Kapitel 33

Ich entscheide mich, nicht nach Hause zu gehen. Stattdessen schalte ich mein Handy aus und fahre weiter ins Tanzstudio. Den hat schon zweimal versucht, mich zu erreichen. Er hat nicht verstanden, warum ich "uns" abgebrochen habe, und ich habe nicht versucht, es zu erklären. Ich habe ihn gebeten, mir nicht zu folgen und einfach nach Hause zu fahren.
Im Studio schaffe ich es nicht, mir die richtige Musik auszusuchen. Ich sitze vor den Spiegeln mit dem Rekorder und schalte ein Lied nach dem anderen um. Irgendwann nervt es mich so sehr, dass ich einfach mit der Faust auf den Rekorder haue und hochwirbele. Doch diese Musik gefällt mir auch nicht, weshalb ich nicht dazu tanzen kann. Jede Bewegung sieht gezwungen, hart und eckig an, passt nicht in den Takt und außerdem stolpere ich dreimal. Ich haue erneut auf den Rekorder, Tränen kommen mir hoch. Ich mache drei tiefe Atemzüge, schalte die Musik ab und verlasse das Studio. Es bringt eh nichts.
Zu Hause höre ich meine Eltern im Arbeitszimmer meines Vaters diskutieren und stürme die Treppe hoch, weil ich das einfach nicht hören will. Sie streiten sich bereits seit einer Woche über jede Kleinigkeit. Langsam nervt es.

Es vergehen zwei Wochen, wo ich einfach null Kontakt zu Den habe. Er hat mich blockiert und in den Pausen bin ich mit Lisa in unserem alten Klassenraum. Wir reden über alles Mögliche, nur nicht über Dennis. Sie hat nicht einmal versucht, mit mir über meine Gründe zu reden, und dafür danke ich innerlich. Es ist ein Thema, was ich für mich abgeschlossen habe und mit niemandem ausdiskutieren möchte.
Ich schreibe meine Leistungskursklausuren ohne besondere Vorbereitung und ohne jeglicher Lust, mich auf sie vorzubereiten und sie zu schreiben. Ich gehe zwei weitere Male ins Tanzstudio und dann nicht mehr. Was bringt es mir, wenn ich nichts zustande bringe? Es ärgert mich nur.
Jonas schreibt mir nach einem halben Jahr Stille mal wieder. Manchmal schicke ich ihm paar Bilder und er sagt mir dann, wie hübsch ich doch bin und dass mir das und das ja so stehen würde. Ich schlage ihm vor, uns in den Osterferien zu treffen. Seine Antwort ist offensichtlich.
Am Freitag sehe ich Den zum letzten Mal. Ich habe Unterricht und er Schulschluss. Er läuft mit Drew über den Hof und dann schaut er auf einmal über die Schulter und zu mir hoch. Mein Herz macht einen Sprung, doch ich wende meinen Blick nicht ab. Zwei Wochen lang hat er nicht zurückgeschaut. Er hat mich genauso gemieden wie ich ihn. Ich bemerke, wie seine Hand zuckt, da er mir wahrscheinlich aus Instinkt zuwinken wollte, und dann dreht er den Kopf weg. Es bildet sich ein Kloß in einem Hals.
"Emily, konzentrieren Sie sich auf die Aufgabe.", spricht plötzlich meine Mathelehrerin zu mir und mein Blick zuckt zu ihr. "Aus dem Fenster können Sie dann in der Pause schauen."
"Entschuldigung.", erwidere ich leise und senke den Kopf, starre ins Buch und auf mein leeres Blatt, bis Schrift und Karo verschwimmen.
Er hat zurückgeschaut und wollte mir zum letzten Mal zuwinken. Aber er hat es nicht getan. Und jetzt werden wir uns nicht wieder sehen. Und auch nicht wieder schreiben.

In den Ferien treffe ich mich öfters mit Lisa und wir gehen shoppen, essen oder einfach nur durch die Stadt spazieren. Eines nachts lösche ich mit zitternder, unsicherer Hand mein Instagram Profil und deinstalliere Snapchat. Ich will keine Nachrichten mehr löschen, die in mir nur Ekel hervorrufen. Ich will nicht mehr sehen, wie mich jemand beleidigt oder sich an mich mit perversen Ideen heranmacht. Es ist einfach widerlich und mir wird immer übel davon. Wie können Menschen nur so sein? Wieso können Menschen so sein?
Sofort ruft mich Analisa an und fragt was los wäre, denn mein Instaprofil wäre verschwunden. Ich spiele ihr Ärger vor und sage, mein Passwort wurde gehackt.
Irgendwann treffen wir uns endlich wieder mit Jonas. Wir umarmen uns zur Begrüßung und... Nein, ich bilde mit das nur ein.
"Weißt du, ich habe den perfekten Ort, wo wir hinfahren können.", meint er und lächelt.
"Ach echt?", erwidere ich ebenfalls lächelnd. "Und wohin?"
"Betriebsbahnhof Pankow. Warst du da schon mal?"
"Ehm... Nein, glaub nicht."
"Ha, super. Dann wird es die perfekte Mutprobe."
"Mutprobe?" Ich lache. "Nicht dein Ernst. Ist ja richtig romantisch."
"Lach ja nur. Die Location ist cool."
Also fahren wir zum Betriebsbahnhof Pankow. Schon bei Einfahrt bemerke ich ein runtergekommenes Gebäude, wo mich Jonas offenbar hinbringen will. Auf der Brücke über der S-Bahn  wird mir der Ausmaß der "Location" deutlich. Es ist riesig. Und alles ist verlassen. Der Zaun, der das Gelände umzäunt, ist an einer Stelle zurückgeschoben worden, wodurch wir keine Probleme haben, hinein zu gelangen.
"Und was ist mit der Polizei?", frage ich.
"Guck mal, das Tor ist offen, also machen wir es offiziell.", grinst er und greift nach meiner Hand, um mich weiterzuziehen.
Wir klettern zuerst in ein rundes, einstöckiges Gebäude, Jonas hüpft ein wenig auf Balken herum, die über den lockigen, mit Wasserpfützem versehtem Boden gelegt wurden, ich laufe um zerbrochenes Glas herum, um in einen offenen Nebenraum hereinzuschauen. Dann kämpfen wir uns durch Bäume und Streuche zum vierstöckigen Hauptgebäude durch.
"Wir gehen jetzt da hoch.", sagt Jonas zu mir und zeigt mit dem Finger aufs Dach.
"Nie im Leben", grinse ich. "Willst du mich da runterschubsen oder was?"
Er lacht. "Ja klar."
Er greift wieder mach meiner Hand und zusammen gehen wir zum Haus mit fehlenden Fenstern und dort die Treppe hoch. Zum Dach führt eine unstabile Stahlleiter, die einfach an eine Dachlücke angelehnt wurde.
"Ich klettere da jetzt echt nicht hoch.", schüttele ich den Kopf und deute auf meinen kurzen Rock. "Nicht darin."
"Dann zieh ihn aus." Jonas lacht, ich lächele nur. "Okay, dann bleibst du hier unten halt allein."
Und dann schiebt er mich zur Seite und klettert die ersten Stufen hoch. Die Leiter zittert vor und zurück.
"Nein, warte, das ist nicht dein Ernst.", beeile ich mich zu sagen. "Und wer wird sie festhalten?"
"Tja, ich nicht." Er klettert weiter.
"Warte! Ist okay!", gebe ich mich geschlagen und seufze. Arschloch.
Er klettert runter und umfasst die Leiter fest mit den Armen. "Na dann hoch mit dir."
Ich seufze erneut und klettere hoch. So ein Arschloch. Mir wird heiß im Gesicht, weil mir die Situation so peinlich und unangenehm ist. Er hat jetzt eine schöne Aussicht auf meinen Arsch im Spitzentanga. Arschloch.
Dann klettert Jonas selbst aufs Dach. Er läuft herum und spricht davon, wie schön es hier doch ist und wie weit man blicken kann. Es stimmt.
Ohne es zu bemerken, nähere ich mich dem Dachrand. Ich stehe so hoch. Ein einziger Schritt könnte den ganzen Lauf meines Lebens verändern. Wie es sich wohl anfühlen müsste, sich von hier runter zu stürzen... Wie sich wohl der Aufprall anfühlen müsste... Würde man überhaupt überleben können? Oder würde man sofort sterben?
"Scheiße, Polizei!", ruft Jonas plötzlich aus und seine Hände landen auf meinen Armen. Er zieht mich zur Dachlücke. "Komm, Emily, schnell! Runter!" Auf seinem Gesicht leuchtet ein begeistertes Lächeln.
Ich blinzele mehrfach und dann wird mir die Situation klar. Wir sind auf einem verlassenen Gelände, das man nicht betreten darf. Und es kommt gerade die Polizei zu uns. Scheiße. Ich gebe Gas.
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Nur noch sechs Kapitel, Leute... Irgendwie voll schade... Was heißt irgendwie - ich weiß ganz genau, warum ich die Story nicht beenden will. Aber dazu werde ich ganz am Ende was schreiben.

Genießt die letzten Kapitel, meine Lieben.

Morgen muss ich um halb sieben aufstehen, obwohl es Samstag ist. Deshalb liege ich jetzt schon - um zwanzig vor eins! - im Bett.

Schöne Tageszeit noch
Eure Once

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