Kapitel 30
Am nächsten Morgen werde ich von einem sanften Rütteln aufgeweckt.
"Em, mein Arm ist taub...", flüstert Den.
"Mein Beileid.", erwidere ich schläfrig und drehe mich zu ihm um, sodass ich noch weiter vorne auf seinem Arm liege.
"Würdest du ihn mir freigeben?"
Ich öffne ein Auge und schaue in sein Gesicht. Die halb geschlossenen Augen sind braun und dunkler als sonst, weil die Vorhänge zugezogen sind und wir im Halbdunkeln liegen. Die obere Wange hat leichte Abdrücke, also musste er zuerst lange auf der anderen Seite gelegen haben, bevor er sich umgedreht hat und ich mich auf seinen Arm gelegt habe.
"Nein, ich habe Recht darauf.", entgegne ich und schließe das Auge.
"Ich habe aber mehr Recht darauf."
"Wer sagt das?"
"Ich."
"Ich kann auch vieles sagen. Aber stimmt denn alles, was ich sage?", brumme ich.
"Emily... Du willst bestimmt keinen einarmigen Freund."
"Ach, das ist mir ziemlich egal. Man soll mehr Wert auf das Innere legen als auf das Äußere, Dennis."
Er schnaubt lachend. "Na dann viel Glück in einer Beziehung mit einem Penner."
"Arschloch.", lächle ich.
Er gibt mir sacht einen Kuss auf die Stirn. Ich hebe den Kopf an und er zieht mit einem erleichterten Seufzer den Arm darunter hervor. Dann schlafe ich wieder ein.
Wir schlafen ungewöhnlich lange - bis zwölf. Dann stehen wir auf und frühstücken mit Dens Eltern. Ich mache mich fertig, kommandierte Shiney zu mir und wir fahren nach Hause. Ich muss heute ja noch zu Lisa. Unglaublich, ich habe Dennis ernsthaft noch einmal nachgegeben... Wie geht das?! Warum?! Ich weiß es doch besser! Wir werden doch wieder streiten und nach einem Monat die Beziehung beenden! Warum - Warum bin ich so erleichtert, dass es zwischen Vanessa und Den nicht geklappt hat? Dann hätte er zumindest ein Paar, bei dem das Zusammensein nicht so aussichtslos wäre. Ich habe echt einen hohlen Kopf. Aber Den ist... Er ist mir in letzter Zeit so wichtig geworden... Ich gebe es zu! Ich bin... Mann, es ist ja okay, dass ich mich selbst bemitleide und es mir so scheiße geht, aber durch meine Entscheidung wird es auch Den wieder scheiße gehen. Ich bin echt rücksichtslos. Ach, ich Hohlkopf.
Zu Hause schalte ich das Radio an, während ich dusche und meine Tasche neu packe. Bei Lisa zu Hause ist es immer wärmer als bei Den, also nehme ich mir diesmal Top und Shorts aus Fake-Samt anstatt eines T-Shirts mit Jogginghosen. Und dann gibt es Nachrichten im Radio. Ich sinke auf mein Bett und starre den Lautsprecher an, dem die Informationen entkommen. 3588... Das ist die Flugzeugnummer meiner Eltern... War...
“Scheiße...", sage ich ausdruckslos.
Scheiße. Scheiße! Sind sie - ? Nein, es kann nicht sein... Es konnte nicht. Wie soll ich dann - ? Was soll aus mir - was soll werden? Ich... Nein. Nein, nein, nein. Ich glaub's nicht.
3588. Ich merke, wie der Kloß in meinem Hals wächst und sich mir der Bauch umdreht. Mit zitternden Händen greife ich nach meinem Handy. Handy. Entsperren. Ich muss den Code eingeben. Nein, es konnte nicht sein. Ich glaube es nicht.
Dreimal verfehle ich eine - oder vielleicht auch mehrere Ziffern. Dann suche ich in meiner langen Kontaktliste nach der Nummer meines Vaters. Warum hab ich so viele Kontakte? Wer sind all die Leute überhaupt? Typen von der Straße, Eintagsfreunde - wozu brauch ich ihre Nummern? Mein Vater - wo ist seine Nummer?!
“Oh Gott...“, murmele ich mit belegter Stimme.
Da sehe ich endlich seinen Kontakt und drücke fast euphorisch drauf. Es klingelt. Es klingelt. Es klingelt. Es klingelt. Scheiße! Es klingelt. Mein Zittern verstärkt sich. Ich drücke mit aller Kraft das Handy ans Ohr und merke gar nicht, wie weh das eigentlich tut. Es klingelt weiter. Ein verzweifeltes Wimmern entkommt mir von den Lippen. 3588 ist abgestürzt. Bis jetzt wurden keine Lebenden gefunden.
Unter panischem Zittern nehme ich das Handy vom Ohr und drücke den roten Knopf. Der Kontakt meiner Mutter war weiter oben - ich scrolle hoch. Es klingelt. Es klingelt. Es klingelt.
“Emily!“
“Mama?“, frage ich mit einer dünnen Stimme.
“Na sicher doch.“, lacht sie entspannt. “Hast du dich verwählt?“
Ich atme alle Luft aus, die ich angehalten habe, als mir ein tonnenschwerer Stein vom Herzen fällt, und Tränen der Erleichterung treten aus meinen Augen. Sie leben! Ich kann nicht mehr aufhören zu weinen.
“Nein.“, antworte ich. “Wo - Wo seid ihr?“
“Eh“, sie lacht schon wieder. Meine Mutter lacht. Es geht ihr gut. “Dein Vater und ich haben heute unseren Flug verpasst. Wir kommen also später an als geplant.“
“Mama“, meine ich dann tonlos. “Euer Flugzeug ist heute abgestürzt. Es gibt keine Überlebenden.“
Meine Mutter schweigt eine ganze Weile und ich höre allein das Ticken der Uhr hinter mir. Sie scheint gar nicht mehr zu atmen.
“Keine Überlebenden?“, fragt sie bestürzt nach.
Ich mache ein verneinendes Geräusch und wische mir mit einer Hand die Tränen weg.
“Gütiger Himmel...“
"Mama?"
"Ja, Emily?"
Ich seufze noch immer zitternd. "Ich liebe euch."
"Wir dich auch, Süße." Sie legt auf.
Meine Hand mit dem Handy sinkt mir in den Schoß. Sie leben. Sie leben! Scheiße, Gott sei Dank, meine Eltern leben!
Als ich bei Lisa bin und die Zeit bereits gegen die Nacht anstrebt , erzähle ich ihr von dem Flugzeug und meinen Eltern und sie hört mir entsetzt zu. Dann lenke ich das Gespräch in eine andere Richtung, bis wir irgendwie bei Den ankommen.
"Du wirst mir nicht glauben.", lache ich.
"Du erzählst schreckliche Dinge, also ist es normal.", erwidert sie grinsend, aber es hört sich auch ein wenig an, als würde sie mich anfahren. "Sag schon."
"Wir sind wieder mit Den zusammen."
Meiner Freundin fällt fast schon die Kinnlade bis zum Boden. "Als obbb! Nicht wahr!"
Ich lache wieder und zucke die Schultern. "Na ja, er meinte, mit Vanessa war von Anfang an keine Beziehung in Sicht."
"Und du hast wieder einfach zugestimmt, mit ihm zusammen zu sein? Ich dachte, du meintest, es würde nichts aus euch werden."
"Sagen wir mal, es war einfach nicht der Augenblick, wo ich hätte nein sagen können."
"Und dann behauptest du, du würdest Den nicht mehr lieben?"
Ich zucke mit den Schultern. "Das ist... schwer zu erklären, Lisa. Den ist mir sehr, sehr wichtig geworden. Und ja, ich kann es nicht ausstehen, daran zu denken, er könnte etwas mit einem anderen Mädchen haben. Aber wir beide haben keine Zukunft. Ich sag's dir, in einem Monat sind wir wieder nur beste Freunde und nichts mehr."
"Aber er liebt dich doch. Und du... ihn auch?"
"Liebe tut nichts zur Sache. Wie lange hält Liebe an, wenn zwei Menschen sich ständig sehen, ständig zusammen sind, über Jahre? Wie oft geht man nach der Schule so unterschiedliche Wege, dass Liebe verblasst? Wie oft spielt der große Abstand dem Paar einen Streich? Wie oft gibt man einen Menschen auf, um ihn in sicherer Zukunft zu wissen?" Sie schweigt betrübt und ich senke den Blick. "Es wird nicht klappen und ich werde daran schuld sein."
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