30. September 2016

Freitag, 21:02 Uhr

„Aber was machen wir denn jetzt?" fragte sie nach einer halben Ewigkeit unangenehmen Schweigens. Kittie saß immer noch im Sessel, eingekuschelt unter der Decke, aber David konnte erkennen dass sie darunter zitterte. Natürlich tat sie das, nachdem was er ihr gesagt hatte. Aber es hätte keinen Sinn gehabt es ihr vorzuenthalten. Kittie war nicht dumm und sie hätte die richtigen Schlüsse irgendwann selber gezogen.

Er wusste keine Antwort auf ihre Frage. Was sollten sie tun? Aber er war der Erwachsene, der auf den sie sich verlassen konnte, er musste entscheiden. „David?" ihre Stimme war leise und zart. „Ich weiß es gerade nicht. Es tut mir leid, Kittie." Sie krallte sich in das Futter des Sessels so dass ihre Fingerknöchel weiß hervor traten. „Wir müssen hier bleiben! Wir können nicht zurück! Und wir können schon gar nicht mehr zur Polizei!" Er schloss das Fenster, durch das bis jetzt die immer kühler werdende Seeluft ins Zimmer geströmt war. „Aber vielleicht ist das, so unlogisch es sich anhört, immer noch die beste Strategie. Wir gehen hin und du erklärst was passiert ist." „Nein!" sie sprang auf, die Hände zu Fäusten geballt. „Die glauben mir kein Wort! David, ich bin sowieso schon ne verdammte Kriminelle! Nur weil du glaubst alle Behörden und solcher Scheiß sind unfehlbar..." Stimmt. Das glaubte er wirklich. Das hatte er geglaubt. Bis jetzt. Jetzt wo ihm klar wurde dass sie Kittie, seine kleine Kittie, sehr wahrscheinlich einfach einsperren würden. Sie hatten nichts in der Hand. Keinen Namen von dem Mann, nicht einmal eine Ahnung wo er zu finden war. Keinen Beweis für seine Existenz.

„Schon gut." er hob beschwichtigend die Hände. „Du hast recht. Ich habe das nicht zu Ende gedacht." Sie nickte zustimmend, um Fassung bemüht. „Wir bleiben am besten erst mal hier. Noch hat man sicher keine Spuren gefunden oder weiß dass das Auto mir gehört." Er ließ sich in den zweiten Sessel sinken, und rang die Hände. „Und vielleicht findet es ja auch nie einer raus. Es gibt doch zig ungelöste Mordfälle. Wir warten einfach ab, bis Gras über die Sache gewachsen ist." Kittie sagte nichts. Sie stimmte nicht zu, aber sie lehnte auch nicht ab. Wahrscheinlich akzeptierte sie seine Lösung ganz einfach. Sie sah ihn nur an, den Kopf leicht schief gelegt. „Ich glaube ich gehe ins Bett." Er nickte. „Tu das. Vielleicht sollten wir morgen nochmal gehen und ein paar neue Sachen für dich besorgen? Wenn wir länger bleiben..." „Ja. Können wir auch ans Meer?" „Wenn du willst können wir natürlich ans Meer." Sie lächelte müde.


Freitag 21:41 Uhr

Michael saß auf einem der Plastikstühle im Aufenthaltsraum der Polizeiwache und klammerte sich an seine Tasse Kaffee. Sie wollten jetzt allein mit Nadja reden. Nachdem er die Polizei gerufen und vom Verschwinden seiner Tochter Katharina erzählt hatte, waren sie zur Wache gefahren. Nadja hatte erstaunlicherweise kaum protestiert. Sie hatte wohl eingesehen dass die Situation ernst war. Sie hatten mit mehreren Polizisten gesprochen, aber am meisten gefragt hatte eine kleine, blonde Frau. Sie hatte sich als Elisa Wolf vorgestellt. Ihr Name war doch Elisa? Er war sich nicht mehr sicher. An diesem Abend war es ohnehin schwierig alles zu verarbeiten was auf ihn einströmte.

Sie hatten alle Fragen so gut wie möglich beantwortet. Wie Katharina aussah, wer ihre Freunde waren, wo sie vielleicht sein konnte. Eigentlich hatte nur Nadja geantwortet. Denn er wusste nichts über seine Tochter. Sie hatten ihn auch gefragt warum er sie so lange nicht gesehen habe. Michael hatte geantwortet dass Nadja es nicht gewollt habe, dass sie ihre Ruhe wollte. Daraufhin hatte seine Ex geschrien er habe sie unter Druck gesetzt, sie habe ihm zeigen wollen dass sie allein klar kommt. Er hatte auch geschrien. Dass man ja gesehen hatte wie sie klargekommen war, dass sie sich hätte anstrengen sollen und dass ihre Tochter nur wegen ihr weg war. Die Polizisten hatten sie beruhigt und ihn daran erinnert weshalb sie hier waren. Die junge, blonde Frau hatte gefragt warum er nicht auf seinem Recht bestanden habe, Katharina zu sehen. Michael hatte darauf keine Antwort gewusst. Weshalb auch, das tat ja hier gar nichts zur Sache! Nadja war schuld an allem, nicht er!

Vielleicht sollte er Angelika anrufen. Sie würde sich schon Sorgen machen, dass er nicht vom Besuch seiner Ex zurückkam. Einem Besuch, dem sie sowieso nur schwerlich zugestimmt hatte. Sie wusste dass er eine Tochter aus einer früheren Beziehung hatte, auch dass er sie nicht mehr sah. Aber bald wollten sie ohnehin eigene Kinder haben. Er tippte eine kurze Nachricht an seine Freundin:

Katharina ist verschwunden. Sie ist mehrere Tage nicht nach Hause gekommen. Ich bin bei der Polizei. Kann noch ein wenig dauern hier. Mach dir keine Sorgen!

Die Tür gegenüber öffnete sich. Nadja kam heraus, gestützt auf einen der Polizisten. Kraftlos glitt sie auf den Stuhl neben ihm. Der Polizist verschwand wieder, um kurz darauf mit einem Glas Wasser für Nadja zurückzukommen. Sie hielt es mit zitternden Händen fest. „Was haben die dich noch gefragt?" platzte es sofort aus ihm heraus. „Die... Wo sie sein könnte... Was bei uns falschgelaufen sein könnte... Ob sie weggelaufen sein könnte." Sie trank einen Schluck. „Ich habe ihnen den Wohnungsschlüssel gegeben, sie fahren dort hin. Wir sollen hier bleiben. Es dauert nich so lange." „Gut."

Sie schwiegen sich an. Nadja zitterte und schluchzte. Offenbar verstand sie jetzt erst was passiert war. Sie hatten sich ohnehin nichts zu sagen. Michael fragte ob er noch einen Kaffee haben könne. Und dann noch einen. Er ging nach draußen, lief um das Gebäude und dann wieder zurück in den Aufenthaltsraum. Nadja saß immer noch da und schluchzte.

„Jetzt hör doch schon auf! Auf einmal tut es dir leid, oder wie?! Das hätte dir vielleicht mal eher einfallen können, nicht erst jetzt?! Wie wäre es, du hättest mal eher die Polizei geholt?!" Sie stand auf und wischte sich über die Augen. Verschmiertes Mascara lief ihre Wangen hinab. Er erkannte sie nicht wieder. So sehr er es auch versuchte, die Frau dort war nicht seine Freundin gewesen. Nichts war mehr von ihr übrig. „Ja, du hast recht." antwortete sie. Er starrte sie an. „Du hast recht, es tut mir leid. Du hast recht, ich hätte eher die Polizei holen sollen. Aber ich... Ich dachte sie ist bei ner Freundin oder so... wäre nicht das erste Mal..." Sie sah wirklich mitleiderregend aus. Aber er hatte keines. Alles was er für diese Frau empfand, diese neue, unbekannte Nadja, war Hass und Abscheu.

Sie wandte sich von ihm ab und ging den Gang hinunter. Dort blieb sie stehen und holte umständlich ihr Handy aus der schwarzen Handtasche, die sie bei sich trug. Sie begann etwas zu tippen. Wieder öffnete sich eine Tür. Die blonde Frau kam heraus, redete leise auf Nadja ein und kam dann mit ihr auf ihn zu. „Was gibt's? Haben Sie sie gefunden? Oder zumindest eine Ahnung wo sie ist?" Er klang ruppiger als er eigentlich wollte, aber er konnte nicht behaupten dass es ihm leidtat. Die Polizistin überging es allerdings komplett. „Ich möchte sie bitten, mit mir zu kommen." Nadja trottete hinter ihr her, den Kopf gesenkt. Sie waren wieder in dem kleinen Raum und saßen wieder auf denselben Stühlen. Er direkt rechts neben der Tür, Nadja links von ihm, mit viel Abstand, sie hatte den Stuhl extra zur Seite gerückt und die Polizistin ihnen gegenüber. Einer ihrer Kollegen stand hinter ihrem Schreibtisch neben ihr.

Würden jetzt noch mehr Fragen folgen? Oder endlich Antworten? Eine leise Stimme in Michael meldete sich zaghaft: Sie schulden dir keine Antworten, sie müssen nicht wieder gut machen was du verbockt hast. Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Nadja war schuld. Sie und nicht er.

Er hatte wohl den Anfang des Gespräches verpasst. Die Frau gab gerade Nadja den Wohnungsschlüssel zurück. „Wir haben ihre Tochter zur Fahndung ausgeschrieben." erklärte der Polizist sachlich „Seien Sie versichert dass wir alles tun werden um eine..." „Was? Aber sie ist doch nich... Ich meine sie..." Nadja klang schrill und panisch. Die Polizistin schaltete sich jetzt ein. „Frau Steuer, ich verstehe Sie, wirklich. Wir haben noch keine Ergebnisse, aber sowas kann dauern. Nur im Moment müssen wir leider davon ausgehen dass ihre Tochter entführt worden sein könnte.

Er hatte es geahnt. Bereits in der Wohnung hatte er es geahnt. Er hatte nicht weiter darüber nachgedacht, er hatte abwarten wollen. Aber jetzt stand es fest.

„Woher wissen sie das?" fragte er, um Fassung bemüht. Er musste sich jetzt zusammenreißen. Nadja war ein einziges Wrack, er musste das hier übernehmen. Der Polizist antwortete prompt: „Nun, sie ist offenbar nicht bei Freunden. Sie war auch außerdem nicht in der Schule, was laut Frau Steuer sehr untypisch für sie ist. Und ihr Portemonnaie, mit Geld und Ausweis befindet sich noch in der Wohnung. Sie hat auch sonst nichts mitgenommen, außer dem was sie wahrscheinlich ohnehin dabei hatte. All das sieht nicht nach Weglaufen aus, eher so als wäre sie nur unterwegs gewesen." Seine Kollegin fügte hinzu: „Aber natürlich, schließt es nichts aus. Deshalb benötigen wir diese öffentliche Fahndung. Wir müssen Sie jetzt einfach nur bitten, so gut es Ihnen möglich ist mit uns zu kooperieren."

„Ja. Natürlich." presste Michael hervor und Nadja nickte nur stumm. „Gut wir brauchen ein möglichst aktuelles Foto ihrer Tochter." sie sah Nadja an. „Ansonsten bitten wir sie, falls sich in den nächsten Tagen jemand bei ihnen melden sollte, mit einer Lösegeld-Forderung oder ähnlichem, oder auch nur einem Hinweis, verständigen sie uns umgehend." Sie schob ihnen einen Zettel hinüber auf dem mit rot geschrieben eine Telefonnummer und darunter der Name Elisa Wolf stand. „Falls es jemanden in ihrem Umfeld gibt, der ihnen verdächtig vorkommt, ebenfalls." Er nickte starr. „Bitte sprechen Sie nicht mit der Presse. Die werden sich vielleicht bei Ihnen melden, aber bitte keine Interviews." „Das kann passieren?" Michael kannte so etwas nur aus Filmen. Aus Krimis, in denen am Ende entweder das verschwundene Kind wieder auftauchte oder aber tot war. Ihm wurde schlecht. Er hatte das Gefühl aufstehen und weglaufen zu wollen. Das konnte doch nicht wahr sein. Das konnte doch alles nicht echt sein. „Ja, das kann passieren. Ich rate Ihnen beiden sich einen Anwalt zu suchen."


Freitag, 02:17 Uhr

Michael stolperte mehr aus dem Auto als das er ausstieg. Das Gefühl sich in einem bösen Traum zu befinden war viel zu präsent. Die Tür wurde geöffnet, noch bevor er sie aufschließen konnte. Angelika stand da, im Bademantel, die Haare offen. Sie sah aus wie immer. Als wäre alles normal. „Micha." Sie fiel ihm um den Hals und zog ihn sanft nach drinnen, dann schloss sie die Tür wieder. Er fühlte sich auf einmal unglaublich kraftlos. Als hätte er sämtliche Energie in den letzten Stunden verbraucht. Sie ließ ihn los und er stolperte ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch sinken. Sie hatten sie erst gekauft. Vor wenigen Tagen. Sie waren zusammen im Möbelhaus gewesen und diese einfache Couch auszusuchen hatte unfassbar lange gedauert. Ihre Geschmäcker waren einfach zu verschieden und es grenzte an ein Wunder, dass sie überhaupt eine gefunden hatten. Angelika hatte Tee gemacht. Sie stellte die Kanne vor ihn und drückte ihm eine Tasse in die Hand, dann setze sie sich neben ihn. Michael schloss die Augen und begann von den letzten Stunden zu berichten.

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