Kapitel 28
In einer anderen Zeit wäre ich überrascht gewesen. Ich hätte ihr erst nicht geglaubt, sie für verrückt erklärt und kein weiteres Wort mit ihr gesprochen, bis sie mir einen Beweis unserer Verwandtschaft gezeigt hätte. So aber, zweifelte ich nicht eine Sekunde an dem, was sie mir da gesagt hatte. Es war wie eine unnütze Nebeninformation, die ich einfach so wie sie war abspeicherte und für nicht weiter wichtig empfand. Obwohl sie Familie war.
>Ich war damals auch bei deiner Geburt dabei< Ich hatte gar nicht bemerkt wie ich den Blick gesengt hatte, doch als sie das sagte, sah ich ihr direkt ins Gesicht, nur um zu registrieren, dass es nun sie war, die zu Boden sah. >Meine Mum hat dich geholt. Sie ist Hebamme, deshalb hatte Onkel Lucas sie gefragt, ob... naja, ich war noch sehr jung damals. Das meiste weiß ich aus Hörensagen...< Ihre Stimme verlor sich, als würde sie in Erinnerungen schwelgen, von denen sie nicht sagen konnte, ob sie gut oder schlecht waren. Aber ich war nicht bereit dazu, ihr Schweigen einfach hin zu nehmen.
>Hast du meine Geschwister gekannt?< Wenn ich ehrlich bin, wusste ich nicht, warum ich ihr diese Frage stellte. Warum ihr und sonst niemanden. Vielleicht weil der Gedanke, dass die beiden überhaupt existiert hatten, noch gar nicht ganz zu mir durchgedrungen war. Vielleicht weil sie noch nicht in den Tagebüchern meines Vaters auftauchten, da sie an der Stelle, wo ich war, noch gar nicht lebten. Sie waren für mich seltsame Schatten, die ich aus den Augenwinkeln sah, aber nicht direkt ansehen konnte. Oder wollte. Ich hätte nicht gewusst, welche Fragen ich mir hätte zuerst stellen sollen, was sie anging.
>Ja, hab ich< Sie schenkte mir ein kleines, trauriges, gezwungenes Lächeln, bevor sie ihren Kopf zu den Fenstern drehte, hinaus in den leichten Schneefall sah. >Ich war nur zwei Monate älter als Elena. Ich hatte mit ihr und Jesse gespielt an dem Tag deiner Geburt. Während Grandpa in einem Sessel neben uns saß und ins Feuer sah. Ich kann mich so gut daran erinnern. Als wäre es erst gestern gewesen< Ihr Blick kam zu mir zurück. >Du siehst Elena so unglaublich ähnlich...beiden eigentlich. Jesse war eigentlich immer ruhig gewesen, hat beobachtet, aufgepasst, besonders auf Elena. Sie war so wild und ungestüm, ich bin da gar nicht hinterher gekommen...< Ich bemerkte wie sie langsam in die Vergangenheit rutschte, Bilder vor ihrem inneren Auge sah, die schon längst verloren waren. Wie gern hätte ich gewusst, was sie dort sah, welche Erinnerungen sie an die beiden hatte, doch ich konnte sie einfach nicht fragen. Konnte nicht weiter auf sie eindringen. Es ging einfach nicht. Nicht angesichts der Tatsache wie sehr es sie schmerzen zu schien auch nur an sie zu denken.
Wir saßen mehrere Minuten einfach nur neben einander, still, schweigend. Sie musste sich sammeln, ich musste mich zusammen reißen. Allmählich begann ich Verständnis für Reginald zu empfinden. Es musste scheußlich sein, seine Erinnerungen an Verstorbene mit jemanden teilen zu müssen, der nie die Gelegenheit bekommen hatte, selbst welche mit ihnen zu schaffen, obwohl er ihnen so viel näher hätte sein sollen. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass ich gar nicht so schlecht davon gekommen war. Ich hatte zwar nie die Chance bekommen, meine Mutter und meine Geschwister kennen zu lernen, selbst die Zeit mit meinem Vater begrenzte sich auf schemenhafte Augenblicke, Gefühle, kurze Bilder, die hin und wieder vor meinem Auge aufblitzten, doch für Reginald, für Liza, für Ellen, ja selbst für Socrate musste es tausendmal schlimmer sein. Denn sie kannten sie. Sie hatten Erinnerungen an sie, ein klares Bild von ihnen. Der Schmerz sie alle nie wieder zu sehen, musste unbegreiflich groß sein. Mir blieb irgendwie nur der Neid, mit denen ich jene bedachte, die meine Familie hatten kennen lernen, lieben lernen konnten. Da, wo sie Erinnerungen, Schmerz, Liebe,Trauer und Gefühle hatten, die sie nicht losließen, hatte ich nur eine große Leere, die ich versuchte zu füllen. Ohne den geringsten Erfolg.
Und wer ist daran schuld? Wer ist schuld an dieser Leere? An diesem Nichts, dass dich von innen aushöhlt, langsam und stetig? Wer war es denn, der sie dir genommen hat? Der dir deine Chance genommen hat? Verzweifelt krallte ich meine Finger in meine Haare, versuchte die Stimme auszublenden, zu verscheuchen. Ich war es leid, so unendlich leid immer und immer wieder dieselben Fragen zu hören. Und immer und immer wieder nur dieselben Antworten darauf zu haben.
Du weißt, dass diese Fragen nur eine Antwort haben... War es nicht Socrate, der sie hat töten lassen? Seine eigene Tochter? Seine Enkel? Wollte er nicht auch dich töten? >Doch<
Und warum hat er das getan? Weil er euch hasst? Das schrille Lachen, was darauf folgte, war so neu, so ungewohnt, dass ich vor Schreck zusammen zuckte, meine Beine näher an mich zog. Als hätte das irgendwas geändert.
Du weißt, dass das nicht der Grund ist. Du weißt es ganz genau. Was hatte dein Vater denn vor? Was hat ihm seine Familie und sein Leben gekostet? Den ach so bösen König ein für allemal auslöschen. Und wer hat ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt? War das Socrate? >Nein<
Richtig. Es waren die Anderen. Wer sagt denn, dass diese angeblichen Beweise, die dein Vater gefunden hat, nicht gefälscht waren? Oder man ihn in Trance gesetzt hat? Manipuliert hat mit Magie? Ist wirklich Socrate hier der Böse? Oder hat er nicht nur versucht, die anderen Magier zu schützen, sich wie ein Anführer zu verhalten, das Allgemeinwohl über seine persönlichen Gefühle gestellt? >Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht<
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