Kapitel 4

Am nächsten Morgen machten Lilia und ich uns direkt nach dem Aufstehen auf den Weg. Ich hatte nicht mal ansatzweise genug geschlafen, ich war immer wieder aus dem Schlaf hochgejagt, ohne zu wissen warum, dennoch wollte ich keine Zeit verlieren. Nora gab uns noch Wegzehrung mit und dann waren wir auf uns allein gestellt.

Immer wieder sah ich zu Lilia hinüber, die sich so selbstverständlich zwischen den anderen Menschen bewegte, als wäre sie schon zum hundertsten Mal auf der Flucht. Ich hatte versucht sie dazu zu bringen, mich allein gehen zu lassen, aber natürlich hörte sie nicht auf mich. Sie meinte, dass auch sie nun eine Verräterin sei und sie deshalb keinen Ort wüsste, wohin sie hätte gehen sollen, selbst wenn sie mich verlassen wollen würde. Das ist deine Schuld, flüsterte schon zum x-ten Mal eine leise Stimme in meinem Kopf. >Das weiß ich<

>Was weißt du?<, fragte Lilia mich verwirrt und erst da wurde mir bewusst, dass ich dieser Stimme geantwortet hatte. Noch dazu laut. Ich verliere wohl allmählich meinen Verstand... Lilia sah mich noch immer an und hatte den Kopf fragend zur Seite geneigt.

>Nichts. Vergiss es<, wiegelte ich ab und versuchte nicht darauf zu achten, dass sie so anders aussah. Es fiel mir erst bei Tageslicht auf. Ihre Haare waren nicht mehr weiß, sondern hellblond und ihre Augen schienen von Sekunde zu Sekunde blauer zu werden. Du drehst wirklich durch, Niels, dachte ich und schüttelte den Kopf um diese Gedanken zu vertreiben. Zum Glück fragte Lilia nicht nach, sodass wir unseren Weg schweigend fortsetzten.

Als wir an der Haltestelle auf den verdammten Bus warteten, konnte ich dem Drang nicht wiederstehen, mich nach allen Seiten umzusehen. Nora hatte mir von dem Typen erzählt, der in der Nähe der Garage nach mor gesucht hatte. Problem Nr. 1: Auf diese Beschreibung passten eine Menge Leute, die ich im Heim des Königs gesehen hatte. Problem Nr. 2: Der Typ könnte hinter jeder Ecke stehen, er könnte mich sogar gerade von irgendwoher dabei beobachten, wie ich nervös nach ihm Ausschau hielt, und sich dabei krumm und schief lachen. Und das passte mir gar nicht. >Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?<, fragte Lilia mich da plötzlich aus heiterem Himmel. Vor Schreck hätte ich fast einen Sprung gemacht, so konnte ich mir das aber gerade so noch verkneifen.

>Ja, keine So-<, ich stockte mitten im Satz, als ich an der Ecke einen Mann stehen sah. Braune Haare, relativ normal angezogen und groß...

>Liam? Was ist denn los?<, fragte Lilia besorgt und sah in die Richtung, in die ich starrte. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, wie sich ihre Augen weiteten. >Ist das nicht...?< Sie konnte es nicht in Worte fassen, was ich ihr nicht mal übel nahm. Ich konnte seinen Namen kaum denken, ohne einen Kotzreiz zu bekommen. Als er bemerkte, wie wir ihn anstarrten, stieß er sich von dem Gebäude, an dem er gelehnt hatte, ab und kam direkt auf uns zu.

>Scheiße<, fluchte ich. Hektisch sah ich mich nach einem Fluchtweg um und bemerkte dabei, wie ein Bus an unsere Haltestelle fuhr. >Lilia, komm< Ich packte ihre Hand und steuerte direkt auf das Fahrzeug zu.

>Was? Aber...<

>Wir müssen hier weg<, sagte ich noch zu ihr, bevor ich sie die Treppen hochschob. Hinter uns schlossen sich die Türen und der Bus setzte sich in Bewegung. Gerade noch rechtzeitig. Ich blieb an der Tür stehen, während Lilia uns Tickets kaufte, und sah dabei zu wie Reginald immer weiter verschwand.

***

Die Sonne ging bereits unter, als wir in der Stadt ankamen, in der meine Familie begraben lag. Natürlich war das gefährlich. Jeder, der auch nur etwas Grips im Hirn hatte, müsste darauf kommen, dass ich hier auftauchen würde. Und genau das war der Grund, weshalb ich gekommen war. Man konnte von Socrate Sleight wirklich eine Menge behaupten, doch nicht dass er seine Gegner unterschätzte. Er ging davon aus, dass mir klar sein würde, dass sie am Grab meiner Eltern auf mich warten würden und ich deshalb nicht dorthin gehen würde. Und das machte ich mir zu Nutze, indem ich genau das tat, womit Socrate rechnete, dass ich zu schlau dafür war um das zu tun. Verwirrend, aber effektiv.

Es gab zwei Friedhöfe in der Stadt, einer davon lag mehr außerhalb. Das Grab von Lucas Niels befand soch laut Kyle's Recherche auf dem zentralen Friedhof, nahe des kleinen Stadtparks. Zum Glück war das Jahr noch nicht soweit fortgeschritten, dass bereits Schnee liegen würde. So war es relativ einfach, das Grab meines Vaters zu finden...

Als ich vor dem Grab stand und den Namen meines Vaters wieder und wieder mit den Augen nachfuhr, wurde ich innerlich zu Eis. Ich war nicht mehr in der Lage irgendetwas anderes zu tun, als auf den Grabstein zu starren. Vor meinen Augen tauchte das Gesicht meines Vaters auf, wie er vor mir kniete und mich mit ernsten Augen, die dennoch seltsam stolz auf mein Gesicht starrten, ansah.

Fast neun Jahre war ich darüber im Unklaren gelassen worden, dass das Grab nur zwei Städte weiter lag... und das Ellen Niels es verwaltete. Die Behörden hatten gewusst, dass ich Verwandte hatte. Schlimmer noch, meine Verwandten wussten von mir und haben mich trotzdem im Waisenhaus gelassen. Wieder einmal wurde ich von einer Welle der Wut und Enttäuschung erfasst, die nur so durch meine Zellen zu jagen schien. Es war einfach so ungerecht. Warum muss außgerechnet ich mitten in diesem Drama stecken? Warum muss außgerechnet mein Vater ein Verräter gewesen sein? Warum? Warum?! >Liam?<, Lilia's Stimme drang durch meinen inneren Gefühlssturm, doch ich war nicht in der Lage meine Wut abzuschütteln. Nein. Ich wollte meine Wut nicht verrauchen lassen. Sie war das einzige, was mich vor dem Schmerz bewahrte, den Schmerz des Realisierends, dass ich hier wirklich am Grab meines Vaters stand. >Liam, es ist okay<, meinte Lilia, doch ich reagierte nicht, war gefangen im Anblick des Steins und meiner Gefühle. Plötzlich spürte ich ihren warmen Körper hinter mir und wie sie ihre Arme um mich herumlegte, sodass ich mich hätte losreißen müssen um auch nur einen Arm zu heben. >Kennst du das Buch Those who left?<, fragte sie mich, während ich auf einmal das Gewicht ihres Kopfes an meinem Rücken spürte. Meine ganze Wut verrauchte, ließ mich schutzlos in der Kälte auf dem Friedhof stehen. >Ich liebe dieses Buch. Die beiden Hauptprotagonisten, Maddie und Reece, haben so viel durchgemacht, bis sie miteinander zu tun bekommen. Die beiden helfen sich gegenseitig, weißt du? Maddie hat einen Autounfall, für den sie sich selbst verantwortlich macht, als einzige überlebt und als Reece mitbekommt, wie sie ihre Schuldgefühle in sich hineinfrisst, da hat er sie zu einem Ort hingebracht. An einen Ort, wo sie einfach alles hinausschreien kann, die Wut, Trauer, einfach alles... und es hat ihr geholfen, hat sie ein Stück weit befreit. Es hilft, Liam. Lass es einfach raus, ich bin da. Du musst nichts verstecken, nicht vor mir< Während sie erzählte, fing meine Selbstbeherrschung, mein Schild, an zu zerbröckeln, bis sie schließlich bei Lilia's letzten Worten völlig verschwand. Die Tränen bahnten sich ihren Weg aus meinen Augen, rollten meine Wangen hinunter, tropften auf den Boden, auf ihre Hände, auf meine Jacke. Es wurden immer mehr, als mich der Schmerz überrollte. Mein Vater liegt da unten... Und ich tat das, was Lilia mir geraten hatte: Ich ließ es raus. Ich ließ die Tränen fließen, wischte sie nicht weg und ließ meine Wut, Enttäuschung, Trauer, Frust... all das ließ ich mit einem Schrei aus mir hervorbrechen. Ich schrie all die Fragen, die ich mir stellte, die wichtigen, die dummen, einfach alle, in die nächtliche Umgebung. Und während ich mit in den Nacken gelegten Kopf schrie und weinte, hielt Lilia mich die ganze Zeit über fest umklammert. Sie tat nichts weiter, sagte kein Ton, sondern ließ mich einfach alles hinausbrüllen, während sie mir stumm durch die Umarmung versicherte, dass sie da war. Bei mir.


"Those who left" ist eine Story hier auf Wattpad, die mich sehr berührt hatte. Dank der Autorin, konnte ich diese Szene, die mir dabei sofort in den Kopf geschossen ist, auch so schreiben.
Nochmal Danke an little_crazy_jewel dafür, dass ich das so umsetzen konnte

Hoffe euch hat das Kapi gefallen. Lasst mir bitte Feedback da, mit so richtig emotionalen Szenen bin ich noch nicht so vertraut

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