Kapitel 26
„Ich habe herausgefunden, dass Miguel, der Anführer der Abtrünnigen, genau wie auch Socrate nicht die ganze Geschichte des Königs kennt. Sehr alte Manuskripte in der Bibliothek des Anwesens lassen mich darauf schließen, dass ein Ereignis aus der Antike, wenn nicht sogar noch früher, diese Sage um den König der Magier entstehen ließ. Vielleicht war es sogar dasselbe Ereignis, das der Auslöser für unsere Flucht aus Ägypten war. Allerdings muss ich gestehen, dass Miguel näher an der Wahrheit liegt als Socrate es jemals könnte.
Der König ist definitiv kein richtiger König.
Socrates König mag ein mächtiger Magier sein, der alle fünfzehn Jahre die Chance auf eine Wiedergeburt hat. Miguel und die Abtrünnigen waren zumindest nicht die einzigen, die dies glaubten, wenn ich dem Tagebuch meiner Ururur-Großmutter Glauben schenken darf. Und ich bin mittlerweile mehr als gewillt dies zu tun. Jedoch bin ich mir mehr als sicher, dass es sich bei besagter Reinkarnation gar nicht um einen König handelt. Sich nie gehandelt hat. Ich habe den Ort besucht, an dem wir Magier zum ersten Mal in Amerika Fuß gefasst hatten. Wo wir die erste unserer Siedlungen, das erste Heim gebaut hatten. Mittlerweile ist dort schon längst eine neue Stadt errichtet worden, doch die Gräber, die Gruften unserer Familien befinden sich noch dort. Und mit ihnen noch Besitztümer, die damals mit Verwandten begraben wurden. Ich habe diese restlichen Habseligkeiten der Vergangenheit durchsucht und fand sogar einige Schriften, die bereits zum größten Teil verfallen sind. Ich habe sie studiert, abgeschrieben, mit viel Mühe in die heutige Sprache übersetzt.
Es war unter anderem ein Märchen dabei. Ein Märchen über einen Magier, dem der Thron von seinem angeheirateten Onkel gestohlen worden war und der nun mit aller Macht versuchte, das grausame Regime des falschen Königs zu beenden, indem er sein eigenes Anrecht auf den Thron geltend machte. Nun, wie es in jeder guten Heldengeschichte der Fall ist, kämpft er am Ende gegen seinen Verwandten, stirbt dabei jedoch zusammen mit ihm, hinterlässt einen Sohn, der nichts von seiner Herkunft weiß und die Königsfamilie galt von nun an als ausgestorben. Da ich bezweifle, dass irgendwer eine rein erfundene Geschichte zu einer Frau ins Grab legte, die doch sehr alt geworden war, ohne einen bestimmten Grund dafür zu haben, spreche ich dieser Geschichte doch einiges an Wahrheitsgehalt zu. Es erklärte wenigstens etwas. Doch es bleiben trotzdessen mehr als nur einige Fragen offen, Fragen, von denen ich mir nicht sicher bin, ob ich der Geschichte trauen kann:
- Wer sind die Magicians? Einfach eine ausgestorbene Magierfamilie oder tatsächlich eine Königsfamilie?
- Wer ist ‚Dark King', der immer wieder auftauchte? Der böse Onkel, des angeblich rechtmäßigen Erbens der Krone der Magier? Ist er die Reinkarnation und versucht bis heute seinen Platz als König zu behalten?
- Entspricht diese Geschichte wirklich der Realität? Oder ist doch die Fantasie mit irgendwem durchgebrannt?
- Wer ist der Magier, der immer wiedergeboren wird? Warum ist er denn angeblich so gefährlich?
Und zu guter Letzt: - Wieso hat noch nie jemand davon gehört? Wieso wurde dieses Märchen, dieser Teil unserer Vergangenheit, wenn es sich um die Wahrheit handelt, nicht weitergegeben?
Ich verstehe es nicht. Verstehe nicht, wieso noch nie jemand das alles hinterfragt hat. Oder warum der Held, der rechtmäßige König als ‚Goldauge' bekannt war. Und ich bezweifle, noch mehr selbst heraus zu bekommen. Vermutlich werde ich wohl den Kontakt zu den Abtrünnigen herstellen müssen, um an andere Informationen zu kommen. Auch wenn es mir nicht gefällt."
Ohne groß meine Gedanken schweifen zu lassen, blätterte ich weiter. Das Gefühl, auf den Kern des ganzen Problems, auf den Grund für seinen Verrat am Heim gestoßen zu sein, war so allgegenwärtig, dass ich vor Eifer beinahe die Seite einriss. Ich versicherte mich kurz über ihre Unversehrtheit, bevor ich mich wieder über das Buch beugte.
„Ich habe geglaubt, dass niemand es schaffen würde, mich für seine Zwecke zu benutzen. Nicht, solange ich noch bei klaren Verstand wäre. Doch ich habe mich geirrt.
Die Abtrünnigen kennen das Märchen, dass ich gefunden habe. Unter ihnen wurde es weitergereicht, wenn auch mit einigen Veränderungen. Doch der Kern ist derselbe. Und ich beginne zu glauben, dass es sich dabei um die Wahrheit handelt. Die Wahrheit, die damals überhaupt erst zu diesem Krieg unter den Familien geführt hat.
Ich weiß nicht, ob es wirklich der Schwager des Königs war, der die Macht an sich riss, indem er den König tötete oder ob es einfach ein machtgieriger Magier war, der die Krone raubte. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es wirklich einen heroischen Kampf zwischen dem Erben und dem falschen König gab, bei dem beide starben. Aber ich bin mir sicher, dass diese Reinkarnation, auf die Socrate und all die anderen im Heim so sehr hoffen, der ‚böse König' ist. Ich bin mir sicher, dass es damals eine Königsfamilie gab, dessen Existenz heute nicht mehr nachweisbar ist. Und ich bin mir sicher, dass ‚The Dark King' nie wieder an die Macht kommen darf. Dass die Abtrünnigen Recht daran taten, jeden neuen König finden und töten zu wollen, bevor er ein Bewusstsein für seine vergangenen Leben entwickelt. Und mit meiner Hilfe erhoffen nicht nur sie sich, dass die anderen Familien dies auch begreifen.
Mir ist klar, was ich tun muss. Für sie. Für mich. Und auch wenn ich noch gerne weiterforschen würde, besonders über die charakteristischen goldenen Augen, die angeblich jedes Mitglied der Königsfamilie besaß, weiß ich, dass ich zurück muss. Ich habe Tante Ellen Bescheid gegeben, ihr und Onkel Will. Habe sie eingeweiht. Ich konnte ihr, ihre Skepsis anmerken. Ihre Besorgnis mich betreffend, wenn ich wieder zurückkehre. Verständlich, wo doch ihr Bruder, mein Vater, damals zusammen mit seiner jungen Frau zurück gegangen ist, weil er zurück gerufen wurde. Ich wusste, Tante Ellen gab besonders dem Heim die Schuld an seiner Entscheidung vor fast neun Jahren. Aber daran darf ich nicht denken. Darf nicht daran denken, wie schwer es sein wird, wieder dort zu leben. Allein in einem großen Haus. Meine Hoffnung beruht einzig allein darauf, dass Reggie und Jonathan mir nicht allzu böse sind. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich alle davon überzeugen kann, meiner Geschichte zu glauben, ich kann bereits jetzt ihre Rufe hören, wie sie mich als Verräter beschimpfen, aber ich weiß, wie ich mir eine Chance verschaffen kann. Auch wenn ich mir damit Socrate zum Feind machen werde, und mit ihm den gesamten Sleight-Clan, und noch dazu mein Timing genau abstimmen muss für meine Rückkehr, ich muss es tun. Was habe ich schon für eine andere Wahl..."
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