20. September 2016
Dienstag, 01:12 Uhr
Sie rannte. Ihr Atem ging stoßweise und sie fühlte ihr Herz gegen ihre Brust hämmern. Sie umklammerte den Riemen der High Heels mit der rechten Hand. Mit der linken Hand presste sie die Jacke aus schwarzem Kunstfell an ihren zitternden Körper. Das Wasser einer Pfütze spritzte an ihren nackten Beinen hoch. Wo war sie? Wo war das Auto? Sie wollte nach Hause, sie war so müde. Und gleichzeitig so panisch. Sie traute sich nicht zu rufen. Verfolgten die sie? Obwohl Kittie keine Schritte hinter sich hören konnte, wurde die Angst nicht weniger. Sie sah das Auto immer noch nicht, also rannte sie einfach weiter.
Aber er hatte doch nicht so weit entfernt geparkt, sie war doch auf dem Hinweg nicht so weit gelaufen! Vielleicht war das hier nicht die richtige Straße, vielleicht war sie falsch abgebogen. Das alles hier hätte sie niemals machen dürfen. Es war nicht nur verboten, es war auch gefährlich. Als Torben angefangen hatte sie um diese Gefallen zu bitten, da hätte sie ablehnen müssen. Aber da waren 60,00 €, drei 20er Scheine in ihrer Tasche.
Kittie sprintete weiter. Sie gab es auf das Auto noch zu finden. Besser sie kam zur U-Bahn oder zum Bus, dann konnte sie nach Hause. Nach einer gefühlten Ewigkeit fand sie eine Bushaltestelle und die Linie würde immerhin fast bis vor ihre Haustür fahren. Sie hatte einen Schuh verloren. Ihr Chef würde böse werden, wenn er es erfuhr. Sie tapste zur Haltestelle und blickte auf die Anzeige. Noch 13 Minuten. Kittie ließ sich auf der kalten, nassen Metallbank nieder und begann zu weinen. Der Schock saß immer noch zu tief. Vor ihren Augen lief die Szene nochmal ab.
Kittie hatte den Koffer vorsichtig auf den Boden gelegt und den schwarzen Wagen vor ihr nicht aus den Augen gelassen. Es war stockdunkel, es gab keine Straßenbeleuchtung. Ein Mann stieg aus dem Auto und kam auf sie zu, zwei weitere hinter ihm. Sie hatte ihn nicht erkennen können, weder sein Gesicht noch etwas anderes. Aber sie hatte ihre Aufgabe erfüllt. Sie lächelte.
Kittie ging zurück. Jetzt musste sie nur noch zu Torbens Auto und er würde sie nach Hause bringen. Als einer der Männer sie hart am Arm packte. Sie wirbelte herum und sah ihm nun direkt ins Gesicht. „Willst du nicht noch kurz bleiben?" der Gestank aus seinem Mund schlug ihr entgegen. Ein Geruch nach Bier und etwas anderem, süßlichen. „Lass mich los." Sie drehte ihren Arm in seinem Griff, doch er ließ nicht los. Und sie hatte keine Chance.
Er sollte sie loslassen. Sie wollte das nicht, sie wollte hier weg! Kittie fühlte die Panik in ihre aufsteigen. Jetzt nicht die Nerven verlieren! Einer der anderen Männer lachte „Lass mal gut sein. Die ist doch noch ein Kind." „Ich rede doch bloß mit der." Er zog Kittie mit sich zum Auto. Sie begann zu schreien und gegen sein Bein zu treten, doch sie war einfach zu schwach. Mit voller Kraft stemmte sie sich in den Boden, aber das war gar nicht so einfach. „Ey, jetzt lass. Ich will keinen Stress!" Der zweite Mann marschierte nun auf sie zu und packte den anderen an der Schulter.
Diesen Moment nutzte Kittie um ihren Arm noch einmal schmerzhaft nach hinten zu drehen. Und er ließ sie los. Kittie rannte die Straße runter, doch er folgte ihr. Sie musste hier weg. „Torben!" schrie sie. Vielleicht hörte er sie, vielleicht kam er um ihr zu helfen. Aber nichts passierte. Sie stolperte mit High Heels konnte sie nicht rennen. Der Schmerz durchfuhr sie und zu allem Überfluss landete sie auch direkt mit dem Gesicht in einer Pfütze. Sie spuckte das eklige Wasser aus und riss sich die Schuhe von den Füßen. Einer der Riemen musste dabei gerissen sein. Kittie rappelte sich auf. Wo war der Mann? Sie traute sich nicht nach hinten zu blicken.
Sie saß immer noch an der Haltestelle und versuchte sich zu beruhigen: Kittie, es ist alles gut. Wahrscheinlich haben die dich überhaupt nicht verfolgt. Du hattest nur Panik. Der Bus hielt und sie stolperte mehr als das sie lief. Nur die vordere Tür öffnete sich. Mist, nach 20:00 Uhr musste man vorne einsteigen. Der Busfahrer zog die Augenbrauen hoch als er sie sah. „Wo ist deine Fahrkarte?" Sie sah ihn mit glasigen Augen an, gerötet vom Weinen. „Kann ich eine kaufen, bitte?" Kittie kramte einen der 20er
Scheine aus ihrer Jackentasche. Er war nass, aber der der Busfahrer nahm ihn anstandslos. „Du solltest um die Zeit im Bett sein, Kleine." „Ich weiß." Würde er die Polizei rufen? Sie hoffte nicht. Bitte, bitte nicht.
Sie setzte sich ganz hinten hin, dort wo am Tag die kichernden Teenager saßen, wenn sie aus der Schule kamen. Vielleicht wollte sie nicht gesehen werden, aber wahrscheinlicher war dass sie selbst niemanden sehen wollte. Aber um diese Zeit waren sowieso nur zwei weitere Fahrgäste im Bus. Ein Junge mit riesengroßen Kopfhörern und ein älterer Mann, der aus dem Fenster starrte. Kittie wünschte sie hätte ihre Ohrstöpsel nicht auf Arbeit liegen lassen. Aber egal, morgen würde sie sowieso wieder hingehen, da konnte sie auch die Ohrstöpsel holen. Einen Tag Schule würde sie schon ohne aushalten. Außerdem konnte sie froh sein heute Abend so einfach davongekommen zu sein. Das würde sie nicht noch einmal machen, sie würde nie wieder irgendwas für Torben erledigen, dieses Arschloch!
Sie stakste die kleine Rampe nach unten auf die Straße direkt vor das Hochhaus. Einige der älteren Jugendlichen lungerten immer noch draußen vor den Häusern herum, kifften und tranken. Kittie würdigte sie keines Blickes, aber schloss ihre Faust um das Geld in ihrer Jackentasche. Das war ihres.
Aber sie musste eigentlich keine Angst haben. Die Zeiten waren vorbei, als einige von denen sie angepöbelt und abgezogen hatten. Heute wussten sie alle wer Kittie war. Und vor allem wen sie kannte und wer ihr einen Gefallen tun würde, wenn sie darum bat. „Hey, Kittie, trinkst du was mit uns?" „Siehst gut aus, Süße!" aber sie ignorierte die Rufe. Sie war müde und wollte nur aus den durchnässten Klamotten raus.
Als sie die Wohnung betrat, war ihre Mutter nirgends zu sehen. Kittie zog die Jacke aus und schlich ins Wohnzimmer. Sie kannte ihre Mutter, sie wusste wo sie war. Dort wo sie immer war, schon seit Jahren. Ihre Mutter lag auf dem Boden, schnarchend, eine Flasche Bier neben sich. Doch Kittie war sicher dass das nicht die einzige Flasche heute gewesen war. Manchmal erinnerte sie sich gern an die Zeit als es so gewesen war. Nadja war nie eine gute Mutter gewesen, aber eine annehmbare. Manchmal hatte sie mit Kittie Mensch ärgere dich nicht gespielt. Oder sie hatten zusammen ferngesehen. Wenn Nadja gut drauf gewesen war, hatte Kittie das Programm aussuchen dürfen. Zu ihrem achten Geburtstag waren sie in den Zoo gegangen. Es war der schönste Tag mit ihrer Mutter an den sie sich erinnern konnte. Aber so war es schon lange nicht mehr. Die Mutter, die sie brauchte war nicht mehr da. Und die Frau auf dem Boden, brauchte Kittie dringender als andersherum. Sie nahm eine Decke vom Sofa und deckte sie zu. Kittie schaltete den Fernseher aus und ging in ihr Zimmer zurück. Dann legte sie die noch verbliebenen 58,20 € auf ihren Nachtisch, zog die durchnässten Sachen aus und ließ sich in Unterwäsche ins Bett fallen. Morgen konnte sie nach der Schule einkaufen gehen. 58,20 € würden eine Weile reichen. Doch noch besser wäre es wenn Nadja nicht den gesamte Rest ihres Geldes versaufen oder verspielen würde. Doch das hatte Kittie bereits aufgegeben.
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