Kapitel 11

Sie versuchte mir alles zu erklären, die richtigen Worte zu wählen. Sie erzählte mir, wie sich mein Vater monatelang auf dem Anwesen der Familie Niels verbarrigadierte und nachforschte. Von seiner Entscheidung zurück ins Heim des Königs zu gehen, weiter zu studieren und Minister zu werden, um den nächsten König zu töten. Sie berichtete mir gemeinsam mit Reginald von dem Zusammentreffen meiner Eltern. Von deren anfänglichen Konflikten und die Versuche meines Vaters meine Mutter davon zu überzeugen, dass der König nicht nich einmal herrschen dürfte, was ihm schlussendlich auch gelang. Reginald beschrieb mir dir Hochzeit und die Geburt meiner Geschwister. Und schlussendlich kam Ellen zu der Schwangerschaft meiner Mutter, bei der sie mich unter ihrem Herzen trug. >Der Geburtstermin war für Dezember angesetzt, aber deine Eltern verheimlichten die Schwangerschaft. Bis Ende September blieben sie noch im Heim des Königs, danach reisten sie auf unser Familienanwesen. Natürlich nur unter der Bedingung vor Mitternacht am Silvesterabend wieder Abrufbereit zurück zu sein. Socrate brauchte Lucas schließlich für die Zeremonie, sollte der König geboren werden. Ich weiß nicht, was die beiden vor hatten. Ob sie überhaupt so weit gedacht hatten. Oder nur darauf hofften, ihr Kind möge vor Neujahr zur Welt kommen< Eine kurze Pause. Für mich fühlte sie sich wie eine Ewigkeit an. Eine Ewigkeit, die mich zu verschlucken drohte. >Weihnachten kam und ging, aber es gab keinerlei Anzeichen bezüglich deiner Geburt. So kam Silvester und deine Familie blieb auf dem Anwesen. Socrate tobte vor Wut. Er schickte mehrere Leute seines Clans zu mir und meinen Kindern, doch niemand der anderen Clans wusste von unserem Anwesen. Meine Urgroßeltern ließen es heimlich erbauen. Und so kam der 19. Januar<

>Dein Geburtstag<, fügte Reginald unnötigerweise hinzu. Doch ich blieb stumm, wie schon eine ganze Weile. Als wäre ich paralysiert, starrte ich auf eine einzige Stelle direkt vor mir auf den Boden. Mit jedem weiteren Wort von Ellen schien sich ein Kokon um mich herum fester zu ziehen, näher zu kommen, mich einzusperren. Ihre Worte schienen etwas mit meinem Inneren anzurichten. Oder viel mehr zu zerstören.

>Während meine älteste Tochter Mira Leana bei der Entbindung half und ich deine Geschwister hütete, betrachtete Lucas fortwährend den Nachthimmel. Er hatte solch eine große Angst, dass die Sterne die Geburt des Königs verkünden würden... Dann, als du deinen ersten Atemzug tatest, bemerkten wir alle, dass etwas mit Lucas nicht stimmte. Er war kreidebleich geworden. Beinahe wie ein Toter. Und seine Augen waren auf den Himmel fixiert. Denn die Sterne des Königs waren im selben Moment aufgetaucht, in dem du zum ersten Mal die Welt sahst.

Ich weiß nicht, warum sie sich dazu entschieden, dir eine Chance zu geben. Aber sie taten es. Und blieben auf dem Anwesen, wurden abtrünnig, nur um dich zu beschützen.
Zwei Jahre später tauchte Lucas plötzlich vor unserer Tür auf, vollkommen fertig mit den Nerven. Er hatte dich dabei, aber du hast natürlich nichts begriffen. Wahrscheinlich hast du nicht mal das Blut auf Lucas' Kleidung gesehen. Das Blut von Leana, Jesse und Elena. Arnaud hatte die drei getötet, weil deine ganze Familie nach ihrem Untertauchen als Verräter eingestuft wurde< Socrate hatte recht. Lucas hat deine Mutter getötet, weil er nicht fähig war, seinen Sohn zu ermorden... Erschrocken sah ich auf, blickte mich verwirrt und hektisch um. Was war das? Wem gehört diese Stimme?

>Will? Was ist mit dir? Alles in Ordnung?< Ich sah Reginald an, der auf mich zu kam. Es sah so aus, als würde er mir eine Hand auf die Schulter legen wollte. Nein! Bevor ich es ganz realisierte war ich auf den Beinen.

*

Lilia saß zusammen mit dem kleinen Louis auf ihrem Schoß in der Küche auf einem Stuhl und sah Anne dabei zu, wie sie noch etwas Warmes zum Abendessen zubereitete. >Machen wir Ihnen wirklich keine Umstände?<

>Nein nein. Mein Mann kommt mit unserer Tochter sowieso erst in einer Stunde. Ich wollte so oder so noch was kochen<, meinte Anne.

>Du bist hübsch<, meinte Louis plötzlich zu Lilia, die überrascht zu ihm hinuntersah. >Fast so hübsch wie Mama<

>Danke<, erwiderte Lilia lächelnd. Als sie wider hoch sah, bemerkte sie, dass auch Anne lächelte. >Darf ich Sie etwas fragen?< Anne blickte Lilia in die blauen Augen und erkannte, wie ernst es dem Mädchen war.

>Natürlich. Louis, gehst du deine Hände waschen?<

>Mach ich, Mama<, meinte der Kleine, hopste von Lilias Schoß und lief aus dem Raum. Lilia sah ihm gedankenverloren hinterher.

>Es geht um deinen Freund, richtig?<, erfasste Anne die Situation und machte sich daran eine Zwiebel zu schneiden. >Ich warne dich vorher, die meisten Fragen, die du haben wirst, kann ich dir nicht beantworten. Die meisten Geheimnisse um diesen Teil unserer Familie hat meine Mutter für sich behalten<

>Ich bin mir sicher, diese Frage können sie beantworten< Mit leicht gerunzelter Stirn betrachtete Anne Lilia, die vollkommen ruhig am Tisch saß. Trotz der zierlichen Gestalt des Mädchens schien ihre Präsenz im Raum übermächtig zu sein.

>Dann stell sie< Abwartend blieb die Frau stehen, betrachtete weiter das blonde Mädchen, welches schon so alt wie ihre Nichte sein müsste. Doch ihre Ausstrahlung war eine vollkommen andere. Fast schon ängstlich wartete Anne auf die Frage. Sie rechnete mit vielem, aber nicht damit.

>Wie kann Ihnen ein Mitglied Ihrer Familie so egal sein, dass Sie nicht mal seine Existenz gegenüber Ihrem Sohn zugegeben haben?< Sprachlos starrte Anne in dieses vollkommen ehrliche Gesicht des blonden Mädchens. Dieses Mädchen, das solch grausige Dinge von Anne dachte. Vielleicht sogar von der ganzen Familie Niels dachte. Als sie zu einer Antwort ansetzen wollte, wie auch immer diese ausgesehen hätte, unterbrach Lilia sie schon beinahe schroff. >Ich will keine Ausflüchte hören. Keine Entschuldigungen. Sie haben Liams Existenz verleugnet, über acht Jahre lang. War es dieser ganzen Familie egal, wie er sich gefühlt haben musste? Im Heim ohne auch nur einen Hauch von all dem hier zu ahnen? Ist er Ihnen und Ihrer Familie so egal?< Anne blieb eine Antwort ersparrt, als sie hörte wie eine Tür hektisch, ja beinahe panisch aufgerissen wurde. Sowohl sie als auch Lilia beobachteten Will dabei, wie er aus dem Wohnzimmer hinaus rannte, die Haustür aufriss und in den Abend hinausjagte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Reginald schrie den Namen des Jungen und wollte genau wie Lilia hinter ihm her hetzen, doch Ellen hielt beide zurück.

>Lasst ihn gehen. Er braucht seine Zeit<, meinte sie und als Lilia doch wiedersprechen wollen zu schien, fuhr sie beschwichtigend in Annes Richtung fort: >Geh ihm bitte nach und zeig ihm den Weg zurück, sobald er sich beruhigt hat. Wir wollen ja nicht, dass er sich verläuft< Anne zögerte keine Sekunde, ließ das Essen auf dem Herd stehen, schnappte sich ihre und die Jacke des Jungen und lief ebenfalls hinaus in die Nacht. Ob sie es Will zuliebe oder nur wegen Lilias Anschuldigung tat, wusste Anne nicht. Doch sie tat es und beeilte sich Will einzuholen.

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