08. Oktober 2016

Samstag, 08:10 Uhr

Michael rangierte das Auto vorsichtig in eine der letzten Lücken auf dem Parkplatz der Klinik. Vor und zurück, vor und zurück. Es erschien ihm wie eine seltsame Metapher für alles was gerade vor sich ging. Metapher; seit wann war er denn so poetisch?! „Hast du alles? Soll ich mit reinkommen?" „Nee." Nadja nahm die Reisetasche, die er ihr geborgt hatte und öffnete die Beifahrertür. „Pass auf!" sagte er erschrocken, als die Tür viel zu nah an die des BMWs neben ihm kam. Nadja beachtete ihn nicht. Er stieg ebenfalls aus, was sie zu einem genervten Blick veranlasste. Michael ging zu seiner Exfrau hinüber, die auf den Eingang der Entzugsklinik zuging.

„Diesmal ziehst du das durch, klar?! Wenn nicht für dich, dann für sie!" „Ja, ja, schon gut. Ich hab's kapiert! Und jetzt geh schon, wir sind nicht mehr zusammen." Er blieb stehen. „Ich weiß."

Aber es war ein seltsamer Moment, ihr zuzusehen, wie sie in diese Klinik ging. Er realisierte, dass Nadja irgendwie wieder ein Teil seines Lebens geworden war, aus dem sie für Jahre verschwunden war. Aus dem er sie hatte verschwinden lassen, genau wie seine Tochter. Er erinnerte sich an den Abend auf dem Polizeirevier. Wie er Nadja angeschrien hatte. Er war ein Arschloch gewesen. Er hatte sich nicht eingestehen wollen, dass er nicht ganz unschuldig war, an dem was passiert war. Es war erst acht Tage her, aber es kam Michael vor wie eine Ewigkeit. Acht Tage reichen um das Leben komplett zerbersten zu lassen. Und dann muss man es Stück für Stück wieder zusammensetzen.

Michael hupte mehrmals, damit die Journalisten in der Einfahrt endlich den Weg freigaben. Er hatte nicht wenig Lust, sie einfach über den Haufen zu fahren. Die Talkshow war keine gute Idee gewesen, dass hatte die Polizei gesagt. Das würde sicher auch Angelika sagen. Aber es musste einfach raus. Alles musste einfach raus, er musste es der Welt mitteilen. Dass er sie wiederhaben wollte, dass er es nochmal versuchen wollte, dass es ihm leidtat. Und vielleicht hatte er auch ganz irrational gehofft, der Typ würde sie wirklich gehen lassen. Würde verstehen wie er sich fühlte und seine Tochter frei lassen.

So ein Unsinn.

Langsam rollte er die Einfahrt hinauf. Sofort stand einer der vier Polizisten vor der Fahrertür. Michael stieg aus und der Mann begrüßte ihn. „Hallo." murmelte er. „Sie gehen mal besser schnell weiter, ne?" kam die Antwort. Vielleicht sollte er den Typ wirklich mal zu einem Kaffee hereinbitten. Verdient hätte er es. Den ganzen Tag hier zu stehen und die Reporter zu überwachen war sicher kein angenehmer Job.


Samstag, 10:24 Uhr

Kittie hatte kaum geschlafen. Nach ihrem Traum im Zug hatte sie nicht mehr einschlafen können und anschließend waren sie zum nächstbesten Hotel gehetzt. David hatte darauf bestanden, dass Kittie sich hinlegte, hatte es aber selbst nicht getan. Und sie hatte nur wach gelegen. Bis sie schließlich aufstand und sich zu ihm aufs Sofa setzte. Und dort wachte sie nun auch auf.

„Hmmm..." Kittie drehte sich noch einmal um und kuschelte ihr Gesicht ins Kissen. David musste eine Decke aus dem Schlafzimmer für sie geholt haben. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und hinderte sie daran wieder einzuschlafen. Sie setzte sich auf. Das Wetter hier in Zürich war schön. Viel schöner als zuhause. Kittie lauschte auf ein Geräusch von David. Nichts. Sie schlug die Decke zurück und stand unsicher auf. Das Sofa war leer. „David?" sie wurde ängstlich und lief zum Bad. Die Tür war offen, niemand da. „David!" Wo war er?! Wieso lies er sie allein?! „David?!" Kittie stürzte zur Zimmertür, die von außen geöffnet wurde. „Was machst du denn da?" David fing sie auf. „Wo warst du?" schrie sie ihm entgegen und befreite sich hektisch aus der Umarmung. „Beruhig dich doch bitte. Ich habe Frühstück geholt und wollte dich nicht wecken, nichts weiter. Kein Grund hier so herumzuschreien." Doch, sie hatte jeden Grund hier rumzuschreien! Er erschreckte sie, sie ertrug den Gedanken nicht allein zu sein. David ging einfach an ihr vorbei und legte verschiedene Tüten auf den Tisch.

Langsam schob Kittie sich ein Stück Honigmelone in den Mund. Sie lauschte auf ihren sich langsam beruhigenden Herzschlag. „Hast du gut geschlafen?" David rührte in seinem Kaffee herum. „Ja, geht schon." Er nickte. „Wie lange bleiben wir hier?" „Ich weiß nicht. Eine Weile wahrscheinlich. Bis wir die Möglichkeit haben nach Spanien zu fliegen." „Ach, ja, Spanien." Es schien ihr sehr weit weg, weiter als es wohl eigentlich war. Ein unerreichbarer Ort, der gleichzeitig ihre Rettung war. „Gibt es hier ein Schwimmbad?" fragte sie. „Es gibt einen Whirlpool. Aber ich denke nicht..." „Können wir hin?" unterbrach sie David. Er rollte mit den Augen. „Heute Abend vielleicht, ja? Wenn ich sicher bin, dass dort nicht mehr viele Leute sind."


Samstag, 13:43 Uhr

Elisa hatte so lange geschlafen wie möglich. Gegen halb elf hatte sie das immer eindringlichere Miauen vor ihrer Tür geweckt. Die weiße Katze davor gehörte eigentlich gar nicht ihr. Sie gehörte ihrer Nachbarin, die allerdings schon wieder irgendwo im Urlaub war. Also hatte Elisa sich bereit erklärt die Katze, die auf den schrecklichen Namen Schneeball hörte, zu füttern. Allerdings hatte diese Katze bis jetzt ihre Wohnung nicht wieder verlassen. Elisa hatte sie mehrmals in den Flur getragen nur damit die Katze im nächsten Moment wieder zwischen ihren Füßen hindurch in die Wohnung huschte. Aber eigentlich konnte sie ein wenig Gesellschaft brauchen. Also ließ sie es bleiben. Als Elisa sich aufs Sofa gesetzt hatte und ihren Kaffee schlürfte, hüpfte das dickliche Tier neben sie.

Elisa bekam nicht aus dem Kopf was die Frau ihr gestern erzählt hatte. Katharinas Entführer war nicht der Mörder der beiden Prostituierten. Und es war auch nicht Katharina selbst. Nicht dass sie und Herr Strauss das ernsthaft in Betracht gezogen hätten, in einem Bordell zu kellnern, war das eine, ein Doppelmord etwas anderes. Und nun gab es einen neuen Verdächtigen, der im Gegensatz zu David Hais auch ein deutliches Motiv hatte. Dieser Drogendealer nach dem sie schon seit einiger Zeit fahndeten. Ihre Zeugin war sogar dabei gewesen. Sie gab an ihm Auto gesessen zu haben, als er die beiden erschossen hatte. Anschließend seien sie mit mehreren Autos zum Hafen gefahren. Sie wusste zwar nicht was mit den Leichen passiert war, aber es passte alles ins Bild. Elisa streckte ihre Füße aus und schloss die Augen.

Sie sollte wirklich nicht mehr so viel arbeiten, schon gar nicht so spät abends. Sie würde damit aufhören, wenn dieser Fall zu Ende war. Sie würde sich etwas anderes suchen, ein Hobby, irgendetwas was sie bis jetzt für langweilig gehalten hatte. Sie könnte einen Sport machen, sie könnte sich ein Haustier kaufen. Sie könnte eine Beziehung führen. „Wenn ich die Kleine finde, dann höre ich auf so viel zu arbeiten. Was meinst du, Katze?" Keine Reaktion. Aber sie meinte es durchaus ernst. Dieser eine Fall noch. Dann würde das aufhören. Das Telefon auf dem Glastisch vor ihr klingelte und die Katze sprang erschrocken auf. „Schon gut, Schon gut..." versuchte sie sie zu beruhigen bevor sie aufs Diysplay sah: Unbekannte Nummer.

„Hier ist Leonard Strauss." Elisa saß sofort kerzengerade. „Ich bin in der Wache und ich könnte hier..." „Es ist Samstag." unterbrach sie lahm. Einen Moment Stille. Dann sagte er, ein wenig leiser: „Tut mir leid. Entschuldigung. Dann lasse ich sie in Ruhe und..." Sie hatte noch niemals gehört dass Herr Strauss sich bei irgendwem entschuldigt hätte. „Nein, schon gut. Soll ich vorbeikommen? Ein paar Stunden habe ich."

Elisa hatte immerhin einen neuen Kaffee bekommen, als Ersatz für den, den sie zurücklassen musste. „Sie lebt also." murmelte sie und spielte noch einmal das Überwachungsvideo des Bahnhofs ab. Der Mann war eindeutig der Gesuchte. Und die kleinere Person konnte nur Katharina sein. Herr Strauss nickte. „Ich habe bereits die Unterlagen für einen EU-Haftbefehl eingereicht." Clever. Das musste sie ihm lassen. Mit diesem Video war im Prinzip klar, was er vorhatte. Er würde mit ihr ins EU-Ausland fliehen. Die einfachste Lösung, denn sie bräuchten keine Passkontrollen zu befürchten, wenn sie sich geschickt anstellten und waren trotzdem außer Landes. Aber noch viel bemerkenswerter war, dass Herr Strauss es geahnt haben musste, noch bevor sie heute Morgen das Video bekommen hatten. Elisa lächelte anerkennend.


Samstag, 16:15 Uhr

David war gegangen. Wohin wusste Kittie nicht, er hatte gesagt es sei eine Überraschung. Vorher hatte er sich mehrmals versichert, dass es ihr gutging und er sie allein lassen konnte. Aber sie war ja kein kleines Kind mehr. Das heute Morgen, waren sicher einfach nur die Nachwirkungen ihres Traums und der Stress gewesen. Sonst nichts. Kein Grund zur Sorge. Er hatte ihr versichert, die Polizei würde sie hier nicht finden. Sie waren hier sicher. Es würde alles wieder so werden, wie noch vor ein paar Tagen. Sicher konnte sie einfach vergessen was passiert war. Am besten, sie machte einfach so weiter wie vorher.

Kittie zog einen Sessel vor den Fernseher und entschied dann doch lieber auf dem Teppich zu sitzen. Sie schaltete durch die Programme. Sie lehnte sich an den Sessel hinter ihr. Gesichter flogen auf dem Bildschirm an ihr vorbei und dann ließ eines sie zusammenfahren.

Papa.

Eine Wiederholung der Talkshow oder zumindest Ausschnitte davon. Sie starrte auf den Bildschirm. David würde das nicht wollen. Er würde nicht wollen, dass sie das sah. Ihre Hand zitterte. „Ich würde gern wissen, wie sich ihr Leben verändert hat. Hat die Entführung ihrer Tochter einen Einfluss darauf?" „Natürlich. Wie denn auch nicht?" Er wirkte fahrig. Ein wenig zerstreut und unsicher. Nein. Nein, nein, nein. Mit einem Ruck griff sie die Fernbedienung und schaltete weiter. Nun lief eine Doku über die Antarktis. Richtig so.

Sie versuchte sich auf das Gesagte zu konzentrieren, aber es ging nicht. Unruhig rutschte sie auf dem Boden herum. Ihr Vater. Was für ein Mensch er wohl war? Ob er eine neue Familie hatte? Würde diese Familie sie mögen? Hatte er vielleicht sogar andere Kinder? Hatte sie jüngere Geschwister? Sie musste sich ablenken. Sie brauchte das alles nicht zu wissen. Es war gar nicht wichtig, denn sie brauchte ihren Vater nicht. Sie hatte ja David.

Sie stand auf und ging hinüber zu Davids Reisetasche. Er musste irgendwo doch noch ein paar Schokoriegel haben. Sie öffnete den Reisverschluss und legte ein paar Bücher und eine Jacke beiseite. Darunter kam eine Plastiktüte zum Vorschein. Kittie wollte sie wegschieben, aber die Tüte war eigentümlich schwer. Und fühlte sich nicht wie ein weiteres Buch an. Kittie griff hinein und ließ sofort wieder fallen, was sie in der Hand hielt. Die Waffe.

„Oh, Scheiße." Sie stand ruckartig auf und ging rückwärts, weg von der Tasche als sei sie radioaktiv. „So ein Dreck" fluchte sie und stützte sich an der Wand hinter ihr ab. Schweiß bildete sich in ihren Handflächen. Sie hörte nicht wie die Tür aufgeschlossen wurde. Sie sah ihn auch nicht hineinkommen, sie bemerkte ihn erst als er vor ihr stand. Sie holte Luft. Versuchte das Zittern aus ihrer Stimme zu drängen und den Boden unter ihren Füßen zu spüren. David warf sein Jackett aufs Sofa und bemerkte dann den laufenden Fernseher. „Kittie?" Er drehte sich um und sah sie im Gang zum Bad stehen. Er wurde blass. Natürlich, sie musste total verschreckt aussehen. Sein Blick wanderte von ihr zu der Plastiktüte auf dem Boden. Er hob beschwichtigend die Hände und kam ganz langsam zu ihr, wie um ihr nicht noch mehr Angst zu machen. Aber sie war nicht nur ängstlich. Sie war wütend. „Geh weg!" spie sie ihm entgegen. „Kittie, hör bitte zu..." „Was macht die beschissene Pistole in deiner Tasche?!"

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