26Wolf in Gefangenschaft

Molly, Regine, Shy, Melody und Kathryn betraten von Alice angeführt die Scheune und scharten sich sogleich um den gefesselten Bob Carmichael. Dieser hatte sein Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt.

„Wieso ist er nackt?" wollte Kathryn wissen.

Shy trat an Gefesselten heran, packte ihn grob an den Haaren, hob den herabhängenden Kopf hoch, blickte in sein Gesicht und fragte kaltschnäuzig:

„Ich will viel lieber wissen, wieso er immer noch lebt? Warum vergraben wir ihn nicht im Gemüsebeet und haben unsere Ruhe vor ihm? Dann dient sein verrottender Körper immerhin noch als Dünger und seine Existenz war nicht vollkommen sinnlos!"

Als Margarete antwortete, klang sie ein wenig benommen:

„Er lebt, weil ich noch nicht mit ihm fertig bin! Und er ist nackt, weil ich will dass er begreift, was Verletzlichkeit bedeutet!"

„Wie habt ihr es überhaupt geschafft, ihn zu überwältigen?" wollte Molly wissen.

Margarete stieg von ihrem Fass herunter, trat neben Alice und erklärte:

„Das war dieses Mädchen hier!"

Alice schüttelte den Kopf und erwiderte bescheiden:

„Stimmt nicht! Er hätte mich besiegt, wenn du ihm nicht eins übergebraten hättest!"

Kathryn deutete mit dem Kinn auf Carmichael und fragte:

„Und wie soll es nun mit ihm weitergehen?"

„Er bleibt erst mal dort hängen!" erwiderte Margarete: „Er gehört jetzt mir und ich weiß noch nicht genau, was ich mit ihm anfangen werde! Ich bleibe zunächst einmal hier bei ihm sitzen, bis er aufwacht."

„Sind die Fesseln denn auch stramm genug?" fragte Kathryn sorgenvoll.

Margarete nickte und erwiderte:

„Lasst mich nun bitte eine Weile mit ihm allein. Und keine Sorge, ich passe schon auf ihn auf!"

„Dann hole ich dir aber meine Flinte zur Sicherheit!" meinte Kathryn.

Margarete schüttelte den Kopf und erhob das Messer, welches Carmichael mitgebracht hatte. Ihr Blick war glasig und ihre Stimme klang stumpf, als sie antwortete:

„Nicht nötig! Ich habe das hier!"

Sie wirkte eigenartig abwesend und die Frauen waren ratlos, wie sie mit der Situation umgehen sollten, doch schließlich folgten sie einfach ihrem Wunsch und zogen sich zurück.

Zuletzt war nur noch Melody bei ihrer Schwester, blickte stirnrunzelnd zu ihr hinüber und erkundigte sich ängstlich:

„Bist du sicher, dass du weißt, was du tust, mein Liebes?"

Margarete zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Wahrscheinlich nicht, aber ich kann auch nicht anders!"

„Was versprichst du dir denn bloß davon, dich ihm noch einmal auszusetzen?" bohrte Melody nach:

„Ich muss es verstehen! Ich muss wissen, warum mir das passiert ist, warum er mir das angetan hat!" erwiderte sie tonlos:

„Bitte erwarte von diesem Bastard nicht, dass er dir nachvollziehbare Antworten geben kann. Er ist doch total irre!" forderte Melody ernsthaft.

Margarete nickte:

„Das weiß ich, aber vielleicht kann ich seinen Irrsinn verstehen, mit der Sache abschließen und werde dann endlich wieder frei von ihm sein." Sie schwieg nachdenklich und fügte hinzu: „Vielleicht tue ich nicht das Richtige, aber irgendetwas muss ich tun, sonst werde ich noch genauso verrückt wie er. Bitte verschwinde jetzt, Schwesterchen!"

Melody nickte und küsste ihr Ebenbild auf die Stirn, ehe auch sie die Scheune verließ. Sie ließ allerdings das Tor offen stehen und kauerte sich in der Nähe auf den Boden, um sie doch noch irgendwie im Auge zu behalten.

Heute war Noahs erster Arbeitstag und es musste Ware vom Bahnhof zum Laden geschafft werden. Damit begann das Berufsleben für den Jungen selbstverständlich besonders hart, doch Joe hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich beweisen musste und so bemühte er sich nach Kräften und stellte sich besser an, als Joe es ihm zugetraut hatte. Dennoch war es ihm deutlich anzusehen, dass es ihn äußerste Anstrengung kostete, die schweren Kisten zu tragen, aber Joenschonte ihn nicht.

Als die Arbeit endlich geschafft und das Lager wieder aufgefüllt war, setzten sich die beiden jungen Männer im Laden hinter den Tresen, um sich ein wenig zu verschnaufen und Joe fragte grinsend:

„Und? Wie geht es dir jetzt?"

„Gut!" log Noah, der immer noch ein wenig keuchte und schwitzte und auf dessen bleichen Wangen sich rote Flecken gebildet hatten.

Joe lachte.

Als Joe und James nach der Arbeit am roten Haus ankamen und die Neuigkeiten hörten, gingen sie, gefolgt von Tiny, der auf einen Gehstock gestützt hinterher humpelte, zu allererst hinüber zur Scheune, vor welcher Melody noch immer auf ihren Wachposten saß.

Auch im Inneren des Gebäudes war die Lage unverändert. Der gefesselte Bob Carmichael war nach wie vor bewusstlos und Margarete saß da; elend, angespannt, reglos, ihren Gefangenen anstarrend. Das Messer hielt sie fest mit beiden Händen umklammert. Sie drehte sich nicht einmal um, als die Männer eintraten.

Joe legte ihr zum Gruß kurz stumm eine Hand auf die Schulter, ehe er sich mit Tiny setzte.

James blickte Margarete besorgt an und streichelte zart ihre Wange, ehe er neben ihr Platz nahm. Auch er sagte kein Wort.

Nach einer Weile gesellte sich auch Alice zu ihnen, nahm die schweigsame Runde in Augenschein und durchbrach die unheimliche Stille, indem sie sagte:

„Schläft der Kerl etwa immer noch? Vielleicht sollte ich mit einem Eimer kaltem Wasser nachhelfen!"

James erhob sich, legte dem Mädchen einen Arm um die Schultern und meinte mit einem kleinen, matten Lächeln:

„Ich habe gehört, du hast uns Jungs schlecht aussehen lassen, indem du den Dreckskerl allein erledigt hast."

Alice errötete ein wenig, schüttelte den Kopf und erwiderte:

„Hab' ich doch gar nicht! Margarete hat ihn ausgeschaltet! Ich hab' ihn nur solange im Schach gehalten, bis sie so weit war!"

James drückte freundschaftlich Alices Schulter und sagte:

„Kein Grund zur Bescheidenheit! Ich musste mich ihm zweimal stellen und bin zweimal verletzt worden. Du hast scheinbar keinen Kratzer. Offensichtlich bist du eine echte Kämpferin!"

„Vielleicht kommt es darauf an, wofür man kämpft." antwortete Alice mit einem traurigen Blick auf Margarete.

In diesem Moment ließ Carmichael ein Stöhnen vernehmen. Er wachte auf, hob den Kopf und blickte benommen in die Runde.

James beobachtete gespannt, was nun geschehen würde.

Würde Carmichael Angst haben?

Würde er um sein Leben betteln?

Würde er sich schämen, weil er nackt war?

Carmichael tat nichts dergleichen, sondern war offenbar in Plauderlaune. Als er Margarete erblickte, lächelte er tatsächlich. Mit kratziger Stimme sagte er:

„Hallo mein Liebling! Du hast also alle deine Männer um dich versammelt. Willst du etwa, dass ich eifersüchtig werde?"

Margarete saß weiterhin bewegungslos da, schwieg und blickte ihren Gefangenen finster an und so fuhr Carmichael einfach fort:

„Du hast mir meine Kleider genommen! Gefällt dir denn, was du siehst?"

James überlief es eiskalt, wie er Carmichael so sprechen hörte, als ginge im Augenblick gar nichts Besonderes vor. Er war wirklich komplett verrückt!

Margarete behielt ihre stille, statuenhafte Pose bei und sprach kein Wort.

James blickte sie besorgt von der Seite an und hatte den Impuls, ihr zu helfen, sie zu schützen, Carmichael zum Schweigen bringen, doch irgendetwas sagte ihm, dass er sich im Augenblick nicht einmischen durfte. Den anderen Anwesenden schien es genauso zu gehen. Die Situation fühlte sich irgendwie vollkommen unwirklich an.

„Als ich mir unser Wiedersehen vorgestellt habe, hatte ich eigentlich etwas anderes im Sinn, mein Schatz, aber so ist es auch in Ordnung." erklärte Carmichael zuckersüß: „Wärst du nicht lieber allein mit mir? Du hast doch dein Messer wieder! Was willst du damit anstellen?"

Das kratzige war mittlerweile aus seiner Stimme verschwunden. Nun klang sie lockend, flirtend, beinahe zärtlich.

Es war zum Fürchten!

James trat auf Margarete zu und erkundigte sich flüsternd:

„Warum hörst du diesem Abschaum überhaupt zu, Liebes?"

Da richtete Carmichael sein Wort an James und er fragte mit einem kleinen Grinsen:

„Sagen sie Deputy, sollten sie dieser Angelegenheit denn nicht eigentlich ein Ende machen? Ich werde hier widerrechtlich festgehalten. Sollte ich nicht in einer Gefängniszelle sitzen, medizinisch versorgt werden und drei Mahlzeiten am Tag erhalten."

James nahm demonstrativ seinen Stern ab, als er antwortete:

„Ich bin gerade nicht im Dienst, Bob!"

Margarete wirkte wie hypnotisiert und James beschloss, dass er nun doch eingreifen wollte. Er nahm sie am Arm und zog sie hinter sich her vor die Scheune. Sie folgte ihm widerwillig, doch draußen an der frischen Luft schien sie wieder ein wenig mehr in die Realität zurückzukehren.

James suchte ihren Blick und als er überzeugt war, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte, fing er an zu sprechen:

„Liebes, ich weiß nicht, was hier gerade geschieht und warum du tust was du tust, aber ich stehe hinter dir, egal was du vorhast. Wenn du ihn umbringst, werde ich dich schützen. Ich würde dir sogar meine Waffe dafür geben. Und wenn du willst, dass er ins Gefängnis kommt, dann werde ich ihn sofort mitnehmen. Lass' ihn nur nicht in deinen Kopf, in Ordnung? Lass' nicht zu, dass er dir noch mehr wehtut!"

Dann küsste er sanft ihre Stirn und ging hinüber ins Wohnhaus.

Hierhin hatte sich mittlerweile auch Melody verzogen. Sie saß am Esstisch, stütze ihren Kopf mit ihren Händen und verbarg ihr Gesicht hinter den Fingern. Sie blickte auf, als sie James eintreten hörte und er konnte sehen, dass sie geweint hatte. Wortlos setzte er sich zu ihr und schloss die Arme um sie. Dankbar vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter und ließ sich eine Weile festhalten. Irgendwann blickte sie auf und murmelte:

„Margarete und ich haben unser gesamtes Leben miteinander verbracht. Alles was ihr widerfahren ist, habe auch ich erlebt, aber seit die Sache mit diesem Carmichael passiert ist, habe ich das Gefühl, ich verstehe sie nicht mehr. Ich hasse diesen Kerl! Ich wünschte, er wäre tot!"

Melodys Gesichtszüge verhärteten sich und ihr Körper war angespannt. James, der nicht wusste, was er dazu sagen sollte, nickte lediglich und bedeckte sanft ihre Hände mit den seinen.

Margarete war mittlerweile in die Scheune zurückgekehrt und bat die anderen zu gehen.

„Wir würden aber lieber hier bei dir bleiben!" erwiderte Tiny besorgt.

„Ich schaffe das schon! Geht jetzt bitte!" wiederholte Margarete.

Widerstrebend erhoben sich Joe und Tiny und verließen die Scheune. Alice jedoch blieb hartnäckig auf ihrem Platz hocken, bis Margarete schließlich ärgerlich hervorstieß:

„Dich habe ich auch gemeint!"

Alice blickte sie mit steinerner Miene an und schüttelte den Kopf.

Carmichael, der die ganze Szene belustigt mit angesehen hatte kommentierte:

„Mir scheint, dem Jungen hast du ganz schön den Kopf verdreht, mein Liebling! Was hast du denn bloß mit ihm gemacht, dass er so anhänglich ist? Hast du seine Jungfräulichkeit genommen?"

„Halt dein blödes Maul!" erwiderte Alice zischend.

Carmichael vernahm zum ersten Mal ihre Stimme. Verblüfft brachte er hervor

„Du bist ein Mädchen? Na ja, oder zumindest so etwas Ähnliches?" Er schüttelte grinsend den Kopf und fuhr fort: „Ich frage mich, was wir wohl zu sehen bekämen, wenn DU jetzt hier ohne deine Kleider stehen würdest."

Und mit einem bösen kleinen Lächeln fügte er hinzu: „Vielleicht werde ich ja eines Tages noch die Chance haben, es herauszufinden!"

Alice blickte ihn lediglich eisig an und sagte nichts.

Margarete flehte nun:

„Bitte Kleines! Ich will nicht, dass du dir diesen Schmutz anhören musst. Verschwinde jetzt von hier!"

Alice erhob sich, trat sehr nah an Bob Carmichael heran, blickte ihm in die eisblauen Augen und erklärte fest:

„Denkst du, mich interessiert, was dieser wertlose Mistkerl zu sagen hat, oder dass mich seine Beleidigungen treffen, oder mir seine Drohungen mir Angst machen? Nicht im Geringsten! Er ist nichts weiter als wertloser Abfall!"

Dann nahm sie neben Margarete Platz.

Carmichael hatte wieder sein wölfisches Grinsen auf dem Gesicht:

„Da hast du aber einen tapferen kleinen Beschützer, mein Schatz!" sagte er spöttisch.

Margarete schaute Carmichael einen Moment lang fest in die Augen und dieser setzte seinen Monolog fort:

„Ich wusste gar nicht, dass so etwas wie dieses DING da dir gefällt, mein Liebling. Aber du brauchst den kleinen Zwitter nicht! Du brauchst niemanden außer mir. Und wenn ich wieder frei bin, werde ich sie dir einen nach dem anderen wegnehmen, den großen Schwarzen, den Kleinen, den Deputy, die Rothaarige, die Blasse, die Indianerin, die Irin, die Lehrerinnen. Und gibt es nicht auch ein paar Kinder? Ich mag Kinder!"

Er grinste und so wie er es sagte klang es, als wollte er sie ganz einfach bei lebendigem Leib fressen. Er fuhr er fort: „Und am Schluss hole ich mir diesen Hermaphroditen da und deine Schwester!"

Carmichael feixte vergnügt und Margarete überkam mit einem Mal eine wahnsinnige Wut. Sie stürmte auf Carmichael los und begann mit ihren Fäusten auf ihn einzuschlagen, wobei ihre Rechte noch immer das Messer festhielt. Der gefesselte Mann erlitt einige kleine Schnitte an den Armen, der Brust und im Gesicht. Schließlich hielt sie ihm das Messer an seine Kehle und zischte zornig:

„Du wirst gar keine Gelegenheit erhalten, meine Freunde zu verletzen, Bob! Niemals!"

Doch Carmichael schienen weder ihre Schläge und Schnitte zu schmerzen, noch hatte er Angst, dass sie ihn töten würde. Vielmehr gab er ein lustvollen Stöhnen von sich und als Margarete an dem Nackten herunterblickte, musste sie angewidert feststellen, dass die Situation in tatsächlich erregte.

Sie rannte aus der Scheune, ging dort in die Knie und übergab sich. Inzwischen war Alice ihr gefolgt. Sie half ihr, sich zu erheben, reichte ihr ein Taschentuch, schloss sie in den Arm und flüsterte:

„Bitte beende diesen Wahnsinn! Stich' ihn ab, oder lass ihn von James wegbringen, aber bring' ihn endlich zum Schweigen, ehe er dich fertig macht!"

Margarete schüttelte den Kopf und sagte kläglich:

„Das kann ich noch nicht!"

„In Ordnung!" erwiderte Alice: „Aber dann mach' jetzt eine Pause! Knöpfe ihn dir morgen noch einmal vor!"

Margarete nickte und antwortete:

„Ich suche jemanden, der ihn heute Nacht bewacht! Bleibst du so lange hier?"

„Sicher!" gab Alice zurück.

Im Wohnhaus am Küchentisch saßen neben Melody und James mittlerweile auch Joe, Tiny, Kathryn und die Damen aus Boston. Vom Flur aus konnte Margarete hören, dass über den Gefangenen in der Scheune und sein weiteres Schicksal diskutiert wurde:

„Ich werde mir das nicht mehr lang mit ansehen" verkündete Melody gerade: „ Notfalls werde ich Carmichael auch gegen den Willen meiner Schwester umbringen!"

Als Margarete die Küche betrat, wurde es schlagartig still und sie blickte in erschrockene Gesichter. Offensichtlich hatte man nicht erwartetet und auch nicht gewollt, dass Margarete das Gespräch mithörte.

„Wenn jemand das Recht hat, den Mann zu töten, der mir das angetan hat, dann bin ich es selbst. Solltest du es ohne meine Einwilligung tun, werde ich dir das niemals verzeihen, Schwester!" verkündete sie eiskalt.

Melody wurde bleich unter ihrer braunen Haut. Sie erhob sich, trat vor Margarete hin und holte Luft, als wolle sie etwas sagen, überlegte es sich dann aber scheinbar anders. Ihre Augen wurden feucht. Sie drehte sich um, verließ die Küche und rannte die Treppen hinauf.

Die anderen Anwesenden waren in unbehagliches Schweigen verfallen. James fand als erster seine Stimme wieder und richtete sein Wort an Margarete:

„Du siehst wirklich elend aus Liebes. Willst du dich nicht ein wenig ausruhen?"

Margarete nickte:

„Deshalb bin ich gekommen. Ich will dass jemand bei Carmichael Wache hält. Doch das, was ich zu Melody gesagt habe, gilt für Jeden! Niemand krümmt ihm ein Haar, kapiert?"

Da erhob sich unerwartet Carolyn Hoffman. Die ältere Frau erklärte:

„Ich verstehe und respektiere ihren Wunsch, selbst über das Schicksal des Mannes zu entscheiden, der ihnen so viel genommen hat. Ich erkläre mich bereit, die erste Hälfte der Nacht bei ihm zu wachen. Vielleicht kann eine der anderen Damen mich später ablösen."

Margarete blickte Ms. Hoffman skeptisch an und fragte:

„Sind sie sicher, dass sie der Situation gewachsen sind?"

Die Angesprochene lächelte, öffnete ein Handtäschchen und kramte darin herum. Kurze Zeit später kam ein winziger Revolver zum Vorschein und Ms. Hoffman erklärte:

„Ich würde Mr. Carmichael nicht empfehlen, zu versuchen zu entkommen! Ich kann hiermit umgehen und notfalls einer Fliege die Flügel vom Rücken schießen. Sollte er also irgendwelchen Unsinn versuchen, bin ich in der Lage, Bob Carmichael aufzuhalten und hinterher wird immer noch genug von ihm übrig sein, dass sie von ihm bekommen, was immer es ist, dass sie von ihm brauchen, Miss Margarete."

Margarete gab Ms. Hoffman die Zustimmung, die erste Wache zu halten und Justine erklärte sich bereit, sie später abzulösen.

Mit einem Mal unendlich erschöpft bedankte und verabschiedete Margarete sich und stieg dann mit schweren Schritten die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf.

Endlich in ihrem Bett versuchte Margarete Schlaf zu finden, doch sobald sie die Augen schloss, erschienen vor ihrem inneren Auge furchteinflößende Bilder von einem Carmichael, dem es irgendwie gelungen war sich zu befreien und von ihren ermordeten und verstümmelten Freunden.

Da klopfte es an Margaretes Zimmertür. Alice trat ein und schloss die Tür umgehend wieder hinter sich. Am Fuß des Bettes blieb sie stehen.

„Wie geht es dir?" erkundigte sich das Mädchen leise.

Statt einer Antwort schüttelte Margarete nur müde den Kopf.

Plötzlich sehr schüchtern setzte Alice sich auf die äußerste Bettkante und verkündete mit gesenktem Blick:

„Es tut mir so leid, was ich heute Morgen getan habe. Den Kuss meine ich! Das war falsch von mir!"

Das Mädchen erhob sich und wollte das Zimmer wieder verlassen, doch Margarete wünschte sich in diesem Moment mehr als alles andere, dass Alice bei ihr bleiben möge.

Sie wollte sie um jeden Preis in ihrer Nähe haben, in ihrem Arm liegen und sich beschützt fühlen.

Die Ereignisse des Morgens erschienen ihr nach allem, was am heutigen Tag sonst noch geschehen war bedeutungslos und so weit weg, als seien sie in einem anderen Leben passiert. Sie erhob sich vom Bett, zog Alice fest an sich, streichelte zärtlich ihr Gesicht und erklärte dann:

„Dir muss es nicht leidtun. Es ist in Ordnung, dass du mich küssen willst."

Sie ließ ein Hand hinab zu ihrem Gesäß wandern und die andere zu einer der kleinen, festen Brüste. Sie küsste Alice, führte sie zum Bett, drückte sie in die Matratze, legte sich auf sie, drängte ihren Körper dicht an den des Mädchens und flüsterte:

„Du hast so viel für mich getan. Lass' mich nun etwas für dich tun!" sie küsste Alice erneut und wollte ihr Hemd aufknöpfen, doch dann spürte sie, wie der Körper des Mädchens sich versteifte.

Alice starrte sie, mit vor Entsetzen geweiteten Augen an; die Pupillen waren riesige dunkle Abgründe. Dicke Tränen kullerten ihre Wangen hinab, als sie mit versagender Stimme hervor presste:

„Denkst du, dass es das ist, was ich will; dass du mir einen Gefallen tust? Ich tue etwas für dich und aus Dankbarkeit revanchierst du dich und schläfst mit mir?" Alice schniefte: „Damit bin ich auch nicht anders als einer der Männer, die Geld auf deinem Nachttisch liegen lassen! Denkst du wirklich SO niedrig von mir?"

Das Mädchen hielt sich schluchzend die Hände vor das Gesicht, erhob sich vom Bett und rannte hinaus.

Margarete blieb eine Weile benommen liegen, ehe sie selbst vollständig realisierte, was sie gerade getan hatte. In ihrem Inneren machte sich Entsetzen über sich selbst breit. Sie begann, ernsthaft an ihrem Verstand zu zweifeln:

„Nein, nein, nein!" jammerte sie verzweifelt, sprang vom Bett auf und schlug den eigenen Kopf wiederholt gegen eine der Zimmerwände. Und weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, setzte sie sich in Bewegung. Ungesehen verließ sie das Haus und rannte ihn die Nacht hinaus. Sie lief ohne ein bestimmtes Ziel, in dem verzweifelten Versuch, sich selbst zu entkommen.

Irgendwann war sie so schnell, dass ihre Lungen brannten.

Allmählich beruhigte Alice sich wieder ein wenig und beschloss, noch einmal mit Margarete über alles sprechen. Als sie sie in ihrem Zimmer nicht fand, suchte sie sie zunächst im Wohnhaus, dann in der Scheune und schließlich im anderen Gebäude. Sie fragte jeden, den sie traf, doch niemand hatte Margarete weggehen sehen. Nachdem Alice Margarete auch auf dem Gelände nicht finden konnte, brach sie in Panik aus.

Im Gemeinschaftsraum des Wohnhauses fand sie Joe und James am Feuer sitzend. Mit schriller Stimme berichtete sie den beiden Männern, dass Margarete nach einem Streit verschwunden und nun nirgends zu finden sei. Den beiden gelang es nicht, das Mädchen zu beruhigen und so erklärten sie sich bereit, ihr zu helfen, die Gegend nach Margarete abzusuchen. Kurze Zeit später brachen die drei, mit Öllampen ausgestattet auf.

Joe beschloss, dass es besser sei, wenn die aufgebrachte Alice nicht allein dort draußen unterwegs sei, also begleitete er sie. James begab sich in die entgegengesetzte Richtung.

Alice stolperte panisch durch die Nacht und rief Margaretes Namen. Joe musste sie einige Male auffangen, damit sie nicht stürzte.

Angst ließ das Blut in den Armen und Beinen des Mädchens erkalten. Sie weinte verzweifelt und machte sich furchtbare Vorwürfe.Wie hatte sie nur so hart zu Margarete sein können, und so selbstsüchtig, ihrer eigenen Verletzung so viel Bedeutung zuzumessen?

Offensichtlich hatte Margarete lediglich ihre Nähe gewollt und sie hatte sie allein gelassen, als diese sie so nötig gebraucht hatte!

Wenn Margarete nun etwas zugestoßen war, dann wäre das allein ihre Schuld!

James konnte kaum die Hand vor Augen sehen und fragte sich, wie er hier draußen Margarete finden sollte; zumal wenn diese möglicherweise gar nicht gefunden werden wollte. Er blieb stehen und überlegte.

Und mit einem Mal wusste er, wo sie war! Es war beinahe wie eine Eingebung.

Er rannte los, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben.

In dieser Nacht war die Luft lau und Himmel bedeckt. Es hatte leicht zu nieseln begonnen. Das Wasser, welches Margarete auf ihren Händen und ihrem Gesicht fühlte, war fein wie Puder. Das letzte Mal, als sie hier gelegen hatte, war es sternenklar und eiskalt gewesen. Das war das Letzte, was sie wahrgenommen hatte, ehe der Blutverlust und die Schmerzen sie das Bewusstsein verlieren ließen. Eigentlich hatte sie hier sterben sollen und hatte dennoch überlebt. Doch nun war sie am Ende ihrer Kräfte und konnte einfach nicht mehr. Der Kreis würde sich nun schließen.

Und plötzlich erblickte sie die Reflexion eines Lichtscheins in der Klinge, welche sie in ihrer Rechten hielt.

James war an jener Senke angekommen, welche Joe ihm einmal beschrieben hatte, der Ort, an welchem er damals die Verletzte Margarete gefunden hatte.

Im Schein seiner Lampe erkannte er, dass sein Instinkt richtig gewesen war. Er fand Margarete und er ahnte auch, worum es sich bei dem blanken Gegenstand handelte, in welchem das Licht seiner Öllampe reflektiert wurde. Er ging behutsam in die Knie, darauf bedacht, keine hektischen Bewegungen zu machen und sagte mit ruhiger Stimme:

„Hey Liebes, wir haben schon überall nach dir gesucht. Was machst du denn hier?"

„Geh' weg James!" erwiderte Margarete müde.

James gehorchte nicht. Im Gegenteil näherte er sich ihr sogar behutsam, bis er direkt neben ihr war. Die Hand mit dem Messer behielt er dabei genau im Blick:

„Das kann ich leider nicht tun. Ich habe Angst um dich und ich möchte dich wieder mit nachhause nehmen." Er wagte es nun sanft Margaretes freie Hand in seine zu nehmen und spürte, wie die Freundin sich unter seiner Berührung verspannte. Er fuhr fort:

„Was hast du denn mit dem Messer vor?"

Margarete stellte eine Gegenfrage:

„Glaubst du an Schicksal, James?"

Er schüttelte den Kopf:

„Nicht wirklich. Warum fragst du mich das?"

Margarete drehte das Messer in ihrer Hand und erwiderte:

Ich glaube, dass es mein Schicksal gewesen ist, diesem Kerl in die Hände zu fallen und hier an genau dieser Stelle zu sterben, doch irgendwie ist es anders gekommen. Und nun ist mein Leben eine einzige Hölle; eben deshalb, weil ich eigentlich gar nicht mehr hierher gehöre."

„Mein Gott Margarete! Das sind ganz furchtbare Gedanken! Wir alle sind doch froh, dass du noch lebst. Wir lieben dich." James seufzte schwer und fuhr fort: „Bitte gib' mir das Messer, in Ordnung?"

Margarete schüttelte den Kopf. Sie hatte nun leise zu weinen begonnen und erwiderte heiser:

„Ihr denkt vielleicht, dass ihr mich liebt, aber ihr kennt mich gar nicht mehr! Ich erkenne mich selbst ja nicht einmal mehr. Carmichael ist nicht das einzige Monster hier! Ich bin auch eines! Ich bin ein Ungeheuer, dass nicht einmal davor zurückschreckt, ein unschuldiges Mädchen zu missbrauchen, bloß weil ich mich selbst und das Alleinsein nicht ertrage."

Nun schluchzte Margarete und ihr schlanker Körper bebte. James sah seine Chance, nahm ihr das Messer aus der Hand und legte es außerhalb ihrer Reichweite ab. Dann schloss er Margarete in den Arm, wiegte sie und gab beruhigende Laute von sich. Als sie wieder ruhig genug war, dass sie seine Worte verstehen konnte, sagte James:

„Lass uns nun zurückkehren. Alice ist außer sich vor Sorge um dich. Sie irrt in diesem Moment mit Joe durch die Nacht und sucht nach dir. Sie macht sich Vorwürfe!" Dann hielt er kurz inne und fuhr dann fort: „SIE sieht mit Sicherheit kein Ungeheuer in dir!"

„Das liegt daran, dass sie noch ein Kind ist. Sie ist idealistisch und jung."

James schüttelte energisch den Kopf:

„Nach allem, was Alice hinter sich hat; glaubst du, sie sei zu naiv, um zu sehen, wer du wirklich bist? Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber ich habe gesehen, wie viel du ihr bedeutest." Dann fügte er hinzu: „Und ich weiß auch was du mir bedeutest! Ich bin mir sicher, dass du nichts Böses getan hast. Du hast lediglich etwas Furchtbares durchgemacht und versuchst nun, irgendwie damit klar zu kommen."

„Aber was ist mit Melody?" fragte Margarete: „Meine eigene Schwester und ich sind wie Fremde füreinander."

„Auch für sie war es schrecklich, zu erleben was dir passiert ist. Sie hätte dich beinahe verloren und ist nun wütend und hilflos. Ihr braucht beide etwas Zeit, aber ich verspreche dir, auf lange Sicht wird alles besser werden!"

Mit diesen Worten erhob sich James und half auch Margarete wieder auf die Füße. Das Messer hatte er an sich genommen und bestimmte:

„Wir gehen jetzt nachhause!"

Und James war beinahe überrascht, dass Margarete sich tatsächlich bei ihm unterhakte und ihm folgte.

James hatte Margarete in der Küche des Wohnhauses einen Tee gemacht und nun saßen die beiden schweigend am Tisch. Plötzlich öffnete sich die Haustür und Joe und Alice traten ein. Das Mädchen war rot verweint und verzweifelt, doch als sie Margarete erblickte, stürzte sie auf sie zu und umarmte sie so fest, dass dieser beinahe die Luft wegblieb. Erst nach einer ganzen Weile ließ das Mädchen die Frau wieder los.

Margarete blickte Alice unglücklich an und sagte:

„Es tut mir so wahnsinnig leid, was ich getan habe. Ich würde es dir gern erklären, aber ich weiß nicht, ob ich das kann."

Alice berührte zart Margaretes Wange und antwortete:

„Du musst mir nichts erklären. Lass' uns lieber schlafen gehen!"

Im Bett schmiegten sich Alice und Margarete eng aneinander. Sie sprachen nicht mehr über das, was zwischen ihnen vorgefallen war, sondern schliefen beinahe sofort ein.

Als sie wieder erwachten war bereits später Vormittag und draußen regnete es noch immer.

Margarete konnte es selbst kaum fassen, doch sie fühlte sich so viel besser, als in der vergangenen Nacht. Sie war erholt und fühlte sich lebendig.

Nun gab es nur noch eine Sache, die sie tun musste.

Sie küsste die schlafende Alice auf die Stirn. Dann erhob sie sich und verließ das Zimmer.

Margarete hatte sich ihr Messer wiedergeholt und betrat gemeinsam mit James die Scheune. Dort saßen Justine und Kathryn mit müden Gesichtern und wachten noch immer bei Bob Carmichael.

Dieser hatte mittlerweile einen Knebel erhalten, sowie eine Decke, die ihm über den nackten Körper gelegt worden war:

„Wir wollten den Mistkerl weder sehen, noch hören!" erklärte Justine erschöpft.

Margarete nickte und entließ die beiden von ihrem Posten.

„Was hast du nun vor?" erkundigte sich James unsicher:

„Ich werde diese Sache jetzt beenden!" antwortete sie schlicht.

Dann nahm sie Carmichael den Knebel ab, hielt dem gefesselten Mann die Klinge an den Hals und sagte mit ruhiger, gefasster Stimme:

„Ich möchte nur eine Sache von dir wissen, Bob. Warum hast du mir das angetan?"

Carmichael blickte sie verwundert an. Dann antwortete er:

„Weil wir zusammen gehören! Fühlst du das denn nicht?" nach einer nachdenklichen Pause fuhr er fort: „Das, was ich damals in dieser Nacht getan habe war falsch. Ich war viel zu ungeduldig, betrunken und dann habe ich dich einfach dort liegen lassen. Als ich aber erfahren habe, dass du noch lebst, wusste ich, dass ER wollte, dass ich eine zweite Chance erhalte, es besser zu machen! Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt, wie in jener Nacht. Alles was vorher war, mein gesamtes Leben war bedeutungslos, farblos. Erst durch dich, durch das was wir hatten, habe ich erfahren, was mir fehlt. Binde mich los, dann bringe ich dich weg von hier! Und diesmal werde ich mir viel Zeit für dich nehmen. Für immer wenn du willst!"

Margarete schüttelte ungläubig den Kopf. Ihr Gesicht ihr Gesicht zeigte Ekel:

„Du bist wirklich ein komplett verrückter Mistkerl. Denkst du etwa wirklich, dass du mir irgendetwas bedeutest? Meinst du, ich würde dich jemals wieder in meine Nähe lassen? Du widerst mich an, hörst du? DU WIDERST MICH AN!"

Sie drückte die Klinge fest an seinem Hals und verletzte seine Haut. Einige Blutstropfen rannen seine Kehle hinab.

„Tu es! Dann tu es doch endlich!" sagte Carmichael und es klang beinahe flehend.

In diesem Moment wurde Margarete etwas klar: Sein Tod würde ihr keinen Frieden bringen! Bob Carmichael war es nicht möglich, wie ein normaler Mensch zu empfinden.

Vielleicht war er krank?

Vielleicht war er auch besessen?

Vielleicht war er auch einfach nur böse?

Doch eines wurde ihr nun klar: Seine Tat hatte keinen tieferen Sinn!

Sie hatte einfach nur Pech gehabt, ihm in die Hände zu fallen, so wie man Pech hatte, wenn einen der Blitz traf. Mit Schicksal hatte das überhaupt nichts zu tun:

„Ich werde dich am Leben lassen!" erklärte sie plötzlich sehr ruhig und ließ das Messer sinken.

James holte Tiny, Kathryn und Joe herbei und Margarete schnitt Carmichaels Fesseln durch. Der Mann taumelte zunächst ein wenig unsicher und rieb sich die Hände und Füße, welche nun lange Zeit nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt worden waren. Als er sich einigermaßen erholt hatte, gab James ihm seine Kleider wieder und legte ihm Handschellen an. Als James Carmichael abführen wollte, drehte dieser sich noch einmal um. Traurig sagte er zu Margarete:

„Schade! Für einen Moment habe ich gedacht, du seist ein Wolf, aber du bist doch nur ein Lamm, wie alle Anderen!"

James stieß Carmichael seine Pistole in die Rippen und rief ärgerlich:

„Beweg' dich, du kranker Mistkerl!"

Kathryn und Joe begleiteten den Gesetzeshüter und seinen Gefangenen auf dem Weg zum Sheriffsdepartment.

Margarete blickte ihnen hinterher, solange sie sie noch sehen konnte. In diesem Moment ließ der Regen nach und die dunklen Wolken brachen auf.


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