[27] Pandoras Presse

Leo und ich schlenderten den langen Schulkorridor entlang, nachdem die Schulglocke uns aus dem Biologieunterricht bei Frau Koslowski erlöst hatte. Biologie war normalerweise eines meiner Lieblingsfächer, doch das heutige Thema – irgendwelche trockenen Fakten über Photosynthese und Zellatmung – war nicht gerade fesselnd. Ich spürte noch immer, wie die Müdigkeit in meinen Knochen saß.

»Und, aufgeregt?«, fragte ich meinen besten Freund und gab ihm einen Seitenblick, während wir weitergingen. Schließlich hatte Leo seinen ersten Tag in der Schülerzeitung vor sich.

Leo lächelte leicht und rückte seine Brille zurecht. »Nicht wirklich«, sagte er bescheiden. »Frau Schuler ist von meinen Texten begeistert. Sie meinte, ich hätte eine sehr lebendige und bodenständige Art zu schreiben. Klar, es gibt noch die ein oder andere Stelle, wo ich mich verbessern kann, aber im Großen und Ganzen bin ich herzlich willkommen, bei der Schülerzeitung mitzuwirken.«

»Na dann bin ich schon gespannt auf deine ersten Gossip-Boy-Artikel«, grinste ich ihn an. Leo verdrehte die Augen und schnaubte genervt. »Den Beinamen werde ich wohl nicht mehr los, oder?« Er sagte es mit einem Hauch von Resignation, aber auch einem kleinen Schmunzeln.

Ich schüttelte den Kopf und grinste weiter. »Nein.«

Wir kamen dem Neubau der Schule näher, wo die Redaktion untergebracht war. Der Boden wechselte hier von alten Kacheln zu etwas moderne Fliesen, die dem Marmor ähnelten. Über uns summten die Neonlichter, die mit dem trüben Licht von draußen konkurrierten. An der blauen Tür zur Redaktion hing ein kleines, schlichtes Schild. „Pandoras Presse – Redaktion der Schülerzeitung", las ich laut vor. »Eigenartiger Name«, bemerkte ich, während ich mir die Stirn kraulte.

Leo, mein persönlicher Geschichtslexikon, hob leicht die Augenbrauen. »Kommt aus der griechischen Mythologie. Die Büchse der Pandora.« Natürlich konnte er nicht widerstehen, mir die Geschichte in Kurzform zu erzählen. Pandora hatte eine Büchse geöffnet und damit all das Unheil in die Welt gebracht – aber auch die Hoffnung.

»Na, ich hoffe dann bald auch auf einen Enthüllungsbericht zu lesen, Gossip Boy«, neckte ich ihn erneut, und diesmal warf mir Leo einen überdramatischen Blick zu, als könnte er es kaum glauben.

»Hör auf damit«, seufzte er, doch ich sah, dass er ein Lächeln unterdrückte. Wir blieben vor der leicht offen stehenden Tür stehen. Der Raum dahinter war mit aufgeregten Stimmengewirr erfüllt. »Das ist dein Moment«, sagte ich und gab Leo einen sanften Klaps auf die Schulter.

»Danke dir«, sagte er und sein Lächeln wurde ein wenig weicher. Er hob die Hand, um an die Tür zu klopfen. »Musst mir auf alle Fälle heute Abend davon berichten«, sagte ich zum Abschied, bevor Leo in der Redaktion verschwand.

***

Als Leo den Raum betrat, sah er, dass er voll mit Tischen zugestellt war, an denen bereits einige Schüler saßen und auf den Computer starrten oder Notizen machten. Bücher und alte Ausgaben der Schülerzeitung lagen verstreut auf den Tischen, und eine große Pinwand an der Seite war mit Skizzen, Artikeln und Fotos übersät. Leo war aufgeregt, aber auch etwas nervös. Die Geräuschkulisse war ein freundliches Summen aus Gesprächen, das verstummte, als er den Raum betrat.

»Leonard! Schön, dass du da bist!«, rief eine freundliche Stimme, und Leo schaute auf. Frau Schuler, die die Schülerzeitung leitete, kam auf ihn zu. Sie war eine Frau Ende dreißig mit kinnlangen, braunen Haaren, die leicht um ihr Gesicht schwangen, als sie sich bewegte. Ihr Pullover war lässig und gemütlich, und ihre Jeans rundeten das Bild der entspannten Lehrerin ab, die in ihrer Arbeit aufging.

»Hallo Frau Schuler«, antwortete Leo mit einem schüchternen Lächeln, während er nervös an seiner Brille rückte.

»Gut, dass du da bist. Komm, wir stellen dich gleich vor.« Sie führte Leo in die Mitte des Raumes, klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit des Teams zu erlangen.

»Alle mal kurz herhören!«

Die Gespräche verstummten, und die anderen Schüler drehten sich zu ihnen um. Einige Gesichter erkannte Leo aus dem Unterricht, andere waren ihm völlig neu.

»Das hier ist Leonard, Er wird unser Team ab heute verstärken!«, Frau Schuler lächelte stolz, während Leo leicht verlegen in die Runde winkte. Einige Schüler nickten ihm zu. »Er hat einen großartigen Schreibstil, und ich bin sicher, dass er uns mit seinen Artikeln bereichern wird.«

Leo spürte, wie ihm ein warmes Gefühl der Anerkennung durch den Körper zog, das sich zeitgleich auch unwohl fühlte, weil er die Aufmerksamkeit nicht gewöhnt war.

Frau Schuler fuhr fort: »Wir arbeiten gerade an der Dezemberausgabe, die auch die letzte für dieses Jahr sein wird. Es ist immer eine besondere Zeit, da wir Artikel veröffentlichen, die gut in die vorweihnachtliche Stimmung passen. Falls du also Ideen hast – her damit! Wir könnten noch ein paar kreative Beiträge gebrauchen.« Sie lächelte und schaute erneut in die Runde, bevor sie jemanden aufrief.

»Angela, könntest du Leonard alles zeigen?«

Leos Herz setzte einen Schlag aus. Angela? Angela Jehlicka? Er hatte sie hier nicht erwartet. Er war überrascht und verwirrt, als er sie erkannte. Sie kam aus dem Nebenraum und lächelte Leo freundlich an.

»Du bist auch in der Schülerzeitung?«, fragte Leo, überrascht, und seine Unsicherheit war kaum zu übersehen. Angela nickte. »Ja, seit diesem Schuljahr.« Sie grinste leicht. »Überraschung, oder?«

Frau Schuler unterbrach sie sanft: »Angela ist eine unserer zuverlässigsten Schreiberinnen. Sie kann dir alles zeigen, Leonard. Falls du irgendwelche Fragen hast, frag einfach nach.« Mit einem letzten aufmunternden Lächeln wandte sich Frau Schuler ab und vertiefte sich wieder in ihre Unterlagen.

»Komm ich führ dich etwas herum«, sagte Angela und Leo folgte ihr. Sie führte ihn durch den Raum und zeigte grob, wer für was zuständig war. Am Ende des Raumes führte eine Tür zu einem kleinen Nebenraum, der leise brummte, vermutlich durch einen Drucker. Sie gingen in den Nebenraum. Darin standen tatsächlich zwei große Drucker, daneben Regale voll mit alten Ausgaben der Schülerzeitung und Kartons voll mit Papier. Das Gefühl der Unsicherheit nagte immer noch an ihm. Die Erinnerung an das Date, an dem Chantal ihn hatte sitzen lassen, schwirrte noch immer in seinem Kopf.

»Ich hätte echt nicht gedacht, dass du hier auch aktiv bist«, sagte Leo schließlich. Angela zuckte mit den Schultern und lächelte schwach. »Tja, manchmal gibt es eben Überraschungen. Ich schreibe gerne. Es hilft mir, meine Gedanken zu ordnen.«

Leo nickte, versuchte das Unbehagen beiseite zuschieben, das sich mit jedem Schritt bemerkbar machte. Schließlich kehrten sie zurück den vorderen Raum und setzten sich an einen der freien Tische. Leo nahm zögernd Platz und sah kurt zu Angela, die sich ihm gegenüber setzte und eine schwarze Haarsträhne hinter ihr Ohr strich.

Das Schweigen hing kurz schwer zwischen ihnen, bis Leo es schließlich durchbrach: »Tut mir leid, wenn ich mich so distanziert halte, aber nachdem Chantal mich... du weißt schon, und du ihre beste Freundin bist...«, seine Stimme stockte. Es fühlte sich für ihn falsch an, diese Worte überhaupt laut auszusprechen.

Das kleine Mädchen seufzte und schaute Leo direkt mit ihren blauen Augen an. »Schon gut, Leo. Ich bin auf deiner Seite. Was Chantal dir angetan hat, war wirklich unter aller Sau, und es tut mir auch unendlich leid.« Ihr Blick war dabei ernst.

»Du musst dich nicht für sie entschuldigen«, murmelte er, dankbar, aber immer noch unsicher, wie er mit der Situation umgehen sollte. Angela lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe wirklich gehofft, dass sie dir abgesagt hat. Sie hätte das nie so... machen dürfen. Ich war sogar im Schatten grill, um dich abzupassen, aber ich kam zu spät.«

»Was? Wirklich?« Leo schaute sie überrascht an. »Danke, das hätte ich nicht erwartet.«

Angela zuckte erneut mit den Schultern. »Ich dachte, es wäre das Mindeste. Es tut mir wirklich leid, dass ich es nicht rechtzeitig geschafft habe.«

Leo nickte. Es war eine Geste der Anerkennung, auch wenn die Wunde, die Chantal hinterlassen hatte, noch frisch war. Dennoch fühlte er sich etwas besser, zu wissen, dass Angela auf seiner Seite stand.

»Wie geht es Chantal eigentlich seitdem Vorfall?«, fragte Leo vorsichtig, auch wenn er wütend auf sie war. Angela schien einen Moment nachzudenken. »Sie ist immer noch völlig fertig, was passiert ist. Sie redet ständig davon, dass ein großer, vogelartiger Mensch hinter dem Ganzen steckt. Ehrlich gesagt, klingt es völlig verrückt... und seltsam.«

Leo starrte sie überrascht an. »Ein vogelartiger Mensch?« Die Vorstellung war absurd, aber die Sorgenfalten auf Angelas Gesicht ließen ihn stutzen.

»Ich habe die Freundschaft mit ihr beendet.«

Das kam unerwartet. »Du hast die Freundschaft beendet?« Er konnte es kaum glauben, während er Angela mit großen Augen ansah. Angela und Chantal waren doch immer unzertrennlich gewesen.

Angela nickte entschlossen. »Ja, es war nicht leicht, aber es musste sein. Ich kann nicht hinter jemanden stehen, der so rücksichtslos mit den Gefühlen anderer umgeht.«

Leo war beeindruckt. Es brauchte Mut, eine Freundschaft zu beenden, besonders eine so enge wie ihre.

»Wie dem auch sei«, fuhr Angela fort und wechselte das Thema, »dieser Fall mut Lukas und den anderen beiden hat mich auf eine Idee für einen Artikel gebracht. Ein bisschen Mysteriöses für die letzte Ausgabe des Jahres. Vielleicht möchtest du mir dabei helfen?« Sie lächelte leicht, und Leo spürte, wie sich das Gespräch in eine angenehmere Richtung bewegte.

»Ein mysteriöser Artikel, huh?« Er hob interessiert die Augenbrauen. »Klingt spannend. Worum geht's genau?«

Angela beugte sich vor, die Augen blitzten vor Aufregung, als sie fortfuhr: »Ich dachte an etwas im Stil von Aktenzeichen XY, wenn du verstehst, was ich meine? Wir können die Fälle wie echte Ermittler aufrollen.« Ihre Stimme war leise, aber voller Spannung, als ob sie ein Geheimnis teilte, das nur wenige kannten.

Leo, der nun völlig von ihrer Geschichte gefesselt war, nickte. »Okay, dass heißt, du hast dir die Vermisstenfälle von Lukas, Emre und Manuel genauer angesehen?«

Angela nickte ernst. »Ja, die drei sind in kürzester Zeit verschwunden, und es gibt keinen Hinweis, was mit ihnen passiert sein könnte. Aber weißt du, was wirklich seltsam ist? Ähnliches gab es bereits 1984 hier in Schattenhain.«

Leos Augen weiteten sich. »1984? Was genau ist damals passiert?«

Das kleine Mädchen schüttelte leicht den Kopf, als ob sie immer noch nicht fassen konnte, dass so etwas hier in ihrer Stadt vorgekommen war. »Damals sind fünf Kinder und Jugendliche spurlos verschwunden. Sie wurden nie gefunden, und die Polizei hat den Fall irgendwann aufgegeben. Doch das Merkwürdigste ist, dass die Serie von Vermisstenfällen genauso plötzlich endete, wie sie angefangen hatte. Niemand hat jemals verstanden, warum.«

Leo runzelte die Stirn. »Das ist ja gruselig. Und du glaubst, es gibt einen Zusammenhang?«

Angela zuckte mit den Schultern, ihr Blick wurde entschlossener. »Ich weiß es nicht, aber ich möchte es herausfinden. Es gibt so viele ungeklärte Fragen, und ich glaube, dass etwas oder jemand dahinter steckt. Das dürfen wir nicht einfach ignorieren.«

Der Jugendliche runzelte die Stirn, als er über Angelas Vorhaben nachdachte. Etwas in ihm zögerte.

»Ich weiß nicht... das klingt schon ziemlich nach Ermittlungsarbeit. Sollten wir uns da wirklich einmischen? Die Polizei ermittelt doch bereits in diesen Fällen. Was, wenn wir ihnen im Weg stehen oder etwas durcheinander bringen?«

Das Mädchen sah den Jungen fest an, aber ihre Augen strahlten vor Entschlossenheit. »Leo, wir nehmen der Polizei doch nichts weg. Im Gegenteil, wir könnten ihnen sogar helfen. Was, wenn sie etwas übersehen haben? Manchmal sehen Außenstehende Dinge, die die Behörden in ihrer Routine nicht wahrnehmen.«

Leo zögerte immer noch. »Ja, aber... wir sind keine Ermittler. Was, wenn wir in etwas hineingezogen werden, das zu gefährlich ist?«

Angela seufzte, ihre Stimme wurde weicher, aber ihr Blick verlor nichts von seiner Überzeugung. »Ich verstehe deine Bedenken, wirklich. Aber wir sind nicht dabei, um Heldentaten zu vollbringen. Wir sammeln nur Informationen und stellen Fragen, die vielleicht sonst keiner stellt. Wenn wir etwas herausfinden, können wir es immer noch der Polizei melden. Das hier ist unsere Schule, unsere Stadt, und was mit den Jungs passiert ist, geht uns alle etwas an. Wir müssen es wenigstens versuchen.«

Leo schwieg einen Moment, während er ihre Worte durchdachte. Angelas Entschlossenheit war ansteckend, und er konnte ihre Argumente nicht ganz von der Hand weisen. Außerdem, wenn sie wirklich nur Informationen sammelten, war es vielleicht gar nicht so riskant, wie er befürchtete. Schließlich nickte er langsam.

»Na gut«, sagte er schließlich. »Und wo willst du anfangen?«

Angela lächelte verschmitzt. »Beim Ursprung, natürlich. Da, wo alles begonnen hat.«

Leo sah sie fragend an. »Wie soll ich das verstehen?«

Das Mädchen lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir beginnen mit einer Befragung. Nennen wir es ein Interview. Und ich habe schon jemanden im Kopf, den wir fragen könnten.«

***

Das Wohnzimmer der Familie Yilmaz war warm und einladend, mit einem Hauch von fernöstlicher Gemütlichkeit, der durch die geschmacksvollen Teppiche und die vielen Familienfotos an den Wänden noch verstärkt wurde. Auf einem der Bilder sah man die komplette Yilmaz-Familie lächelnd in einer Sommerlandschaft, Vater, Mutter und die drei Kinder – Emre, Elif und ihr jüngerer Bruder. Andere Fotos zeigten Verwandte, Hochzeiten und fröhliche Feste, die deutlich machten, wie wichtig Familie in ihrem Leben war.

Leo und Angela saßen nebeneinander auf dem breiten Sofa, ihre Blicken glitten über die liebevoll dekorierten Wände. Das Zimmer war ruhig, abgesehen von den sanften Geräuschen der Küchengeräte, die aus der angrenzenden Küche zu hören waren. Draußen war es längst dunkel, und der leichte Regen, der an die Fenster prasselte, verlieh der Atmosphäre eine gedämpfte, fast melancholische Stimmung. Ein paar Straßenlaternen warfen schwaches Licht durch die Gardinen, während das restliche Zimmer nur von einer einzelnen Stehlampe erleuchtet wurde.

»So, da bin ich wieder«, sagte Elif, die Klassenkameradin von Angela, als sie mit einem Tablett in den Raum zurückkehrte. Die Teetassen klirrten leicht, als sie sie auf dem Couchtisch abstellte. »Tut mir leid, dass ihr warten musstet, aber ich musste noch kurz nach meinem Dede sehen.«

Leo warf einen kurzen Blick zu Angela, die nickte und lächelte. »Dede?«, fragte Leo dann, das Wort neugierig aufnehmend.

»Verzeihung, das ist Türkisch für Opa«, erklärte Elif freundlich, während sie sich gegenüber von Angela und Leo auf einem Sessel niederließ. Ihre dunklen Augen wirkten müde, aber voller Wachsamkeit. »Er ist in letzter Zeit sehr verwirrt, deshalb muss man ihn im Augen behalten.«

»Danke, dass du dir trotzdem die Zeit für uns genommen hast«, sagte Angela sanft und zog ihr kleines Notizbüchlein heraus. Sie blätterte darin, bevor sie schließlich mit ruhiger Stimme fortfuhr: »Wir sind hier von der Pandora Presse und wir planen einen Artikel über die Vermisstenfälle. Dein Bruder ist ja leider auch betroffen, und wir hoffen, dass du uns vielleicht helfen kannst, etwas mehr über ihn und die Umstände seines Verschwindens zu erfahren.«

Leo nahm in der Zwischenzeit einen vorsichtigen Schluck von dem dampfenden Tee, den Elif ihnen serviert hatte. Der heiße Tee wärmte seine kalten Finger, und in einer kleinen Schale, die vor ihm stand, war voll mit geleeartigen Süßigkeiten gefüllt. Er nahm eines der Würfel und kaute langsam. Sie hatte eine überraschend angenehme, leicht blumige Note, die im Kontrast zu der Schwere des Gesprächs stand.

Elifs Gesicht veränderte sich merklich, als Angela das Thema ansprach. Die bisherige Ruhe im Raum schien plötzlich zu verschwinden, als ob ein unsichtbares Gewicht auf ihr lastete. Ihre Augen wurden glasig, und sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Einen Moment lang starrte sie auf die Tasse Tee vor sich, bevor sie tief Luft holte, als müsste sie ihre Gedanken sammeln, bevor sie antwortete.

»Emre... war wie immer«, begann sie schließlich, ihre Stimme war leise, fast tonlos. »Er war fröhlich, hatte wie immer nur Unsinn in seinem Kopf. Ich kann mir einfach nicht erklären, warum er von Zuhause weggelaufen sein sollte. Er war kein Type, der so was einfach tun würde.« Elif blickte auf und schaute erst Angela, dann Leo direkt in die Augen, als wollte sie sicherstellen, dass sie verstanden, wie absurd der Gedanke für sie war.

Angela schrieb schnell ein paar Notizen in ihr Büchlein, während Leo aufmerksam zuhörte. »Hast du denn irgendetwas bemerkt, was ungewöhnlich war? Irgendwelche Andeutungen, die er gemacht hat?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf und presste ihre Lippen zusammen. »Nicht wirklich... aber es gab diese Sache mit den Mienen.« Sie zögerte, bevor sie weiter sprach. »Manuel, sein bester Freund, und er... sie hatten die verrückte Idee, die alten Mienen zu besuchen. Natürlich haben sie es unseren Eltern nicht erzählt, sie wussten, dass das verboten ist. Ich habe es nur zufällig im vorbeigehen mitbekommen, als sie darüber gesprochen hatten.«

Leo, der bis dahin ruhig geblieben war, stellte die Tasse Tee ab und sah Elif fragend an. »Und der Polizei hast du das auch erzählt?«

Elif nickte, aber ihre Schultern sanken etwas herab, als sie antwortete. »Natürlich habe ich es ihnen erzählt. Warum hätte ich das verschweigen sollen? Aber...« Sie hielt inne, ihre Stimme zitterte, als sie weiter sprach. »Man hat dort nichts gefunden. Keine Spur von ihnen. Es ist, als wären sie einfach... vom Erdboden verschluckt worden.«

Ein unangenehmes Schweigen legte sich über das Zimmer. Leo sah zu Angela hinüber, die in ihrem Notizbuch kritzelte, aber auch tief in Gedanken versunken war. Die Vorstellung, dass zwei Jugendliche einfach so verschwinden konnten, ließ einen unbehaglichen Kloß in seiner Kehle aufsteigen. Er konnte sich Elifs Kummer und Verzweiflung nur schwer vorstellen, aber ihre zitternde Stimme machte ihm klar, wie tief der Schmerz sitzen musste.

»Glaubst du, sie sind wirklich in diese Mienen gegangen?«, fragte Angela schließlich, ihre Augen fest auf Elif gerichtet.

Elif seufzte schwer. »Ich weiß es nicht. Aber es wäre typisch für sie, so etwas Dummes zu tun...«

Plötzlich wurde das Gespräch abrupt unterbrochen, als ein alter, gebeugter Mann mit einem Gehstock in der Tür erschien. Seine Augen waren milchig, aber in ihnen funkelte die Angst. »Iblis'in işi... er hat ihn geholt!«, rief der alte Mann mit einem starken türkischen Akzent, seine Stimme bebend, aber durchdringend. »Er haust in den Mienen... er wird uns alle holen!«

»Dede?« Elif sprang sofort auf, ihre Augen weiteten sich vor Sorge. Sie eilte zu ihrem Großvater, legte eine Hand auf seine Schulter und versuchte ihn zu beruhigen. Der alte Mann sprach weiterhin verwirrtes Zeug, seine Stimme überschlug sich zwischen Türkisch und Deutsch. »Iblis... er hat Emre geholt... der Teufel... der Teufel ist in den Mienen!« Seine knorrige Hand zitterte am Griff seines Gehstocks, während seine Augen wild umherblickten, als sähe er Bilder, die für alle anderen unsichtbar waren.

Elif legte ihren Arm um den alten Mann, sie versuchte ihren Großvater zu beruhigen, doch er schüttelte vehement den Kopf. »Mienen... er wird euch auch holen! Er holt uns alle!«

Leo, der das unheimliche Szenario stumm beobachtete, sah zu Angela hinüber. Ihr Notizbüchlein war plötzlich nicht mehr so interessant, sie hatte es hastig eingesteckt und starrte jetzt mit angespannten Augen auf den alten Mann. In der Ecke des Raumes stand die Uhr, das Ticken schien lauter zu werden, wie ein ständiger, mahnender Begleiter in diesem unheimlichen Moment.

***

Nach ihrem Besuch bei Elif, saßen die beiden angehenden Jungjournalisten im Schatten grill, der in warmes, gedämpftes Licht getaucht war. Tamara, brachte ihnen zwei kalte Cola und eine große Portion dampfender Pommes Frites, die sie in die Mitte des Tisches stellte. Die Pommes dufteten verlockend, und Leo griff als Erster zu, während Angela einen tiefen Schluck aus ihrem Glas nahm.

»Glaubst du das mit dem Teufel wirklich?«, fragte Leo nach einer Weile und nippte nachdenklich an seiner Cola. Seine Augen blickten kurz aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus, als suchten sie dort nach Antworten.

Angela schüttelte den Kopf und tunkte eine Pommes in Ketchup. »Ich habe zwar eine strenggläubige Katholikin von Mutter, aber ehrlich gesagt, ich bin Atheistin. Für mich gibt es immer eine rationale Erklärung.« Ihre Stimme klang ruhig, fast sachlich, aber Leo konnte sehen, dass auch sie die Worte des alten Mannes nicht ganz kalt gelassen hatten.

Leo, der selbst religiös erzogen wurde, war sich nicht so sicher. In Gedanken hing er immer noch bei Elifs Großvater und den eindringlichen Warnungen, die er ausgesprochen hatte. »Ich weiß nicht«, murmelte er, »vielleicht steckt doch mehr dahinter...«

Angela lehnte sich zurück und seufzte. »Was machen wir jetzt? Wie willst du weiter vorgehen?«, fragte Leo schließlich, nachdem eine Weile Stille zwischen ihnen geherrscht hatte.

Das Mädchen zuckte leicht mit den Schultern, aber in ihren blauen Augen blitzte Entschlossenheit auf. »Ich denke, wir wollten uns die Geschichte der Mienen genauer ansehen«, sagte sie und griff erneut nach ihrem Notizbuch, um ein paar Gedanken festzuhalten.

Leo nickte, während er langsam eine Pommes in seinen Mund schob. Dann hob er plötzlich den Kopf. »Was die Fälle von 1984 angeht... ich glaube, da kann uns jemand helfen.«

Angela hob interessiert eine Augenbraue. »Ach ja?«

»Magnus' Onkel ist Journalist bei Merkurs Echo«, klärte Leo mit einem kleinen Lächeln. »Er hat bestimmt Zugang zu den alten Zeitungsberichten und könnte uns weiterhelfen.«

***

Seine Stimme klang voller Energie, und man hörte sofort, dass er Feuer gefangen hatte, als Leo und ich am Abend telefonierten und er mir von seinen ersten Eindrücken von der Redaktion der Schülerzeitung berichtete.

»Frau Schuler hat mich herzlich aufgenommen, und Angela hat mich ein bisschen herumgeführt. Aber das Spannendste? Wir planen einen Artikel über die Vermisstenfälle von jetzt und damals.«

Als ich das hörte, hielt ich unwillkürlich den Atem an. Mein Magen zog sich zusammen, und sofort kehrte das Bild des Nachtgigers in meinen Kopf zurück. Ich schluckte schwer und schloss kurz die Augen, um das Bild zu verdrängen.

Leos Stimme holte mich aus meinen Gedanken zurück. »Magnus, bist du noch dran? Meinst du, es wäre möglich, dass wir mit deinem Onkel sprechen? Er hat doch bestimmt Zugang zu den alten Artikeln von 1984.«

Ich atmete langsam aus und zwang mich zu einer Antwort. »Ja, klar. Er hat sogar morgen Dienst in der Redaktion, das sollte kein Problem sein.«

Eines aber war mit in diesem Moment klar: Ich muss Leo und Angela vor dem Nachtgiger schützen. Was auch immer geschehen war, ich darf nicht zulassen, dass sie sich zu tief in diese Sache hineinziehen lassen.

»Habt ihr was dagegen, wenn ich morgen mitkomme?«, fragte ich schließlich und versuchte, meine innere Unruhe zu verbergen. »Ihr habt mich jetzt ganz neugierig gemacht.«

»Klar, warum nicht!«, antwortete Leo fröhlich am anderen Ende der Leitung.


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