Kapitel 23
„Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Worte einmal denken, geschweige denn aufschreiben oder in den Mund nehmen würde... Dennoch tue ich es jetzt: Ich freue mich auf den Tag, an dem ich vielleicht, unter der Voraussetzung vorher jemanden gefunden zu haben natürlich, mein eigen Fleisch und Blut in den Armen halten werde. Bisher habe ich nie einen großen Hehl daraus gemacht, dass ich nicht beabsichtige, mich in irgendeiner Art und Weise fortzupflanzen. Meine Absicht war bisher, der Letzte der Niels zu sein."
Kaum hatte ich diesen Abschnitt gelesen, schien es mir, als würde mir jemand die Luftzufuhr abschneiden. Der Letzte der Niels. Mir kamen diese Worte so bekannt vor. Als hätte ich sie schon tausendmal gehört. Die Absicht, der Letzte zu sein. Und dann wurde mir klar, was das überhaupt bedeutete.
Mein Vater hatte vorgehabt, den magischen Teil der Familie, der Teil, der noch immer an das Heim des Königs gebunden ist, auszurotten. Er wollte die Niels – Familie von der Tradition der Königsherrschaft lossagen, indem er offiziell der letzte Niels mit magischen Fähigkeiten gewesen wäre. Was wiederum bedeutete, dass er bereits vor seiner einjährigen Abwesenheit Bedenken, wenn nicht sogar Zweifel an all dem gehabt hatte. An dem König. An Socrates Herrschaft. Nur war er da noch nicht bereit gewesen, etwas dagegen zu unternehmen. Er wollte lediglich seine Familie da raus haben.
Von diesem Fakt mehr als überwältigt sah ich zurück auf das kleine Buch, das vor mir auf dem Boden lag, und las weiter. Ich wollte wissen, was sein Denken umgestimmt hatte.
„Nun, allmählich bekomme ich jedoch mehr und mehr das Gefühl, dass ich irgendwann doch gerne Vater werden würde. Nicht dass Reginald so viel jünger als ich wäre, sodass er jemals als mein Sohn durchgehen könnte, aber ich vermute, dass es einfach das Gefühl ist, nicht nur gebraucht sondern auch erwünscht zu sein, was zu diesem Sinneswandel geführt hat. Ich sitze nicht mehr alleine an einem Tisch, muss nicht erst das Haus verlassen, um andere Menschen zu sehen. Es gibt jemanden, der mich braucht. Jemanden, der darauf vertraut, dass ich für ihn da bin. Und das ist ein, zugegebener Maßen, echt schönes Gefühl.
Reginald macht auch Fortschritte. Irgendwie. Sein Umgang mit der Magie ist zwar immer noch unterirdisch, doch wenigstens beginnt er zu verstehen, dass das weder etwas schlechtes, noch hassenswertes ist. Ich verstehe sowieso nicht, warum man seinem eigenen Kind einredet, man wäre nur der Ausgleich dafür, dass die ältere Schwester mit dem Feuer-Element zur Welt gekommen ist.
Generell ist Leana Sleight eh nicht mein Fall. Sie verhält sich so, als hätte sie das Feuer-Element allein aus dem Grund, weil sie irgendeine Eigenschaft besitzt, die besonders herausstechend wäre. Dabei wird sie von allen alleinig darunter definiert, dass sie irgendwie das Feuer zurückbringen könnte in die Vererbungslinien und sie zudem noch die Tochter des Ministers ist. Wenn man es sogar genau betrachtet, hat sie genau dasselbe Problem wie Reginald: Keine Anerkennung um ihrer selbst Willen. Nur, dass sie dieses Problem nicht sieht, weil sie halt beliebt ist. Weil die Leute sie ja angeblich respektieren... Aber sie sieht das nicht, sieht nicht hinter die Fassade und denkt nicht eine Sekunde lang daran, wie sich ihre Brüder fühlen. Arnaud, der zwar der Erstgeborene ist (im Normalfall also der Mächtigste unter seinen Geschwistern sein sollte), aber im Gegensatz zu seiner jüngeren Schwester ein Nichts ist und Reginald, der ja angeblich vom Schicksal dazu auserkoren ist, um das Gleichgewicht in der Familie zu erhalten. Ganz nach dem Motto: Wir haben jemand super starkes, der ganz ganz wichtig ist und deshalb brauchen wir jemand ganz schwachen, der absolut nichts auf die Reihe kriegt. Wirklich sehr nett.
Ich kann natürlich nur spekulieren. Bisher habe ich immerhin nicht viel mit dem Sleight-Clan am Hut gehabt. Doch soweit ich das als Zuschauer beurteilen kann, der zumindest den jüngeren Bruder mittlerweile recht gut kennt, ist die angebliche, große Hoffnung der Magier einfach nur ein rücksichtsloser, egoistischer und naiver Mensch, mit dem ich mich gar nicht näher befassen möchte."
Es war interessant zu erfahren, wie mein Vater meine Mutter in seiner Schulzeit wahrgenommen hatte. Noch interessanter war es zu lesen, wie meine Mutter anscheinend in ihrer Jugend so drauf gewesen war. Doch es tat auch weh, so unfassbar weh. Weil ich es nicht von ihnen persönlich erzählt bekam. Weil es nicht sie waren, die mir ihre eigene Geschichte erzählten. Weil ich niemals am eigenen Leib erfahren würde, wie sie gewesen waren oder heute noch sein würden. Meine Eltern waren mir fremd. Bestanden nur aus Buchstaben und dem kleinen Foto im Medaillon meiner Mutter, das ich um den Hals trug. Als wären sie mir so näher. Als wären sie hier. Was sie nicht waren, niemals sein würden...
Ich merkte wie sich in meinem Inneren etwas zusammenzog, als wäre ich geschlagen worden. Es fiel mir schwer zu atmen, zu schwer um auch nur eine einzelne Träne, die mir plötzlich in die Augen schossen, zurückzuhalten. Langsam bahnten sie sich ihren Weg über meine Wangen zu meinem Kinn, um schlussendlich zu Boden zu tropfen, den dunklen Teppich auf dem ich saß zu benässen. Als ein Tropfen auf die Schrift meines Vaters fiel, konnte ich den Blick nicht von dieser Stelle nehmen. Konnte nicht anders als zu zu sehen wie das Papier aufweichte und die Buchstaben leicht verschwammen. Als wäre es der traurigste Anblick der Welt.
„Du musst dich zusammenreißen. Es gibt einen Grund, weshalb sie nicht hier sind, Will. Es gibt jemanden, der die Schuld trägt. Es muss etwas geben, was zu all dem geführt hat. Du musst weiter lesen." Ich hörte diese Stimme nicht zum ersten Mal. Nein, mittlerweile war sie sogar fast die einzige Stimme, auf die ich noch hörte. Lilia und Richard hatte ich seit Stunden, seit Tagen schon nicht mehr gesehen. Ich wusste, sie waren da, stellten mir was zu essen vor die Tür, doch ich sah sie nicht. Hörte sie nicht. Sprach nicht mit ihnen. Diese Stimme hingegen war da. Sie verließ mich nicht. Und obwohl ich mir sicher war, den Verstand zu verlieren oder ernsthafte psychische Krankheiten zu entwickeln, folgte ich ihrem Rat.
Einmal schniefend hob ich meine Hände, wischte mir meine Tränen aus dem Gesicht und versuchte notdürftig mit meinem Pullover die größte Feuchtigkeit auf dem Papier aufzunehmen. Große Schäden schienen nicht entstanden zu sein. Und so las ich einfach weiter. Weiter in der Welt, die noch eine Welt gewesen war, in der meine Familie noch lebte.
Hey, alle miteinander, ich hoffe es stört euch nicht, dass momentan so viele Tagebucheinträge von Lucas kommen.
Mich würde jedoch mal interessieren, was ihr so davon haltet, was Lucas da so geschrieben hat und wie Will darauf reagiert :)
Ansonsten würde ich mal sagen: Bis bald :D
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