fühlen sollst, dass du immer einen Weg finden wirst«, erklärte Leo mir die Bedeutung hinter seinem Geschenk.
Ich nickte nachdenklich und ließ meine Finger über die Gravur fahren.
»Ich hoffe wirklich, dass es dir gefällt. Ich wollte etwas Besonderes für deinen 16. Geburtstag«, fügte Leo hinzu, während er leicht errötete. Die Aufregung über sein Geschenk war ihm anzumerken.
»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll... ein einfaches Danke klingt irgendwie ungenügend«, erwiderte ich und versuchte gleichzeitig die Kette anzulegen. Leo stand auf und half mir dabei, die Kette geschickt um meinen Hals anzuziehen.
»Eine Umarmung reicht auch aus«, schlug er vor. Ich stand auf und drückte meinen besten Freund fest an mich.
»Gebt es zu, ihr seid doch zusammen«, warf Clarissa mit einem frechen Grinsen ein, als sie mit einem Tablett voller köstlicher Burger und knuspriger Pommes vorbeiging.
»Immer noch beste Freunde«, antwortete ich mit einem Lächeln.
»Das glaube ich nicht«, entgegnete sie scherzhaft und war schon wieder auf dem Weg zu ihrem nächsten Tisch.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top