[17] Selbstgespräch

Später am frühen Abend saß ich vor dem PC und vertrieb mir die Zeit, indem ich „Grand Theft Auto: Vice City" spielte. Die neonbeleuchteten Straßen und der Synthwave-Soundtrack des Spiels boten eine willkommene Ablenkung von den beunruhigenden Gedanken, die mich den ganzen Tag über verfolgt hatten. Mit der Hand fest auf der Maus und den Fingern flink auf der Tastatur steuerte ich Tommy Vercetti durch die nächtliche Stadt, während aus dem Autoradio „Video Killed the Radio Star" von The Buggles erklang.

Trotz der actionreichen Szenen auf dem Bildschirm und der eingängigen Musik im Hintergrund schlichen sich immer wieder Corvins Worte in meine Gedanken. »Du bist nicht allein, Magnus. Denk daran.« Leichter gesagt als getan, dachte ich mir.

Wie sollte ich nach diesem Licht suchen, wenn die Dunkelheit direkt tief in mir saß? Und wie sollte dieses Licht überhaupt aussehen?

Ich ließ Tommy Vercetti eine halsbrecherische Fahrt durch die belebten Straßen von Vice City unternehmen, rammte andere Autos und entwischte den Cops mit waghalsigen Manövern. Aber selbst die virtuelle Flucht konnte meine inneren Fragen nicht verdrängen.

Was, wenn die Dunkelheit in mir zu stark war? Was, wenn ich am Ende doch ein Monster werden würde?

Ich fuhr mit Vollgas durch das fiktive Miami, die bunten Lichter spiegelten sich auf dem nassen Asphalt und die Palmen schwankten im virtuellen Wind. Währenddessen erinnerte ich mich an Corvins Erklärung über die Kräfte, die in mir schlummern könnten. »Große Kräfte bringen große Verantwortung und oft auch große Gefahren mit sich.«

Wie sollte ich mich auf diese Verantwortung vorbereiten, wenn ich nicht einmal wusste, welche Kräfte ich tatsächlich besaß?

Meine Gedanken wanderten weiter, während ich Tommy in das luxuriöse Hotelzimmer im Ocean View Hotel manövrierte und das Spiel für einen Moment pausierte. Der Bildschirm wurde dunkel, und mein Spiegelbild war kurz darauf sichtbar. Meine Augen waren von der Anstrengung des Tages und der Unruhe, die mich nicht losließ, leicht gerötet. Ich lehnte mich zurück und starrte an die Decke, suchend nach einem Zeichen oder einer Antwort, die mir helfen könnte, diese neue Realität zu verstehen und zu akzeptieren.

Das Summen des PCs und die gedämpfte Musik des Spiels erfüllten mein Zimmer, aber meine Gedanken waren weit entfernt.

Wie sollte ich dieses innere Licht finden, das Corvin erwähnte? Vielleicht lag es nicht in einem bestimmten Ort oder einer bestimmten Sache, sondern in meiner Fähigkeit, durchzuhalten und nicht aufzugeben. Vielleicht war das Licht in meiner Entschlossenheit, in meiner Menschlichkeit und in meinem Willen, trotz allem weiterzukämpfen. Oder war das Licht in meinen Mitmenschen zu finden?

Mein Blick wanderte dabei zum Fenster, wo ich das Haus der Fassbinders sah, das im Dunkeln lag. Auch aus Juliettes Fenster war kein Licht zu sehen. Ich fragte mich, ob sie gerade bei Anton war. Die Vorstellung, wie sie zusammen auf seinem bett lagen, sie in seinen Armen, versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, die Bilder aus meinen Gedanken zu vertreiben.

Die Dunkelheit draußen verstärkte das Gefühl der Einsamkeit in mir. Der Nieselregen prasselte leise gegen das Fenster und verstärkte die melancholische Atmosphäre. Ich wandte mich wieder meinem PC zu und spielte weiter. Das vertraute Klicken der Tastatur und das Summen des Lüfters boten eine gewisse Art von Trost.

***

Später in der Nacht wälzte ich mich wieder hin und her, erneut von einer seltsamen Hitze erfasst, als würden meine Organe im kochenden Kessel baden. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, und die Bettdecke fühlte sich an wie ein feuchtes Gefängnis. Es war so unerträglich, dass ich mir mein T-Shirt regelrecht vom Leib riss und es auf den Boden warf. Ich versuchte weiterzuschlafen, doch die Hitze und das Gefühl der Beklemmung ließen mich nicht zur Ruhe kommen.

Plötzlich ertönte erneut ein leises Knistern, gefolgt von einem Rascheln. Ich drückte das Kissen fest auf meine Ohren, in der Hoffnung, die Geräusche zu ersticken. »Ich habe keine Angst... das ist nicht real«, flüsterte ich mir selbst zu, doch die Worte klangen hohl in der Dunkelheit meines Zimmers. Die Geräusche ließen nicht nach und wurden sogar intensiver, als ob sie meine Angst verspotteten.

Ich hielt die Augen fest geschlossen und redete mir ein, dass es nicht real sei. »Magnus... komm schon...«, hörte ich plötzlich wieder die tiefe, eindringliche Stimme. Mein Herz raste, und ich hielt es nicht mehr aus. Mit einem Ruck saß ich aufrecht im Bett und schaltete meine Nachttischlampe ein, um mir zu beweisen, dass da niemand war.

Das warme Licht durchflutete den Raum, und für einen Moment fühlte ich mich beruhigt. Doch plötzlich ertönte ein lautes »Buuh!« direkt neben meinem Ohr. Vor Schreck verlor ich das Gleichgewicht und fiel aus dem Bett. Ich landete hart auf dem Boden und kauerte mich an die Wand, während mein Herz wie wild klopfte. Als ich aufblickte, sah ich eine Kopie von mir selbst auf dem Bett sitzen. Der Anblick war unheimlich: Die Haut war leicht gräulich, die Augen blutrot unterlaufen, und die Zähne gelblich. »Gott, bist du schreckhaft«, entgegnete mein Doppelgänger mit einem spöttischen Grinsen.

Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um diesen Alptraum loszuwerden. »Das ist nicht real... das ist nicht real«, redete ich mir ein. Doch als ich meine Augen wieder öffnete, saß das Ding direkt vor mir, so nah, dass ich in seine unheimlichen Augen blicken konnte. »Haha, ich bin immer noch da... Lust zu spielen?«, grinste es mich an und enthüllte seine verfaulten Zähne.

»Hör auf, ihm Angst zu machen!«, ertönte plötzlich eine andere Stimme, und ich sah ein weiteres Ebenbild von mir, auf dem Bett sitzen. Dieses Abbild war vollkommen anders: Die Haut war weiß wie Schnee und strahlte eine seltsame Reinheit aus. Alles an ihm wirkte heller, und das einzig sonderbare war das dritte Auge auf seiner Stirn, das mich durchdringend anblickte.

»Was geht hier vor? Wer zur Hölle seid ihr?«, fragte ich verängstigt, in der Hoffnung, gleich aus diesem Alptraum zu erwachen.

»Wir sind du«, antwortete die dunklere Kopie von mir mit einem teuflischen Grinsen.

»Er sagt die Wahrheit«, antwortete der Hellere mit ruhiger Stimme. »Wir sind Teile deiner Seele oder Psyche, wie du es nennen magst.«

»Was? Aber... ihr... zwei...«, stammelte ich irritiert und verwirrt.

»Ich bin dein Über-Ich, und das hier ist...« begann der Hellere, wurde aber vom anderen unterbrochen.

»Ich bin Es«, kicherte der Dunklere. »Ich bin der spaßige Teil, und er ist die Spaßbremse.«

»Ich verstehe das nicht«, murmelte ich, während ich versuchte, die Worte zu verarbeiten. »Warum passiert das? Was wollt ihr von mir?«

»Du steckst in einer tiefen inneren Zerrissenheit«, erklärte das hellere Ebenbild ruhig. »Wir waren die ganze Zeit schon immer da...«, kicherte das dunklere Ebenbild. »Wann immer du dich deinem Trieben hingibst, wie zum Beispiel mit deinem kleinen Freund da unten... das bin ich dann«. Es kicherte und wollte mir in den Schritt greifen. Doch bevor Es das tun konnte, scheuerte das Über-Ich ihm eine auf den Hinterkopf.

»Spaßbremse«, klagte Es, während das Über-Ich ihm keinen Blick würdigte. »Du machst gerade eine schwierige Zeit durch und wir sind da, um dir zu helfen... vor allem, weil wir uns auch Sorgen um das machen, was in dir wächst.«

»In mir?!«, entgegnete ich schreckhaft und fasste an meinen Bauch.

»Du bist nicht schwanger, aber wir könnten es ja probieren«, kicherte Es, worauf ihm das Über-Ich ihm erneut eine scheuerte.

»Zieh den Baumstamm aus deinem Arsch!«, fauchte Es und rieb seinen Hinterkopf.

»Wie ich bereits sagte, es geht um deine innere Zerrissenheit in der Seele und da hat sich etwas eingenistet, etwas, das sich von der Dunkelheit nährt. Etwas, das du in den Griff bekommen solltest«, erklärte das Über-Ich weiter.

»Was ist das für ein Ding?«, fragte ich und fühlte, wie meine Hände zitterten.

»Es ist schwer zu sagen«, antwortete das Über-Ich, während er mir in die Augen sah. Seine Augen waren milchig trüb, nur das dritte Auge war klar und sichtbar zu sehen. »Es könnte ein Fragment eines Dämons sein, etwas, das dir aus der Schattenwelt gefolgt ist. Es nährt sich von deiner Angst, deinem Zweifel und deiner Dunkelheit. Aber du kannst es bekämpfen.«

»Bekämpfen?«, wiederholte ich unsicher. »Wie soll ich das schaffen?«

»Indem du deine Gedanken kontrollierst«, antwortete das Über-Ich.

»Wie soll ich bitte meine Gedanken kontrollieren?«, fragte ich, meine Stimme bebte vor Unsicherheit. Das Über-Ich sah mich mit einer intensiven Ruhe an. »Magnus, Gedanken sind mächtig. Sie können ganze Berge versetzen oder komplexe Irrgärten schaffen. Sie formen unsere Realität und beeinflussen unser Handeln. Wenn du deine Gedanken meisterst, meisterst du auch dein Schicksal.«

Ich runzelte die Stirn. »Das klingt so abstrakt. Wie soll ich das konkret angehen?«

»Beginne damit, dir deiner Gedanken bewusst zu werden«, fuhr das Über-Ich fort. »Wenn du negative, düstere Gedanken hast, lass sie nicht einfach gewähren. Beobachte sie, erkenne sie als das, was sie sind – Schatten in deinem Geist. Du hast die Macht, sie zu verwandeln, sie ins Licht zu führen. Es ist wie eine innere Alchemie. Du bist der Schmied deines eigenen Geistes.«

»Und das bedeutet?«, fragte ich und fühlte, wie ein Funken in mir aufkeimte.

»Das bedeutet, dass du dir selbst erlauben musst, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Dass du deine inneren Dämonen nicht verleugnest, sondern ihnen ins Gesicht siehst und ihnen sagst, dass sie keine Macht über dich haben. Es ist ein ständiger Prozess des Wachsens und Verstehens. Ich weiß, dass du sehr vieles verkraften musstest, aber glaub mir, du bist stärker, als dir bewusst ist.«

»Leichter gesagt als getan«, murmelte ich, unsicher, ob ich wirklich in der Lage war, dieser Herausforderung zu begegnen.

Aber hatte ich denn eine andere Wahl?

»Nichts Wertvolles im Leben ist leicht«, erwiderte das Über-Ich mit einem sanften Lächeln.

»Aber vergiss nicht, auch Spaß zu haben«, mischte sich das Es ein und begann zu kichern.

»Ich gebe Es ungern zu, aber da hat er Recht«, stimmte das Über-Ich zu.

Ich nickte nur, etwas überfordert von der surrealen Situation.

War das gerade wirklich real?

Plötzlich klopfte es an der Tür. »Magnus?«, hörte ich die Stimme meiner Schwester. Ich hob meinen Kopf, und in dem Moment waren Über-Ich und Es verschwunden. Maja steckte ihren Kopf ins Zimmer. »Was machst du auf dem Boden?«

»Ich... ich... bin aus dem Bett gefallen«, antwortete ich hastig und rieb mir den Hinterkopf.

»Ist alles in Ordnung? Ich habe dich reden gehört«, sagte Maja, ihre Stimme klang besorgt.

»Ja... ich habe Selbstgespräche geführt. Mich aufgeregt, wie das passieren konnte«, antwortete ich und kletterte dabei wieder ins Bett. Maja nickte nur, schien mir aber zu glauben.

»Schlaf weiter«, verabschiedete sie sich.

»Du auch... gute Nacht«, entgegnete ich, und die Tür schloss sich wieder. Ich atmete tief durch und ließ mich ins Bett zurückfallen. Meine Gedanken rasten immer noch, gefangen zwischen dem, was gerade passiert war und den Fragen, die mich quälten.

Hatte ich wirklich zwei Teile meiner Seele gesehen, oder war das alles nur ein Traum, eine Manifestation meiner inneren Ängste und Konflikte?

Ich zog die Decke bis zum Kinn hoch und starrte zur Decke. Das Kichern des Es und die ruhigen Worte des Über-Ich hallten in meinem Kopf nach. Vielleicht war es genau das, was Corvin meinte: ein ständiger Balanceakt zwischen Licht und Dunkelheit, Spaß und Ernsthaftigkeit, Chaos und Ordnung.


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