5 Ein leeres Bett
Als es Zeit zum Schlafen war, hatte sich Tiny noch immer keinen Reim auf die Begegnung mit Joe machen können. Er war verwirrt, nervös und brauchte etwas Abstand, um nachzudenken.
Was er außerdem brauchte, war der Rat seiner besten Freundin, also bat er Kathryn, heute bei ihr schlafen zu dürfen.
Darüber war diese mehr als überrascht, denn die Zwei hatten bereits seit langer Zeit nicht mehr im selben Bett übernachtet. Das letzte Mal war unmittelbar nach Elizabeths Tod gewesen, als Kathryn es einfach nicht ausgehalten hatte, allein in dem großen leeren Bett zu bleiben. So war sie einfach in Tinys Zimmer geschlichen und unter seine Decke gekrochen.
Tiny musste also etwas sehr wichtiges auf dem Herzen haben und sie war neugierig, was das war. Vielleicht hatten Joe und er sich gestritten?
Und so lagen Kathryn und Tiny schließlich im Licht der Öllampe nebeneinander und sie war überrascht zu sehen, wie nervös ihr Freund wirkte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie Tiny in all' den Jahren, die sie ihn kannte jemals nervös erlebt hatte und musste dies verneinen.
Seltsam, dachte sie. Was ging hier vor?
Endlich begann Tiny zu sprechen:
„Ich habe heute mit Joe geredet, über das, was in jener Nacht zwischen ihm du seinem Vater geschehen ist." leitete er seine Erzählung ein.
Er ließ den Kuss vorläufig noch aus, doch alles andere, die Gewalttätigkeit des Vaters, welche schließlich in Joes Notwehr mündete, führte er detailliert aus.
Kathryn war über das Gehörte offensichtlich sehr erschüttert:
„Wie furchtbar! Dieser arme Junge!" sagte sie schließlich betroffen: „Und ich dachte schon, ICH hätte ein übles Exemplar von Vater erwischt. Aber wieso hat sein Vater ihn überhaupt angegriffen? Was zum Teufel, kann jemanden bloß dazu treiben, sein eigenes Kind totschlagen zu wollen? Das ist doch einfach unvorstellbar!"
Nun kam für Tiny der weitaus schwierigste Teil der Geschichte. Er fasste ein wenig Mut und berichtete schließlich, was im Anschluss an Joes Erzählung geschehen war; wobei er es allerdings vermied, seiner Freundin in die Augen zu blicken. Kathryn riss überrascht die Augen auf und fragte dann amüsiert:
„Wie bitte? Er hat dich wirklich geküsst? Mutig...und ein bisschen dramatisch, wenn du mich fragst. Aber warum hat er nicht einfach gesagt, dass er Männer mag?"
„Vielleicht fehlten ihm dafür ja einfach die richtigen Worte." meinte Tiny und fuhr dann leicht gekränkt fort: "Und möglicherweise wollte er mich ja auch einfach küssen. Ist das wirklich so schwer vorstellbar?"
Nun lag so etwas wie Trotz in Tinys Stimme und den, dessen war Kathryn sich vollkommen sicher, hatte sie unter Garantie noch nie an ihrem Freund erlebt. Kathryn schüttelte den Kopf und legte Tiny liebevoll eine Hand auf den breiten Oberarm:
„Nein! Das ist überhaupt nicht schwer vorstellbar. Ich habe es auch mal getan, falls du dich erinnerst."
„Oh ja, ich erinnere mich." antwortete er schüchtern und schmiegte sich eng an seine Freundin. Sie legte einen Arm um ihn.
Nach einer kurzen Pause nachdenklichen Schweigens fuhr Tiny fort:
„Und dieser heute war der zweite Kuss meines Lebens. Ist das nicht vollkommen lächerlich?" Er schüttelte über sich selbst den Kopf: "Hast du das gewusst?"
Kathryn blickte den Freund liebevoll und auch ein wenig traurig an:
„Ich hatte es vermutet. Ich meine, du hättest sicherlich etwas gesagt, wenn es irgendwann jemanden gegeben hätte, oder?"
„Hätte ich wohl." stimmte Tiny zu und fuhr fort: „Es hat eben nie die richtige Person gegeben, beziehungsweise..." und nun zögerte Tiny unsicher: „... beziehungsweise war die einzige Person, an die ich je auf diese Weise gedacht hatte nicht erreichbar für mich."
Bei dieser letzten Äußerung warf er Kathryn einen vielsagenden Blick zu und mit einem Mal wurde damit eine Frage beantwortet, die Kathryn zum Wohle ihrer Freundschaft nie zu stellen gewagt hatte.
Seltsam, dass er ausgerechnet jetzt damit herausrückte. Und da wurde Kathryn klar, dass sich etwas geändert haben musste:
„Der Kuss heute hat dir gefallen, oder?"
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und Kathryn grinste breit.
Verlegen wich Tiny ihrem Blick aus. Nach einigem Zögern meinte er schließlich:
„Ich weiß doch gar nicht, ob IHM der Kuss irgendetwas bedeutet hat."
„Dann musst du mit ihm sprechen und es herausfinden!" entgegnete Kathryn bestimmt.
Tiny blickte sie an, wie ein waidwundes Reh:
„Aber Kathryn! Diese ganze Sache ist doch total verrückt! Ich bin fast doppelt so alt wie Joe. Der Junge ist neunzehn Jahre alt und ich bin ein erbärmlicher fünfunddreißigjähriger Mann, der gerade soeben den zweiten Kuss seines Lebens erhalten hat. Er ist doch noch ein halbes Kind!"
Kathryn blickte Tiny nachdenklich an:
„Erstens, " begann sie: „ Wir sind vierunddreißig, Bruder! Unser Geburtstag ist erst im nächsten Monat, also mach' uns nicht älter! Zweitens: Du bist überhaupt nicht erbärmlich, sondern großartig, liebevoll und schon viel zu lange allein! " Kathryn richtete sich im Bett auf, wie, um die Wichtigkeit ihrer folgenden Worte zu unterstreichen: „Und nun kommt Drittens und jetzt pass' gut auf!" Im Sprechen schwenkte Kathryn wichtig den Zeigefinger: „Joe ist alt genug, um zu heiraten, eine Familie zu gründen, einen Job zu haben oder in den Krieg zu ziehen. Damit ist er ja wohl auch alt genug, zu entscheiden, wen er küssen möchte. Ich schlage vor, wir schlafen jetzt erst mal. Und morgen früh wirst du wissen, wie es weitergehen soll. Einverstanden?"
Tiny nickte gehorsam und küsste sie auf die Stirn:
„Ich liebe dich Katy"
Sie musste lächeln, denn so hatte er sie seit Kindertagen nicht mehr genannt:
„Ich liebe dich auch Tommy."
Und bevor sie beide Arm in Arm einschliefen, sagte sie noch:
„Eines ist nun ganz klar! Unser Joe ist einer von uns; ein Flüchtling und Außenseiter!"
Joe hatte gehofft, dass er Tiny später am Tag alles erklären und sich entschuldigen könnte, doch dieser war ihm ausgewichen und nicht einmal zum Schlafen war er in sein Zimmer zurückgekehrt. Im Grunde hatte Joe auch nicht gewusst, was er hätte sagen können. Er war vollkommen verwirrt! Hatte er die Freundlichkeit und Fürsorge Tinys in den letzten Wochen falsch verstanden?
Aber hatte dieser nicht auch seinen Kuss erwidert?
Doch was sollte ein erwachsener Mann wie Tiny in einem Jungen wie ihm schon sehen?
Er hatte wahrscheinlich einfach nur Mitleid gehabt und sich deshalb um ihn gekümmert.
Jetzt hasste er ihn bestimmt!
Joe wusste, dass er anders war, als andere Männer. Vielleicht war er ja der Einzige, der so empfand?
Das mit Lucas war schließlich auch bloß eine Fehleinschätzung von ihm gewesen. Und nun lag Tiny im Bett von Kathryn!
Vielleicht lachten sie gerade über ihn?
Oder sie liebten sich?
Und er war zu einem Leben in Einsamkeit verdammt, weil er ganz einfach krank war. Etwas an ihm war von Grund auf falsch und sein Vater hatte das ganz richtig erkannt!
Als der Morgen graute, wusste Joe, was er zu tun hatte.
Tiny hatte in dieser Nacht nicht gut geschlafen und erwachte mit dem ersten Hahnenschrei. Wie Kathryn prophezeit hatte, war es ihm gelungen, eine Entscheidung zu treffen und darum hielt ihn nun auch nichts mehr im Bett.
Leise, um Kathryn nicht zu wecken, stand er auf und ging hinüber zu seinem eigenen Zimmer. Er klopfte sacht an und trat ein, doch zu seiner Überraschung fand er es leer vor. Sein Blick schweifte durch den Raum und fiel dabei zufällig auch aus dem Fenster. Draußen konnte Tiny Joe ausmachen, welcher sich vom Haus entfernte, als sei der Teufel hinter ihm her.
Er eilte die Treppen hinunter, aus dem Haus und dem jungen Mann hinterher. Als er ihn beinahe eingeholt hatte, rief er seinen Namen, doch Joe setzte seinen Weg unbeirrt und dafür lediglich etwas schneller fort. Tiny rannte nun und mit einem Satz nach vorn gelang es ihm schließlich, Joes gesunden Arm zu packen und den jungen Mann zu sich umzudrehen:
„Was machst du hier, du Verrückter! Zum Teufel, es ist gefährlich für dich hier draußen!" rief Tiny ärgerlich und atemlos.
Joe gelang es nicht, Tiny anzuschauen. Er schlang die Arme um den eigenen Körper, heftete sein Kinn fest auf seine Brust und war dabei ein lebendes Abbild des Elends:
„Es tut mir leid, was ich da gestern gemacht habe!" antwortete er: „Ich hätte das wirklich nicht tun dürfen. Aber keine Sorge! Ich verschwinde und du musst mich nie wieder sehen. Sag' den Anderen Danke von mir!"
Tiny griff nach der Hand des jungen Mannes und fragte sanft:
„Was tut dir leid? Der Kuss etwa? Mir tut er nämlich nicht leid!" Und dann fügte er hinzu: „Bitte bleib! "
Nun blickte Joe wie vom Donner gerührt zu Tiny auf und forschte in dessen Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er ihm nur etwas vormachte:
„Aber ich dachte...ich meine...wirklich?" stotterte Joe ungläubig:
„Ja, wirklich! Und jetzt lass uns endlich zurückgehen, ehe dich jemand sieht. Bitte!" entgegnete Tiny nachdrücklich und zog Joe in Richtung des Hauses.
Der Junge folgte ihm und kaum hatten sie die Haustür hinter sich verschlossen, zog Tiny Joe zu sich heran und sie küssten sich erneut, schüchtern zwar und ein wenig steif, aber dafür bewusster, sanfter und ausgiebiger als gestern. Dann huschten sie die Treppe hinauf, verschwanden in Tinys Zimmer, verschlossen die Tür und die Vorhänge, damit nichts ihr Zusammensein stören konnte und fuhren dort damit fort, einander zu küssen.
Schließlich versuchte Joe sanft Tiny in Richtung Bett zu schieben, doch nun zögerte dieser plötzlich.
„Ist etwas nicht in Ordnung?" fragte Joe, nun wieder verunsichert: „Willst du lieber doch nicht?"
Tiny, der nicht wusste, was er sagen sollte, blickte nervös zwischen dem jungen Mann der Schlafstätte hin und her.
Joe erriet das Problem:
„Hast du das hier denn noch nie getan?" wollte er wissen.
Tiny überlegte, wie er darauf antworten sollte, ohne sich vollkommen lächerlich vorzukommen und schüttelte stattdessen lediglich den Kopf.
Joe versicherte:
"Ich glaube nicht, dass es so viel anders ist, als mit einer Frau."
Tinys Blick verfinsterte sich noch weiter und Joe fragte ungläubig:
„Also auch keine Frauen? Aber... du bist doch erwachsen! Und du lebst in einem Haus wie diesem. Wirklich noch nie...?"
Tiny bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen und wünschte, dass sich vor ihm der Erdboden auftun möge.
In diesem Moment geschah es, dass die beiden Männer für einen kurzen Moment ihre Rollen tauschten: Der verletzte und unsichere Junge begann plötzlich, sich stark und beschützerisch zu fühlen.
Er setzte sich auf das Bett und klopfte auf den Platz neben sich:
„Hab' keine Angst, Tiny! Setz' dich einfach zu mir und dann reden wir darüber, in Ordnung?"
Tiny folgte der Aufforderung unsicher und beinahe schüchtern. Joe begab sich in den Schneidersitz und blickte ihn aufmerksam an.
„Warum nennen sie dich eigentlich Tiny?" wollte er wissen und erreichte mit der Frage, dass Tiny sich ein wenig entspannte. Und dann erzählte der Ältere davon, wie er den Namen als schmächtiger Junge erhalten hatte und er dann schließlich an ihm hängengeblieben war.
„Dein wirklicher Name gefällt mir besser. Ich werde Thomas nennen." entschied Joe.
Tiny nickte und wirkte damit sogar sehr zufrieden. Schließlich begann Joe zu erzählen:
„Bei mir war es Lucas! Ich habe dir ja schon erzählt, dass wir zusammen aufgewachsen sind und irgendwie jede freie Minute miteinander verbracht haben. Und als er mich dann eines Tages zum ersten Mal geküsst hat, war es gar nicht merkwürdig für mich, sondern irgendwie ganz logisch, normal und schön. Wir haben aufgepasst, dass niemand uns entdeckt, haben uns an geheimen Orten getroffen, um zusammen zu sein, aber mein Vater hat uns eines Tages dennoch erwischt. Unsere Freundschaft war ihm wohl schon länger verdächtig vorgekommen und so ist er mir irgendwann gefolgt."
Bis hierhin hatte Tiny still und aufmerksam zugehört, doch nun beschäftigte ihn doch eine dringende Frage:
„Aber wo ist Lucas jetzt? Warum ist er nicht hier bei dir."
Als Tiny den verzweifelten Ausdruck auf Joes Gesicht erblickte, bereute er es sogleich überhaupt gefragt zu haben.
Joe erwiderte:
„Nachdem das mit meinem Vater passiert ist, bin ich natürlich als erstes zu Lucas geflüchtet. Ich wollte, dass er mir hilft und mit mir kommt. Ich war sehr überrascht, als Lucas mir mitteilte, dass er bereits alles wisse. Er wusste es schon, bevor es passiert war, denn mein Vater und seine Freunde sind zuerst bei ihm gewesen; betrunken und streitlustig! Lucas hat ihnen erzählt, dass alles meine Schuld gewesen sei und er das mit uns nie gewollt habe. Er wollte seine eigene Haut retten, verstehst du? Aber dann war es wiederum auch beinahe so, als habe er in dem Moment selbst daran geglaubt. Ich habe gedacht, er würde etwas für mich empfinden, mich vielleicht sogar lieben, aber er hat mich noch nicht einmal gewarnt, dass ich mich in Gefahr befinde. Ich hatte Schmerzen, habe geblutet und er erklärte mir dennoch bloß, dass ich verschwinden und ihn in Frieden lassen sollte und knallte mir die Tür vor der Nase zu."
Joe schluckte schwer und Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er fortfuhr:
„Ihm habe ich mehr vertraut, als jedem anderen Menschen, doch er hat mich verraten und nichts getan, um mich zu schützen, oder mir zu helfen."
Nun weinte Joe wirklich und Tiny zog ihn in seine Arme und hielt ihn fest:
„Das tut mir sehr leid!" flüsterte er.
Die beiden Männer saßen eine ganze Weile so da, bis Joe schließlich tief Luft holte, sich die Tränen abwischte, die Schultern straffte und nachdrücklich erklärte:
„Aber das ist nun vorbei und ich bin hier bei dir."
„Ja, das bist du!" antwortete Tiny: „ Und du bist sicher hier!"
„Ich weiß!" erwiderte Joe. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Er legte seine unversehrte Hand in die große Hand Tinys und fuhr fort: „Aber du bist auch sicher bei mir, Thomas!"
Er setze sich rittlings auf dessen Schoss, lächelte auf ihn hinab und küsste ihn, während er langsam damit begann begann, ihm sein Hemd aufzuknöpfen.
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