07. Oktober 2016
Freitag, 18:20 Uhr
Kittie war kaum mehr zu beruhigen. Erst war sie panisch gewesen, hatte nach Luft geschnappt und sich die Hand auf die Brust gepresst. David wollte ihr zu trinken geben oder etwas zu essen, damit sie bloß nicht ohnmächtig wurde. Aber Kittie hatte alles abgelehnt und seine Hand weggestoßen. Alle Zuneigung und alle Versuche sie zu beruhigen, schienen sie nur noch panischer zu machen. Schließlich hatte David aufgegeben, in der Hoffnung sie würde von selbst wieder ruhiger werden.
Das war sie auch, zumindest ein wenig. Sie rang nicht mehr um Luft, aber es war trotzdem nicht ausgestanden. Sie hatte stattdessen mehr denn je geweint, mit den Fäusten auf den Sitz getrommelt, ihn angeschrien und dann wieder geweint. Sie hatte gesagt, dass er ein Idiot war, dass sie das nie gewollt hatte, dass sie nie wollte, dass er jemanden tötet. Er hatte versucht ihr zu versichern, dass der Mann noch lebte, dass er ihn nicht tödlich getroffen haben konnte, schließlich hatte er noch nie auf jemanden geschossen, aber er war sich selbst nicht mehr sicher. Und dementsprechend wenig überzeugend war er auch gewesen.
Dann hatte sie ihm vorgeworfen, ihr Angst gemacht zu haben. Sie hatte recht. Er hätte keine Waffe auf sie richten dürfen. Natürlich hatte sie Angst bekommen. Aber was hätte er denn sonst tun sollen? Darauf hatte sie keine Antwort gewusst, sie war aber trotzdem nicht einverstanden gewesen. Sie hätten sie mitgenommen, sie hätten sie ihm weggenommen. Und er würde sich Kittie nicht mehr wegnehmen lassen, von niemandem. Er brauchte sie, wie die Luft zum Atmen, sie war sein gesamter Lebensinhalt. Ohne sie wüsste er nicht mehr wofür er leben sollte.
Früher hatte David quasi für die Arbeit gelebt. Es war diese Einstellung, die Emi getötet hatte. Sein Egoismus, seine falschen Prioritäten. Aber jetzt war er sich sicher die richtigen Prioritäten zu setzen. Und Kittie war der unangefochtene Platz eins seiner Prioritätenliste.
Er hatte Kittie eine halbe Stunde lang versichert wie sehr er sie liebte, dass er sie immer beschützen würde. Dass sie das wichtigste für ihn war, dass sie eine Torte zum Geburtstag bekommen würde, koste es was es wolle. Aber sie hatte kaum richtig zugehört.
David sah unsicher zu Kittie auf dem Beifahrersitz hinüber. Nun hatte sie schon seit geraumer Zeit kein Wort gesprochen. Sie sprach nicht mehr über den Unfall mit der Polizei. Sie schien nicht mal mehr wütend, stattdessen sah es aus als wäre sie gar nicht mehr wirklich hier. Kittie starrte aus dem Fenster, sie war blass wie eine Leiche, ihre Augen glasig und rot vom Weinen. „Kittie?"David wünschte sich die freche, aufgedrehte Kittie neben ihm zurück. Die verlangte, dass man den Sender wechselte, sobald ihr ein Lied nicht gefiel, die ihn aufzog und Witze machte. Er hoffte inständig sie wiederzubekommen. Sie antwortete nicht, aber drehte den Kopf zu ihm. „Möchtest du noch einen Schokoriegel?" „Nein." „Du bist aber sehr blass." er holte die Packung aus dem Handschuhfach. „Etwas zu essen ist gut für deinen Kreislauf. Willst du den letzten mit Erdbeere?" Er hielt ihr den Riegel hin. „Mit meinem Kreislauf ist alles okay." Sie nahm ihn trotzdem. Langsam wickelte sie das Papier ab, knüllte es zusammen, öffnete den Mülleimer und warf es hinein. Noch vor ein paar Stunden hatte sie das Papier eines Erdbeerriegels vergnügt an die Decke geworfen, um ihn zu ärgern. Der Moment schien Jahre entfernt.
„Kannst du mir mal helfen?" Vielleicht half es, wenn er sie einbezog. Vielleicht würde eine Aufgabe ihr guttun. „Na gut." „Nimm mal das Handy und sieh nach wann ein Zug von Freiburg nach Zürich fährt." Jetzt hatte er ihr Interesse, zumindest etwas, geweckt. „Was ist mit dem Auto?" „Wir müssen das Auto irgendwo stehen lassen, fürchte ich. „In Ordnung." Kittie tat stumm was er ihr gesagt hatte und er fuhr genauso stumm weiter. „19:05 Uhr" sagte sie „Aber das schaffen wir nicht. Das sind nur noch 10 Minuten." „Fährt später noch einer?" Kittie scrollte den Bildschirm hinab. Sie benutzte sein Handy, als würde sie es schon immer tun. „20:40 Uhr" „In Ordnung."
Freitag, 19:14 Uhr
„Wie kann das passieren?!" Lucas schlug mit der Faust auf den Tisch. „So eine Scheiße. Jetzt werden wir die Fahndung einstellen müssen!" Sie saßen bereits seit einer Stunde im Konferenzraum, in dem es, trotz der niedrigen Außentemperaturen, immer stickiger wurde. „Nein, werden wir nicht." sagte Herr Strauss ruhig. Richard schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Wie, Nein?" Lucas Blick fixierte sich nun auf den Leiter der Sonderkommision, der scheinbar seelenruhig in seinem Drehstuhl saß. „Ich sage Ihnen jetzt mal was." Er kam um den Tisch herum „Sie haben die Leitung. Und unter ihrer Leitung, was haben wir da erreicht? Wie weit sind wir? Welche neuen, bahnbrechenden Erkenntnisse haben Sie und gebracht?" Lucas starrte feindselig auf Herrn Strauss hinab. Der ganz gelassen antwortete: „Welche Erkenntnisse hätten Sie ohne mich gehabt? Etwa mehr?"
Elisa hatte die Szene bis jetzt aus ihrer Ecke heraus beobachtet, aber entschied nun, dass es Zeit war, die Diskussion wieder auf die eigentliche Sache zurückzuführen. Auch wenn sie gern dabei zusah, wie Herr Strauss Lucas gegen die Wand spielte. „Stellen wir die Öffentlichkeitsfahndung nun ein, oder nicht?"
Sie ging zum Tisch hinüber und ließ die Akten, die sie vorhin geholt hatte, vorsichtig von ihren Fingerspitzen rutschen. „Setzen Sie sich doch." Herr Strauss schob ihr einen Stuhl hinüber. „Wenn es nach mir geht, ja." antwortete Lucas. „Ehrlich gesagt, muss ich Lucas recht geben." mischte sie die zweite Frau am Tisch ein. Leah Schroder. Elisa kannte sie nur flüchtig, vor dieser Ermittlung hatten sie fast nichts miteinander zu tun gehabt. Aber sie hatte mit Lucas studiert, das zumindest wusste sie. „Wir können nicht riskieren, dass er ihr wirklich etwas antut, jetzt wo er so unter Druck steht." Zustimmendes Nicken von Lucas. „Das wird er nicht." warf Herr Strauss wieder ein. „Er hat sie bis jetzt nicht umgebracht und er muss gewusst haben, dass wir nach ihm suchen. Es lief überall im Fernsehen, auf allen Kanälen. Dieser Vorfall ändert nichts." „Richard? Was meinst du dazu?" Lucas versuchte eindeutig mehr Bestätigung für seine Taktik zu erhalten und er hatte Erfolg damit. „Tut mir leid, Herr Strauss, ich weiß sie sind Experte, aber ich halte es trotzdem für besser sicher zu spielen. Ich stimme Lucas zu." „Ich auch." brummte Herr Müller vom anderen Ende des Tisches. Er hatte bis jetzt noch nichts dazu gesagt, aber er war auch kein Mensch der vielen Worte. Aber wenn, dann waren sie gut überlegt. Elisa schluckte.
„Elisa?"
Lucas sah sie freundlich an. Und Elisa ließ der Gedanke nicht los, dass es ihm hier eigentlich um etwas ganz anderes ging. Er wollte nicht verantwortlich sein. Falls sie sie nicht lebend finden würden, dann wollte Lucas nicht als der Schuldige dastehen. Nicht als der, der es vermasselt hatte, weil er die Fahndung längst hätte stoppen müssen. Er wollte niemand sein, dessen Entscheidungen irgendwie angezweifelt werden konnten. Niemand über den sie viel im Fernsehen sprechen würden. Und wenn das stimmte, dann konnte sie es ihm nicht einmal übelnehmen. Denn wer wollte das schon? Wer wollte schon verantwortlich gemacht werden für den Tod einer unschuldigen Teenagerin?
Alle Augen richteten sich auf sie. Was würde sie wählen? Glaubte sie dem Experten, oder wollte sie sicher gehen? Elisa fühlte sich überfordert. Ängstlich angesichts der Konsequenzen, die diese Entscheidung haben konnte. „Ich denke, Herr Strauss hat recht. Er hat an mehr solcher Fälle gearbeitet, als wir alle zusammen." Lucas Gesichtsausdruck wechselte von Freundlichkeit zu Missbilligung. Aber er fing sich schnell wieder.
„Trotzdem ist der Großteil von uns dafür, die Fahndung einzustellen." Es war eine offene Herausforderung an den eigentlichen Leiter der Sonderkommission, das spürte sie deutlich. Aber der stand nur auf und winkte ab. „Macht was ihr für richtig haltet."
Die Tür wurde geöffnet. „Ich unterbreche ja nur ungern," begann die Frau „aber wir haben hier eine... nun, ja... eine junge Frau, die eine Aussage zum Tod der beiden Leichen vom Containerplatz machen möchte." Elisa stand auf und schob sich ihren Kugelschreiber hinters Ohr.
Freitag, 20:00 Uhr
Die Sonne war in einem Spektakel aus Rot, Orange und Grau untergegangen. David hatte einen Moment vor dem Bahnhofsgebäude gestanden und nach oben gesehen. Schöne, ästhetische Dinge faszinierten ihn, wie immer. Dann hatte er ein Foto gemacht und war mit ihr hineingegangen. Kittie hatte nach der Drehtür seine Hand genommen, um nicht im Gedränge verloren zu gehen.
Es war verrückt.
Sie hielt die Hand des Mannes, der vor ein paar Stunden mit einer Waffe auf ihren Kopf gezielt hatte. Der auf mehrere Menschen geschossen hatte. Der jemanden mit einer Glasflasche niedergeschlagen hatte. Und trotzdem beruhigte es sie, seine warme Hand zu halten. Den Druck zu spüren, mit dem er ihre Finger umschloss und sie fest bei sich hielt. Trotz all dem, hatte sie wieder das Gefühl, diese Hand niemals loslassen zu wollen, es sogar gar nicht mehr zu können. Ihre Welt war aus den Fugen geraten und er war die einzige Konstante darin. Das einzige was sie im Hier und Jetzt hielt. Und diesen Anker durfte sie nicht verlieren.
„Wie viel Zeit haben wir noch?" fragte sie. „40 Minuten. Wir könnten schnell etwas zu Essen holen?" Sie nickte. David blieb stehen um ihre Tickets am Automaten zu kaufen. Kittie blieb ebenfalls stehen und sah ihm durch die Gläser seiner Sonnenbrille, die nun sie trug, dabei zu. „Die Zugpreise werden auch nicht billiger." murrte er. Und dann: „Warum geht das denn nicht?" David drückte mehrmals auf dieselbe Taste des Automaten.
Kittie lugte hinter seinem Rücken hervor, auf den Bildschirm. „Vielleicht weil du da erst auf ‚Bestätigen' drücken musst?" sie kicherte leise und drückte auf den Knopf mit dem grünen Haken. Nun begann der Automat zu rattern, als er ihre Tickets druckte. „Moment, du lachst ja." David hatte seinen Blick vom Automaten abgewandt und sah nun sie an. „Wir können sowieso nichts mehr ändern." sagte sie ernst und schnappte sich die Tickets aus dem Automaten. Trauer hatte ihr noch nie gestanden. Vielleicht hatte sie beim Kellnern gelernt immer zu lächeln, egal welcher widerliche Kerl sie angrapschte. Aber vielleicht auch schon viel früher. „Und jetzt was Essen! Ich hätte Lust auf Burger." verkündete sie.
Sie aßen ihre Burger auf dem Weg zum Bahngleis. Kittie hielt mit einer Hand den Burger, mit der anderen die Tickets. Ihr fiel erst jetzt auf dass die Tickets personalisiert waren. David hatte zwei Namen angegeben: Christoph Hais und Katharina Hais. Sie erhob keinen Einspruch. Die Gurte des Rucksackes schnitten in ihre Schultern und die zwei Taschen über ihrer linken Schulter machten das auch nicht gerade besser. Kittie sehnte sich nach ein bisschen Ruhe. Der Tag kam ihr vor wie eine Woche, angesichts all dessen was passiert war. „Isst du die Gurke nicht?" „Nee, ist mir zu sauer." David schnappte sich die Gurkenscheibe von ihrem Burger. „Jetzt konzentrier dich doch mal! Wir müssen Gleis 15 finden!" Er grinste. „Du hast doch alles bestens unter Kontrolle." Sie schnaubte missbilligend und sah auf die Pfeile an der Wand. „Da ist es!" Sie zog David die Treppe hinauf. Gerade rechtzeitig, denn als sie oben ankamen, fuhr der Zug ein. „Iss bitte auf. Wir nehmen den Burger nicht mit in den Zug." ermahnte David sie.
Freitag, 22:54 Uhr
Kittie sah hinaus in die Nacht. Bis jetzt war noch niemand aufgetaucht um sie zu kontrollieren. Sie hatte bereits den ein oder anderen Bahnangestellten den Gang hinaufgehen sehen, aber noch war niemand in ihr Abteil gekommen. Sie hatte den Rucksack und eine der Taschen neben sich auf den zwei freien Sitzen abgestellt und die Jacke wie eine Decke bis zu ihrem Hals gezogen. „Keine Sorge." David legte sein Buch beiseite und nahm ihre Hände in seine. „Es wird alles gut. Wir fahren in die Schweiz, dort werden sie uns nicht finden. Dann musst du keine Angst mehr haben, Kittie." „Ich..." David lies sie nicht ausreden „Ich weiß, heute war schlimm für dich. Ich weiß, ich hätte besser auf dich aufpassen müssen. Aber so etwas wird nicht noch einmal passieren, das verspreche ich dir." Sie nickte. Dann sah sie wieder nach draußen.
Die Landschaft zog an ihnen vorbei. Dunkle Bäume, Häuser, Straßen mit kleinen leuchtenden Punkten darauf. Obwohl sie wusste, dass es andersherum war, kam es ihr so vor als würde sie stillstehen und die Welt um sie herum würde sich viel zu schnell bewegen. Viel zu schnell um aufzuholen. Viel zu schnell um es überhaupt zu versuchen. Sie gähnte.
Kittie stand mit beiden Beinen auf dem asphaltierten Boden. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, sie lachte und wollte sich zu David umdrehen. Sie wirbelte herum, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah ihn nicht.
Das Auto war nicht da, David war nicht da. Sie drehte sich um die eigene Achse um zu sehen wo er war, aber sie fand ihn nicht. Stattdessen sah sie Männer auf dem Boden liegen. In Blutlachen, mit entsetzlich aufgerissenen Augen. Sie war viel zu weit weg um den Gesichtsausdruck erkennen zu können, aber sie wusste, dass es Furcht war. Furcht gemischt mit Verzweiflung und Überraschung. ‚Ich muss ihnen helfen! Ich muss den Krankenwagen rufen und ich muss die Wunden verbinden!' schoss es ihr durch den Kopf. Sie rannte los.
Tropf, tropf, tropf. Blut dass auf den Boden tropfte. Sie rannte schneller und das Tropfen wurde schneller. Wie eine tickende Uhr. Die Zeit läuft. Das Geräusch musste von einer der Wunden kommen. Sie hatte die Männer beinahe erreicht, da sah sie hinab auf ihre linke Hand. Das Blut troff von ihr hinab. Sie war nicht verletzt, es war nicht ihr Blut. Es war das der Verletzten, der Toten. Mit Schrecken sah sie es durch ihre Finger rinnen, auf den Boden tropfen und eine Pfütze bilden. Dann hob sie die andere Hand. Und sah die blutverschmierte Pistole darin. Kittie schrie auf.
„Kittie!" Sie schreckte hoch und sah in Davids besorgtes Gesicht. Sie spürte den Schweiß auf ihrer Haut. „Du hast nur geträumt. Es ist nur ein schlechter Traum, keine Sorge." Die Abteiltür wurde aufgerissen. Sofort rutschte David einen Sitz weiter um sie zu verdecken. „Alles in Ordnung bei Ihnen?" fragte eine sanfte Stimme. „Oh, ja, meine Tochter hat nur schlecht geträumt. Stimmt's?" „Ja." „Oh, das tut mir leid" erwiderte die Frau vom Bahnpersonal „dann wünsche ich dir jetzt bessere Träume." Dann schloss sie die Tür wieder. Kittie drückte sich tiefer in Davids Arme, in der Hoffnung zu verschwinden.
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