10. Oktober 2016
All suffering originates from craving,
from attachment,
from desire.
Edgar Allan Poe
Montag, 16:35 Uhr
Kittie saß auf dem Boden, die Beine überschlagen und summte die Happy Birthday Melodie. ‚Happy Birthday, Happy Birthday to me...'
Die Kopfhörer lagen neben den Resten der Torte immer noch auf dem Tisch. Ihre Freude darüber war schnell wieder verblasst, als ihr klargeworden war, dass sie ja ihr Handy nicht mehr hatte. Und auch nie mehr wiederbekommen würde. David hatte einen IPod als Lösung vorgeschlagen und war nun seit einer halben Stunde damit beschäftigt, alle möglichen Modelle im Internet herauszusuchen. „Was hältst du von dem hier?" er hielt ihr das Tablet unter die Nase. „Toll." „Das hast du zu den anderen auch gesagt." „Nein, der ist wirklich toll. Die anderen waren..." sie suchte die richtigen Worte „nur so mittelmäßig toll." Er seufzte. „Das Problem ist, dass wir den nicht bestellen können. Wir müssten am besten in ein Geschäft gehen. Wie mit der Brille." Sie beschränkte sich auf zustimmendes Nicken. „Kannst du ein wenig warten?"
Er meinte das wirklich ernst. Nach dem was gestern passiert war, glaubte er wirklich ihr größtes Problem sei es, wann sie ihren IPod bekam. Sie konnte es nicht fassen. Sie hatte geglaubt David würde sie kennen. Sie hatte geglaubt er würde sie verstehen, wie es sonst niemand tat. Jetzt fragte sie sich was sie zu dieser Annahme gebracht hatte. War es die nette Fassade? Das Taxi in dem er sie mitgenommen hatte? Die tollen Restaurants? Die Geschichte von seiner toten Tochter?
Sie hatten Torte zum Mittag gegessen. Aber heute Abend würde David zum Buffet herunter gehen und etwas zu essen von dort holen. Und dann würde sie gehen. Diese Idee hatte sie den Vormittag über ausgearbeitet, während David gelesen hatte. Sie musste niemandem davon erzählen. Niemand würde die Polizei rufen müssen. David konnte einfach allein nach Spanien fahren oder sonst wohin. Bis sie zuhause wäre, wäre er längst über alle Berge. Es war am besten so. Zumindest versuchte sie sich das einzureden.
David legte das Tablet weg. „Was bedrückt dich denn? Du scheinst dich nicht richtig zu freuen. Du bist so still." „Das weißt du doch." murmelte sie, aber traute sich nicht auszusprechen, was genau es war. Da waren immer noch rote Striemen an ihrem Hals. Sie wollte ihm keinen Grund geben wieder wütend zu werden. Sie wollte die paar Stunden genießen, die ihnen noch blieben. Aber ihr Herz fühlte sich an, als würde es zerspringen und machte es unmöglich etwas anderes als Schmerz zu fühlen.
„Lass uns schwimmen gehen, ja? Heute Abend?" David schien es ernst zu meinen. „Wirklich?" Sie war sich trotzdem nicht sicher ob sie dem trauen konnte. „Ja, wirklich. Es ist schließlich dein Geburtstag." Ein augenblickliches Schuldgefühl überkam sie. Heute Abend würden sie nirgends hingehen, wenn sie tatsächlich beschloss aus dieser Tür hinaus zu gehen. Wenn sie verschwinden würde und ihn verlassen. Vielleicht nicht heute. Vielleicht erst morgen? Sie könnte ja auch morgen gehen, wäre das nicht sowieso viel besser? Viel praktischer, da fuhren sicher mehr Züge, als nachts. Sie kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum. Warum war sie immer noch so unsicher? Sie hatte es sich gut überlegt, sie würde es jetzt auch durchziehen. Kittie stand auf und ging in ihr Schlafzimmer.
Sie begann Sachen aus der Reisetasche in ihren Rucksack zu stopfen. Alles was draußen lag, konnte sie jetzt natürlich nicht einpacken, aber sie ging im Geiste durch, was sie noch mitnehmen musste. Das Duschbad vom Rand der Badewanne. Das mit dem Rosenduft, das andere konnte hierbleiben. Die Brille? Nein, die brauchte sie nicht. Ihre Jacke vom Kleiderbügel. Das zweite Paar Schuhe draußen im Flur. Und natürlich die Kopfhörer, am besten mit der Verpackung, damit sie nicht kaputtgingen.
Montag, 18:02 Uhr
Kittie hockte inzwischen auf dem Sofa und versuchte ihre zitternden Hände unter ihren Oberschenkeln zu verstecken. David hatte bereits heute Morgen alle Vorhänge zugezogen. Wahrscheinlich aus Sorge, dass jemand nach oben sehen könnte und sie zufällig am Fenster stand. Also war es inzwischen so dunkel, dass sie sämtliche Lampen eingeschaltet hatten. Kittie tat so als würde die Serie im Fernsehen, sie wirklich interessieren. Am Anfang der Folge ging es um eine Frau, die sich in einen Bankräuber verliebt hatte, ohne es zu wissen. Es war deutlich abzusehen, dass sie es irgendwann herausfinden würde. Aber inzwischen hatte sie den Faden verloren und konnte der Handlung nicht mehr folgen. Sie wartete nur darauf, dass David aufstehen und das Zimmer verlassen würde.
„Soll ich Abendessen holen?" sie atmete beinahe erleichtert auf. „Ja, das wäre super." Sie nickte überschwänglich. David lachte. „Du hättest einfach sagen können, dass du Hunger hast. Möchtest du etwas bestimmtes?" Sie überlegte kurz. Was hatte es gestern nochmal gegeben? „Der Auflauf war gut." „Stimmt, dann hole ich noch etwas davon." Er legte sein Buch auf die Kommode, neben die Sonnenbrille, die sie auf dem Bahnhof getragen hatte. Dann, endlich, ging er. Kittie lauschte seinen Schritten im Flur und dem Drücken der Klinke. Sie hörte die Tür zufallen und sprang sofort auf um ihren Rucksack zu holen. Doch ein anderes Geräusch ließ sie innehalten. Ein metallisches Klirren und...
Nein, Nein, das konnte doch nicht wahr sein! Sie rannte durch den Flur zur Tür des Hotelzimmers und drückte die Klinke. Nichts. Sie bewegte sich, aber die Tür blieb geschlossen. Ungläubig wiederholte sie das Ganze, drückte immer fester gegen die Tür und warf sich letztendlich dagegen. Sie gab kein Stück nach. Natürlich nicht, denn die Tür war abgeschlossen. Wieso schloss er sie ein?! Kittie hämmerte gegen das dunkle Holz. „Lass mich raus! David!" wimmerte sie „Ich bin nicht deine Gefangene, ich bin nicht..." Sie lehnte ihren Kopf gegen die Tür und schluckte die Tränen hinunter. Er sollte aufhören! Er sollte sofort aufhören! Es kam ihr lächerlich vor wie sie sich am Freitag noch an seine Hand geklammert hatte. Wie sie ihm sogar irgendwie die Schüsse auf die Polizei verziehen hatte. Sie war lächerlich! Ein dummes, kleines Mädchen mehr nicht! Ihre Stirn fühlte sich heiß an, obwohl das Holz kühl war. Sie ließ ihre Hände sinken.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Sie hatte ihn gar nicht aufschließen gehört, dachte sie bitter. Wie sollte sie David erklären, dass sie hier mit ihrem Rucksack im Flur stand? Dass sie gegen die Tür geschlagen hatte? Seine Augen weiteten sich, als er die Situation erkannte. Kittie wich instinktiv zurück. Aber David packte sie an den Schultern und hielt sie fest. „Du hast deinen Rucksack? Gut. Unten ist nämlich die Polizei." Kittie war froh dass er sie hielt, den ihre Beine fühlten sich auf einmal an, als würden sie gleich unter ihrem Gewicht nachgeben.
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