04. Oktober 2016


Dienstag, 11:50 Uhr

Kittie saß vor dem Fernseher, die Beine überkreuzt und schlürfte ihre Limo durch den Strohhalm. David hatte sie ihr bei dem kleinen Bäcker gekauft, bei dem sie gefrühstückt hatten. Kittie hatte die Brille aufgehabt. Sie setzte sie auf wenn sie das Zimmer des Gasthofs verließ und ab sobald sie wieder im Flur stand und sich die Tür hinter ihr schloss. David hatte keinen einzigen Kommentar mehr dazu abgegeben und sie auch nicht. Die Brille war hässlich, daran gab es nichts zu rütteln. Aber das war es nicht, was sie ärgerte. Ihre Haare hätten genauso schrecklich aussehen können, nach dem Färben. Aber da war es etwas anderes gewesen. Denn sie hatte sich allein dazu entschieden, sie hatte sie färben wollen. Aber die Brille war Davids Entscheidung gewesen und deshalb behagte sie ihr nicht.

Sie fühlte sich schlecht, als es ihr klar wurde. Sie nahm noch einen Schluck Limo. Sie war süß, fast schon zu süß, das Orangen-Aroma schmeckte unecht.

War sie egoistisch? Nahm sie keine Rücksicht, setzte immer nur ihren eigenen Willen durch, wie ein kleines Kind? Hatte ihr ehemaliger Chef etwa recht gehabt, war sie eine verzogene Göre? Der Gedanke war ein wenig lustig. Lustig und bitter zugleich. Denn wer hätte sie schon jemals verziehen können? Etwa ihre Mutter?! Sicherlich nicht. Aber dass machte es nicht besser, ganz im Gegenteil. Sie war nicht verzogen und wenn sie eine egoistische Bitch war, dann war das allein ihre Schuld. Dann war sie tatsächlich einfach keine besonders nette Person.

„Ich bin gleich wieder da. Denk daran, wir fahren morgen weiter, also pack am besten schon mal ein paar Sachen zusammen." „Ist gut." David zog sich eine schwarze Jacke über sein Jackett. Sie verstand nicht recht, warum er es immer noch trug. Er war schließlich nicht auf Arbeit. War es seine Art, immer die Fassung zu bewahren? Etwas dass ihm genug Selbstvertrauen gab, allem zu trotzen? „Du lässt niemanden rein, ja?" „Ja. Wo gehst du hin?" „Eine Zeitung kaufen. Und vielleicht etwas zu essen für morgen. Dann müssen wir nicht anhalten." Sie drehte die Lautstärke des Fernsehers leiser. „Warum liest du nicht die Online-Zeitung? Ist doch einfacher. Und kann ich mitkommen?" „Weil..." er nahm den Schlüssel vom Regal neben der Tür „Es einen großen Unterschied macht, ob man etwas Handfestes, Unvergängliches hat, oder nur Datenströme, die sich von einem auf den anderen Tag ändern. Auch wenn sie genauso aktuell sind, sind sie nicht so beständig. Eine gedruckte Zeitung gibt einem ein anderes Gefühl. Und ich mag manchmal Dinge lieber, die für immer bleiben."

Er versuchte bewusst die zweite Frage zu ignorieren, das wusste sie. Also fragte sie nochmal, obwohl sie die Antwort bereits kannte: „Kann ich mitkommen?" Er seufzte und strich sich über die Haare. Nervös. Machte es ihn nervös, ihr ein klares Nein als Antwort geben zu müssen? Befürchtete er sie könne wieder sauer werden? Der Gedanke gab ihr einen schmerzhaften Stich, das wollte sie nicht. So sollte er nicht über sie denken. „Du weißt doch, es ist besser du läufst nicht draußen herum, wenn es nicht nötig ist." „Gut." antwortete sich schlicht.

Als David die Tür geschlossen hatte, regelte sie die Lautstärke wieder hoch. Sie sah auf die digitale Uhr an der Wand hinter ihr. Noch zwei Minuten bis zu den Nachrichten, auf die sie gewartet hatte. Sie griff instinktiv in ihre Hosentasche, um ihr Handy herauszuholen. Dann fiel ihr wieder ein, dass es natürlich nicht mehr da war. Schade eigentlich. Denn das bedeutete auch keine Musik in nächster Zeit. Sie mochte es Musik zu hören, am liebsten mit Kopfhörern. Sie hatte es schon immer gemocht. Einmal hatte Ma das halbe Wohnzimmer zerlegt. Sie hatte mit Flaschen und leeren Dosen gegen die Wand geworfen. Kittie hatte ihre Kopfhörer aufgesetzt und die Musik angemacht. Sie hatte auf dem Boden gesessen und mitgesungen. Und als Ma fertig war, war sie ins Wohnzimmer gegangen und hatte aufgeräumt.

Die Anmoderation der Nachrichten lenkte sie ab. Keine Zeit für schlechte Erinnerungen, sie wollte doch aufmerksam sein. Wenn David wiederkam und sie ihm etwas Neues berichten konnte, würde er stolz auf sie sein.

Sie sagten nichts Wichtiges, kein Sterbenswörtchen über sie. Sie war irritiert. Wie konnte das sein? Würde nicht zumindest eine Meldung kommen, dass die Polizei noch nicht weiter war? Aber der Wetterbericht war gleich durch und danach kamen doch keine Nachrichten mehr. Unruhig drehte sie eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger und ließ sie dann wieder los. Sie würde gleich umschalten und nachsehen ob nicht wenigstens ein anderer Sender etwas brachte.

Kittie hatte die Finger schon auf der Fernbedienung als die blonde Sprecherin lächelnd verkündete: „Im Fall der verschwundenen Katharina haben wir gleich eine Gast hier. Wir freuen uns Herrn Kriminalkommissar Theissen in einer 10-minütigen Sondersendung live im Studio begrüßen zu dürfen. Und damit schalten wir zu meinem Kollegen Alexander Weigel."


Dienstag, 11:05 Uhr

„Ich bin wieder da!" Keine Antwort. Stattdessen vernahm er lautstark den Fernseher. David schloss die Tür hinter ihm, zog sorgsam seine Schuhe aus und stellte sie auf den Fußabtreter. Es hatte zu regnen begonnen. Regen war untertrieben, es war ein richtiges Unwetter. Er öffnete die Tür vor ihm und trat ins Zimmer. Kittie saß vor dem Fernseher und starrte wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Das Fenster neben ihr war angekippt, der Wind pfiff hinein und wirbelte die weißen Gardinen umher. Sie schien es nicht zu bemerken.

„All das sind sehr interessante Details aus Katharinas Leben. Aber in wie weit, haben diese etwas mit der Entführung zu tun? Oder handelt es sich hier vielleicht sogar um etwas ganz anderes?" Der Mann im Fernsehen räusperte sich: „Nun, darüber möchte ich zum Zeitpunkt der Ermittlungen keine genaue Aussage treffen, allerdings haben wir inzwischen genügend Beweise um sicher zu sein dass Katharina entführt wurde." Kittie drehte sich zu ihm. Tränen rannen ihre Wangen hinab, aber sie schluchzte nicht, sie war vollkommen still. „Sie bitten um Mithilfe, sie fragen ob jemand mich auf dem Hinweg zum Hafen gesehen hat. Und sie sagen dass meine Ma sich nicht um mich gekümmert hat... die..." sie verstummte.

„Mach das aus." Er wollte ihr die Fernbedienung wegnehmen, die sie umklammert hielt, aber ihr Griff war eisern. „Nein! Ich will das sehen!" „Kittie, du weinst! Du willst das überhaupt nicht sehen!" „Doch, will ich!" Sie ließ nicht los, die Tränen tropften auf den Boden. „Kittie, bitte gib mir die Fernbedienung. Lass uns darüber reden, ja? Es ist sicherlich nicht so schlimm, wer weiß was sie gefunden haben..."

Er glaubte sich selbst nicht. So ein Unsinn. Wenn sie wussten dass Kittie am Hafen gewesen war, dann hatten sie vielleicht Kamera-Bilder oder jemand hatte sie gesehen. Und dann hatten sie auch ihn. Sie waren sich sicher, dass sie entführt worden war. Und das einzig eindeutige Indiz dafür wäre doch gewesen, man hätte sie mit ihm, ihrem vermeintlichen Entführer, gesehen. Und das musste passiert sein. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er drückte den Ausschalt-Knopf des Fernsehers und sank neben ihr auf den Boden. Kittie machte keine Anstalten, den Fernseher wieder einzuschalten, sie begann jetzt richtig zu weinen.

Er wusste nicht wie lange er dort gesessen hatte. Ein paar Sekunden? Einige Minuten? Die Gedanken drehten sich in seinem Kopf, überschlugen sich und setzten sich zu Bildern zusammen, die er nicht sehen wollte. Dann spürte er einen leichten Druck auf seiner Schulter. Er sah auf. Kittie stand vor ihm, eine Hand auf seiner Schulter, mit der anderen wischte sie die Tränen aus ihrem Gesicht.

„Vielleicht haben sie dich ja nicht. Vielleicht haben sie nur mich gesehen, auf dem Hinweg oder bei den Containern..." sie klang hoffnungsvoll, aber er würde die Hoffnung zerstören müssen. „Doch haben sie. Sonst würden sie nicht sicher von einer Entführung ausgehen. Sie sagen es nicht öffentlich, bitten nicht um Mithilfe mich zu finden, wahrscheinlich weil sie mich nicht aufschrecken wollen. Oder aber sie haben mein Gesicht noch nicht erkannt, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit." Sie seufzte. Ihm fiel auf dass sie so jung aussah, wie sie es tatsächlich war. Sonst war er immer der Meinung gewesen Kittie wirke älter als sie war. Seltsam, dass er das gerade jetzt dachte.

„Tja, sieht so aus, als hätten sich dich. Ist doch toll, jetzt sind wir zwei. Die Mörderin und der Entführer." Er stand auf. „Nur sind wir weder das eine noch das andere. Aber wir werden keine Chance mehr haben jemanden vom Gegenteil zu überzeugen. Niemand wird uns mehr zuhören, mir schon gar nicht." Ihre Hand glitt hinab. „Es reicht wenn wir uns zuhören." antwortete sie.

„Du hattest recht. Es macht doch alles nichts, wir beschützen uns doch gegenseitig. Ich setze die Brille auf. Ich geh nicht mehr raus, wenn du das sagst. Ich mache alles was du willst. Und dann bleiben wir zusammen." „Ja, natürlich."

Er nahm ihre Hand in seine. Sie sah ihn an. Die Augen gerötet, aber leuchtend. Sie lächelte. Sie hatte ihre Entscheidung längst getroffen, es gab nichts mehr zu überdenken, nichts mehr zu zögern. Und nichts mehr was sie verunsichern konnte. Sie war so mutig. Sein kleines Mädchen war so mutig.

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