Kapitel 36
Als ich aufwache, spüre ich Wärme in meinem Rücken und jemand fährt mir durch die Haare. Den! Scheiße! Was hab ich ihm gestern gesagt? Scheiße, ich weiß es nicht mehr.
"...eißt du, meine Mutter vermisst dich wirklich.", spricht seine Stimme im ruhigen, sanften Ton. "Aber natürlich weißt du das. Es gibt jedoch auch was, was du nicht weißt. Und auch nicht erfahren wirst, es sei denn, du sprichst mit ihr. Ich hab ihr nämlich gesagt, dass ich derjenige war, der Schluss gemacht hat." Er lacht kurz. "Ich weiß gar nicht, warum ich das gesagt hab. Obwohl... doch, ich wollte nicht, dass sie auf dich sauer ist. Auf mich kann sie ja eh nicht sauer sein, weil ich ihr einziger Sohn bin. Na ja, aber wenigstens akzeptiert sie Anja. Ach, du stellst dir nicht vor, wie gern ich gestern mit dir geraucht oder getrunken hätte. Aber Anja hat ein Problem damit. Und wenn ich ehrlich bin, auch mit dir. Sie sagt, ich würde zu viel an dich denken. Deshalb hatte ich dir nicht zugewunken. Ja, ich bin ein Arsch, ich hab sofort eine Beziehung mit ihr angefangen, als du unsere abgebrochen hast. Aber ihr seid solche Gegensätze - ich habe das gebraucht, versteh mich bitte nicht falsch. Und genau deswegen muss ich ja an dich denken! Du warst wie immer stürmisch und plötzlich. Ich wusste, dass das bald passieren wird. Ich kenne dich. Ach Emy... Wenn du jetzt wach wärst, hättest du mich rumgeschubst und gesagt, wie blöd ich bin, nicht wahr? Du musst mich wirklich mal wieder um drei anschreiben oder anrufen, um mir mitzuteilen, dass ich ein Idiot bin, okay? Ich werde für dich sogar mal wach bleiben... Ich bin hoffnungslos."
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die Bewegung seiner Hand. Er kennt mich wie ein offenes Buch. Aber offensichtlich kenne ich ihn überhaupt nicht.
Es stellt sich heraus, dass wir gestern doch zu mir gefahren sind. Und dass meine Mutter - und mein Vater sowieso - sonst wo ist.
"Was ist jetzt also mit deinen Eltern los?", fragt Den, während wir beide im Wohnzimmer schweigend Sandwiches essen.
Hab ich ihm gestern etwa erzählt...
"Gar nichts, was soll denn mit ihnen sein?", lüge ich.
Den zuckt die Schultern. "Und in der Schule? Alles super?"
Ich schnaube lässig und lächle selbstzufrieden. "Pff, du kennst mich doch."
Den lächelt wässrig. "Ja. Die Emily ist immer vorbildlich, stark, hat gute Noten und ein immerwährendes Lächeln im Gesicht. So war das doch, oder?"
Ich spüre, wie meine Mundwinkel kurz nach unten zucken. "Ja, genau so." Diese Worte gehören unserer alten Klassenlehrerin. So hat sie mich in der Achten einmal vor dem Direktor verteidigt, als Den, ich und noch paar andere Jungs dafür beschuldigt wurden, mit den Tischen den Ausgang der Klasse versperrt zu haben. Die Emily hätte es nie getan!, meinte sie damals noch voller Überzeugung. Ich war aber wirklich daran beteiligt. Na ja, was heißt beteiligt... Ich war der Initiator des Ganzen. Und es hat mir sogar sehr viel Spaß gemacht. Aber die Beschreibung passte. So war ich immer gewesen, so sahen mich immer alle anderen. Und damit waren alle zufrieden. Nur ich nicht. Nur ich habe das alles gehasst bis zur Weißglut. Doch jetzt... Jetzt ist es eh nicht mehr so. Und ich könnte deswegen heulen. Ich bin auch nur ein Mensch.
"Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.", meint Dennis und steht auf.
Ich merke, wie etwas immer schwerer in mir wird, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet.
Ich stehe ebenfalls auf und folge Den in den Flur, Shiney taucht an der Treppe auf und setzt sich hin, um ihn ebenfalls zu verabschieden.
Er zieht die Schuhe über, öffnet die Tür und bleibt an der Schwelle stehen. "Wir hätten Freunde bleiben können."
Ich schüttele den Kopf. "Nein, Den, diesmal nicht. Stell dich nicht dumm."
"Und du stell dich nicht stur."
"So bin ich halt."
"Ruf mich an, wenn was ist, ja? Meine Nummer ist für dich nicht verboten."
Ich nicke und zucke zu einem Schritt nach vorne, um ihn zu umarmen, entscheide mich jedoch dagegen und verschränke einfach die Arme vor der Brust. Dens Lächeln erschlafft, er dreht sich um und geht weg.
"Grüß Anja von mir, du Idiot.", murmele ich ihm hinterher und schließe die Tür.
Ich rutsche machtlos an ihr entlang zu Boden und es fließen wieder Tränen aus meinen Augen. Shiney kommt zu mir und legt den Kopf in meinen Schoß.
Als ich das nächste Mal mit Jonas unterwegs bin, küsst er mich und ich küsse zurück. Und es ist kein Küsschen, sondern ein KUSS in Großbuchstaben. Ich hatte schon mal gesagt, dass Jonas gut küsst, und auch, dass ich nicht schlechter bin. Aber der Kuss, so leidenschaftlich er auch sein mag, fühlt sich für mich nicht gut an. Nicht annähernd so gut, wie er für mich mit... Den war. Und irgendwie macht es mich wütend auf mich selbst. Ich hab alles versaut, wirklich alles.
Am Montag ruft mich Lisa an und das Erste, was ich höre, ist ihr Schniefen. "Emily..."
"Was ist los?", frage ich besorgt.
"Emily, ich halte das nicht aus."
"Was ist denn los?"
"K- Kommst du bitte zu mir?"
Ich lasse also alles stehen und liegen und mache mich auf den Weg zu ihr. Lisa ist allein zu Hause und als sie mir die Tür öffnet, fällt sie mir sofort um den Hals. Eine Weile stehen wir schweigend da und ich drücke sie fest an mich. Dann gehen wir in ihr Zimmer hoch.
"Sein..." Lisa zittert, fährt sich mit der Hand über die Augen. "Sein Vater ruft Drew nach Hamburg zurück. Ich halte das nicht aus. Er... Er ist sich nicht sicher. Er... Emily, ich sehe, dass er zurück will."
Ich setze mich zu Lisa und lege ihr den Arm um die Schultern, drücke sie wieder an mich.
"Er wird schon nicht ohne dich gehen. Ihr seid schon ein Jahr zusammen, denkst du, er wird dich einfach verlassen?"
"Aber... Fernbeziehung..."
"Nein, Lisa, denk nicht mal dran! Drew liebt dich mehr als sonst was. Er wird dich nicht hängen lassen."
Ich merke, wie mir selbst Tränen in die Augen steigen wollen. Drew liebt sie wirklich über alles. Er wird sie nicht verlassen. Er hat ihr sogar nach unserer Wette verziehen.
"Sprich das Thema an und er wird dir bestimmt sofort versichern, dass er nicht gehen wird." Mit jedem Wort fällt es mir immer schwerer zu sprechen und ich verstehe, dass ich gar nicht mehr so überzeugend klinge.
Lisa lässt mich los und schaut mich mit verweinten Augen an. "Emily?"
Ich lächele sie an und wische mir selbst kopfschüttelnd die Tränen weg. "Alles gut.", wispere ich.
Analisa legt ihre Hand auf meine. "Du darfst mit mir darüber reden." Sie schnieft.
"Und dann heulen wir beide oder was?", lache ich noch immer mit nassen Augen.
Nun lächelt sie auch. "Vor mir aus."
Ich schüttele den Kopf. "Kommt nicht in Frage. Ich bin da, um dich aufzuheitern, und nicht, damit du hier heulst." Ich atme durch. "Ich brauch ein Glas Wein... Und am liebsten eine Kippe oder so... Kommst du mit raus?"
Sie nickt zögerlich und wir verlassen das Haus. Ich ziehe eine Zigarette aus meiner Tasche, ohne die Packung rauszunehmen, und zünde sie an. Lisa sieht mir verwundert zu, während ich an ihr ziehe.
"Seit wann rauchst du?", fragt meine Freundin.
Ich zucke die Schultern. "Du weißt doch, dass ich rauche."
"Gelegentlich.", verdeutlicht sie. "Ich wusste nicht, dass es für dich etwas Tägliches geworden ist."
"Nur wenn ich etwas zu verkraften habe. Ansonsten geht es."
"Und wie oft musst du etwas verkraften?" Ich entscheide mich, ihr nicht zu antworten. "Und warum sprichst du nicht einfach mit mir darüber? Ich heule mich bei dir jedes Mal aus und du lächelst nur brav... Vertraust du mir nicht...?"
"Nein, natürlich vertraue ich dir! Ich... kann es einfach nicht. Ich kann nicht darüber reden."
"Klar, dass du so oft rauchen musst, wenn du alles in dir behältst."
"Ich...", setze ich zögerlich an, überlege mir aber, ob ich es wirklich sagen soll.
"Was denn?", fragt Lisa nach.
Ich betrachte die halb verbrannte Zigarette zwischen meinen Fingern und schmeiße sie dann weg. "Ich rauche erst seit kurzer Zeit ständig. Es ist..." Die Wahrheit will mir nicht über die Lippen kommen. "Es ist, seitdem Den und ich keinen Kontakt zueinander haben. Er hat irgendwie immer gespürt, wenn etwas gerade nicht lief. Und dann" Ich lächele leicht. "hat er mich immer gezwungen, ihm alles zu erzählen."
"Aber du hast doch Schluss gemacht...", erwidert sie vorsichtig.
"Ich weiß. Ich bin unlogisch. Ich habe dir aber schon gesagt, wir zerstören uns nur. Aber... es ändert nichts."
"An was ändert es nichts?"
"An meinen Gefühlen...", gebe ich leise zu.
"Und trotzdem lächelst du und hältst ihn von dir fern und sagst, es könne nichts werden."
"Nicht einmal freundschaftlich.", beende ich und seufze. "Am meisten lächeln die unglücklichsten Menschen, Lisa. Und ich fühle mich bis in den Abgrund unglücklich."
Wir bleiben stehen, umarmen uns wieder, ich schließe die Augen und versinke in ihrer Nähe und Unterstützung.
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Ja, Emily denkt eben, sie tut sich und anderen etwas Gutes, wenn sie sich von ihnen entfernt. Dabei hat sie ja eigentlich eine gute Menschenkenntnis. Ach Mensch...
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