Ein Haus im Licht
In einem sehr kleinen Land, man nannte es D., stand an einer Strecke für Schnellzüge ein ebenso kleines Bahnwärterhäuschen. Es erhob sich neben großen Fichten und Kiefern, die für diese Landschaft typisch waren, als sei es nur ein kleines, unbedeutendes Haus an einer Strecke, wo doch des öfteren die schnellsten Züge verkehrten, die die Welt zu bieten hatte. Die Fichten und Kiefern legten das ganze Haus in einen dunklen Schatten, dass nur selten vom Sonnenlicht durchdrunge wurde: An dieser Stelle fand N. seinen Arbeitsplatz. Denn die gemeinen Menschen wohnen indes doch stets im Dunkeln. Welche Menschen können sich schon Licht leisten? Dabei geht es gar nicht um Leistung, um eine Tätigkeit an sich, sondern viel eher um die gegebenen Möglichkeiten: wer, der nicht durch Zufall reich geboren ist, kann es sich und uns zeigen, dass sein Haus in Freiheit steht, dass er hinausgehen kann aus seinen Mauern, dass durch die Fenster seiner Heimat Lcht hineinfällt, wodurch er alles, was sich vor seinem Hause aufbaut, Schönheit wie Hässlichkeit, erblicken kann? Der Mensch wird im Dunkeln gelassen, um sich nicht aufzubegehren. Sie leben im Dunkeln, weil sie die Chance des Zufalls nicht bekommen, durch Licht gesegnet zu sein. Wer schon kann sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit der Menschheit lösen, der nicht zu denen gehört, die zufällig glücklich sind? Eine Besonderheit war, dass das Bahnhäuschen von D., einem wirklich sehr kleinen Land, zwischen zwei größeren Staaten einen Platz gefunden hatte und deren Züge durch das Land leiten ließ, ohne, dass die Züge auch nur einen Halt dort machten. Während die Menschen auf den Bergen und im Tiefland ihrer Arbeit achgingen, war das Land dennoch nur ein Durchfahrtsland gewesen, dass für die beiden anderen Länder, die die Grenzen von D. berührten, unwichtig gewesen war. Denn die beiden anderen Länder, im Osten hatte sich R. etabliert und im Westen war es A. geworden, hegten eine tiefe Antipathie dem anderen gegenüber. Hatte der eine wissenschaftliche Erkenntnis gehabt, machte sie ihm der andere strittig und berichtete nur abfällig darüber. Tanzten die einen zum Schneewalzer, saßen die anderen im Garten und hörten la valse d'été. Sie waren völlig unterschiedlich geworden, weil sie sich selbst als so unterschiedlich betrachteten. War doch R. so stolz auf die hohen Berge von M., hatte sich A. das große weite Meer erkoren, das sowohl im Westen, Süden als auch im Osten an ihm grenzte und von ihm auch personifiziert wurde. Im großen und ganzen unterschieden sie sich lediglich in ihrem vorhanden oder auch nicht vorhandenen Vermögen; und eben alles, was damit zu tun hatte. Es ist gut möglich, dass die Länder gar nicht so unterschiedlich waren, hätten sie sich nicht auf ihre Unterschiede fixiert: aber wie dem auch sei; der Mensch bestimmt sein Schicksal zuhauf selbst. Das gilt wohl nicht für jeden, aber doch, so mag es doch ganz sicher sein, für sehr viele unter uns: Wir leben mit den Entscheidungen, die wir tagtäglich treffen müssen.
Eine dieser Entscheidungen war jene von N., dem Bahnwärter, gewesen, der des Morgens aus dem Bett aufstieg und sich für seine Arbeit fertigmachte. Er trank aus einem großen Pott seinen Kaffee, wie er es immer tat, und schritt in frühester Dunkelheit unter den Laternen zu seiner Arbeitsstelle, wo er die Nachtschicht ablöste. Die beiden Herren grüßten sich, brachten sich auf den neuesten Stand und nach einiger Zeit verließ die Nachtschicht das Gebäude. Die Arbeit im Bahnwärterhaus war fundamental wie unumstößlich gewesen: zu den vermerkten Uhrzeiten hatten die Weichen gestellt zu werden und N., der die Uhrzeiten genaustens auf seiner Uhr und dem Protokoll verfolgte, war ein gewissenhafter Mann gewesen, der über die Dringlichkeit seiner Arbeit genaustens Bescheid wusste. Den Anreiz, ein Bahnhäuschen gerade an jeder Stelle in D. zu bauen, wo die Züge zwar schneller verkehren, aber nicht in D. halten können, hatte Ns. Arbeitgeber, ein älterer Mann mit Bauchansatz, schon früh erkannt. Er war bereits reich geboren, seine Eltern waren, wie er, Industriegiganten, die verschiedene Firmen unterhielten, und die ebenfalls, da deren Eltern wiederum reiche Aristokraten gewesen waren, in einem wohlhabenden Umfeld hineingeboren wurden. N.s Arbeitgeber hatte entsprechend ein Gespür dafür gehabt, zu erahnen, wo Umsatz erwirtschaftet werden konnte, ganz gleich, welches Opfer dafür gegeben werden musste. Seine Eltern ließen Männer und Frauen 18 Stunden lang am Tag schuften, er ließ die Züge durch D. rollen. Der Grund ihrer Handlung war stets derselbe gewesen. Daher wäre es unsinnig, zu evaluieren, ob es besser ist, ein ganzes Land, D., von der Weltgemeinschaft abzuschließen oder, ob die Ausbeutung von mittelloser Arbeiter und Arbeiterinnen, zu verantworten ist. Wie dem auch sei: A., dem das Bahnstellwerk gehörte und darin eine gute Geldquelle gefunden hatte, perfektionierte seinen Umgang, noch mehr Geld aus dem, was er unterhielt, zu schlagen. Denn eigentlich war es geltende Vorschrift gewesen, dass in einem Bahnwärterhaus mindestens zwei Bahnwärter gleichzeitig stationiert sein sollten, die gleichsam Protokoll der Züge und Uhr im Blick hatten. A., dem das Geld sehr wichtig gewesen war, weil ihm die Gesellschaft damit automatisch Ruhm und Lebensfreude zusprach, hatte entsprechend N., als dieser eingestellt wurde, darauf hingewiesen, dass er, weil es wohl nicht genügend Bahnwärter gegeben hätte, vorerst alleine arbeiten würde. Sollte es aber zu einem Zwischenfall kommen, müsse er nur das Telefon bedienen. Hierbei betonte Herr A., wie sehr er doch am Wohle des Menschen hängen würde; hatte er nur die neusten und besten Ausstattungen in seinen Betrieben. Das zweite, was er sagte, war, dass für jeden Missbrauch, den N. täte, aber nicht notwendig gewesen wäre, N. Gefahr laufe, entlassen zu werden. Daraufhin nickt N., war zwar erschrocken, über die Aussage hedoch nicht üebrrascht; nicht, weil er den Herrn A. so gut kannte, sondern deshalb, weil A. genau wie die anderen gewesen. Auch bei anderen Arbeitsstellen hatte er das gleiche gehört, seine Freunde und Familie, die woanders arbeiteten, bestätigten, was N. erzählte. Und so kam es, dass N., der nun daran gewöhnt war, inzwischen waren gut 15 Jahre um gewesen, alleine zu arbeiten, sich wieder alleine im Häsuchen befand, das Stellwerk überprüfte und auf die Uhren, denn die Ortschaften hatten allesamt verschiedene Zeiten und überlegte, wann er hinausgehen und Weichen stellen musste.
Herr A. war einer gewesen, der im Licht geboren wurde. Sein Haus, eine Villa, blickte feistehend auf einen prächtigen See, indem große und kleine Fische schwammen. Seine Eltern schenkten ihm die Möglichkeit, sich dem Licht zu bedienen und er nutzte sie, weil es keinen Tag in seinem Leben gab, wo das Licht nicht durch seine Fenster fiel. Eines Tages hätte er so oder so vom Licht gebrauch gemacht. Nur durch das Licht erkannte er, ja, konnte er überhaupt sehen, wer nicht im Lichte wohnte; jene, die es sich nicht leisten konnten, die dicht an dicht in Baracken wohnten, im dritten, oder schlimmer noch, vierten Hinterhof eine Heimat, aber kein Licht fanden. Irgendwann erreichte ihn der Übermut, zu behaupten, dass man nur genug arbeiten müsse, um sich ein solches Haus, wie er, in das er geboren wurde, zu leben.
Hierbei fiel es ihm zum ertsen Mal auf: Irgendetwas war an diesem Tag anders gewesen. Es war, als wäre er mit dem falschen Fuß aufgestanden. Immer tat ih etwas weh, dann juckte es ihm, er kratzte sich, verschüttete im Häuschen seinen Kaffee. Es war beinahe, als wäre ihm eine Laus über die Leber gelaufen: irgendwas war an diesem Tage komisch gewesen. Dann sah er auf die Uhr. In fünf Minuten musste er hinuntergehen, um die Weiche zu stellen. Zwar hielt der Zug nicht in D., aber N. wusste, für viele Reisende war diese Weiche unglaublich wichtig gewesen. Er war kurz davor gewesen, hinunterzulaufen, als das Telefon klingelte. Es war Herr A. gewesen, der einen Kontrollanruf tätigte und sich versichern ließ, dass N. zu zweit gewesen war. Die Behörde, die es kontrollierte, saß vor Herrn A. am Schreibtisch und nickte vielsagend. N., der in seinem Bahnhäuschen immer unruhiger wurde, aber den Fragen der Kommission, die gewiss nicht zu jedem einzelnen Bahnwärterhäuschen gehen konnte, nicht ausweichen durfte, sah das Unglück kommen. Doch anstatt die Wahrheit zu sprechen, zu sagen, dass er eine Weiche stellen müsste, zu sagen, dass sein Arbeitgeber die Notwendigkeit eines zweiten Bahnwärters nicht sah und fahrlässig das Leben von Menschen aufs Spiel setzte, sagte er nicht. Aus Angst davor, seine Arbeitsstelle zu verlieren und wie viele andere Bahnwächter auf der Straße zu landen, arm und vor Hunger zu sterben, sagte er nichts. Dann hörte er es nur noch krachen. Einundsiebzig Menschen verloren an diesem Tage ihr Leben. Unter ihnen war eine große Anzahl an Kindern aus R. Wieder einmal war es die Dunkelheit, die ihr Tribut opferte.
Es verging eine ganze Zeit, in der man auf ein gerichtliches Urteil wartete. Während A. und R. darum stritten, welcher Zug ein Signal verpasst hätte, um erneut die Überlegenheit seines eigenen Landes zu offenbaren, war doch N. wieder in seinem Bahnwärterhäuschen und ging seiner Arbeit nach. Als an einem Tag die über 150 angehörigen der Opfer zusammenkamen, um in D. den Opfern zu Gedenken, entfernte sich ein Mann, ohne das man es wirklich mitbekam, und schlich zum Bahnwärterhäuschen. V., der seine ganze Familie im Zugunglück verloren hatte, seine Frau und seine zwei Kinder, war in eine tiefe Traurigkeit gefallen. Tag und Nacht, bei Regen und Sonne, stand er am Grab seiner Familie. Aber seine Anwesenheit, durchweg bei Frau und Kidnern am Grabstein zu stehen, hatte ihn nicht zu innerer Seelenruhe für deren Erlösung geführt, sondern zu viel mehr Hass. Und so kam es, dass sich V. auf dem Weg zum Bahnwärterhäuschen machte, wo N. wieder auf die Uhren sah und plante, die Weichen zu Stellen. Dann hörte er nur noch ein Krachen. Ein Mensch verlor an diesem Tage sein Leben.
Als der Kommissar am Unfallort eintraf, begutachtete er die Leiche. Bei sich hatte er einen jungen Anwerber, der in seine Fußstapfen treten wollte. Er notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett, aber dann musste er den Kommissar doch etwas fragen: „Herr Kommissar", sagte er, „was fasziniert Sie an diesem Beruf? Wenn ich mir das hier so ansehe, das Blut, die Leiche, dann würde ich wissen wollen, was Sie mit diesem Anblick glücklich macht?" Da drehte sich sein Gegenüber um, blickte ihm tief in die Augen und sagte ihm: „Ich denke, es ist die Faszination, dass wir als Menschen nicht die sind, die wir vorgeben, zu sein. In uns schlummert ein ganz emotionales Wesen, das mit Gefühlen und der Suche nach Gerechtigkeit kämpft. Dieses System unterstützt dich nicht, Licht zu erhalten. Es unterstützt alle, Geld auszugeben. Es unterstützt diejenigen, die Geld verdienen möchten; nicht aber diejenigen, die sich aus ihrer Dunkelheit, aus ihrer Armut, befreien wollen. Die Welt ist nicht so hell, wie viele es uns weißmachen wollen. Sie denken, die Welt würde nur auf Rationalität und Kritizismus beruhen, alles zu hinterfragen und zu kritisieren. Dabei vergessen sie, dass die Empirie, das, was wir selbst feststellen, noch heute einen ungeahnten Einfluss hat. Und unsere eigenen Erkenntnisse, unsere subjektiven Wahrnehmungen, verleiten uns dazu, Sachen zu tun", er kniete sich hernieder, „die keiner Rationalität bedürfen. Wir sind nicht rational, sondern im tiefsten Sinne emotionale Wesen, die Glück oder Unglück haben. Es liegt nicht an uns, mit dem Licht der Weisheit gesegnet worden zu sein. Keiner von uns kann behaupten, dass sich die geheimnisvollen und faszinierensten Taten im Hellen abspielen. Ich bin hier, um das Dunkle aufzuklären, um mit meiner Laterne vielleicht ein bisschen Licht in einen hohen Kiefernwald zu bringen, der von niemanden gänzlich durchdrungen werden kann. Ich will die Fälle, die uns alle, in irgendeiner Weise auch immer, begegnen, klären, sie präsentieren und, um unser selbstwillen beantworten; deshalb stehe ich vor dir. Irgendeiner wird komen, um zu sagen, dass das, was ich tue, falsch ist; dass meine Überzeugung, das Böse lauert überall und ist ein Teil für uns, als grausam dargestellt wird. Aber ich frage dich: Wer ist der Grausame in diesem Fall? Bin ich es, der die tiefen Triebe des Menschen enthüllt? Ist es der, der nie eine Chance hatte, das Licht zu erblicken und 71 Menschen sterben ließ? Ist es der, der ins Licht geblickt hat und deshalb, nur, damit es ihm gut geht, dazu beiträgt, dass so viele Menschen in Dunkelheit bleiben? Oder ist es der, der aus tiefster Verzweiflung, Hass und Trauer ein weiteres Menschenopfer forderte? Wer soll der grausame Mann sein, von dem immer so gerne berichtet wird?"
Später, als der Fall um 71 Kinder längst abgeschlossen war, stand auch V. vor dem Gericht. Die Anklage befragte ihn und er sagte: „Sperrt mich ein. Sperrt mich weg. Ich bin kein Märtyrer. Ich bin kein Held. Ich bin ein Mörder. Feiert mich nicht. Trauert nicht um mich. Ich bin jetzt glücklich. Ich habe gehandelt, nur um selbst glücklich zu werden. Ich habe meine Seelenruhe gefunden." Dann wurde er abgeführt und die Gesellschaft, die sich versammelt hatte, beglückwünschte sich selbst, dass sie dem niederen Trieb, Egoismus, wieder einmal besiegt hatten. Wenig später gingen die meisten von ihnen zu Herrn A. in die Industrie, um für ihn zu arbeiten, um sich etwas Essen leisten zu können, das aber nicht dafür reichte, in ein Haus mit Licht einzuziehen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top