21 Botschaft angekommen!

„Ich schaffe diesen Mist jetzt aus unserem Haus" rief Shy aufgebracht und griff nach der Schachtel mit dem unheimlichen Inhalt, doch wurde sie von Margarete aufgehalten.

Diese atmete tief durch, nahm die Schachtel an sich und erklärte tapfer:

„Carmichael hat mir eine Nachricht geschickt. Jetzt schicke ich IHM eine!"

Sie nahm ein großes Messer aus einer Schublade und trug es, gemeinsam mit der Box zur Haustür hinaus. Die Anderen folgten ihr, um zu sehen, was sie vorhatte.

Margarete stieß das Messer durch die Karte und das Ochsenherz und pinnte beides zusammen mit einem energischen Hieb an die Hauswand:

„Ich will, dass das hier hängenbleibt und er es bei seinem nächsten Besuch sieht." sagte Margarete entschieden und fügte hinzu: „Und nun will ich, das weiter gefeiert wird. Drinnen ist noch reichlich zu essen und Joe hat noch immer Geburtstag!"

Niemand widersprach ihr und nach und nach folgten ihr alle wieder zurück in das Haus. Joe legte Margarete im Gehen einen Arm um die Taille und versicherte:

„Das machst du gut! Weiter so!"

Eine ganze Weile später an diesem Abend trat James auf Kathryn und Tiny zu und erklärte:

„Ich denke ich sollte von zuhause meine Waffe holen, wiederkommen und heute Nacht hier bei euch bleiben. Was meint ihr dazu?"

Er blickte bei der Frage erwartungsvoll auf Kathryn, dennoch war es Tiny, der ihm antwortete:

„Das ist eine gute Idee! Ich werde dir im Gemeinschaftsraum ein Feldbett aufstellen."

Kathryn nickte lediglich flüchtig und entfernte sich dann wortlos.

James schluckte schwer angesichts dieser Gleichgültigkeit und Tiny legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte:

„Nimm's nicht so tragisch, Kleiner!"

„Ich verstehe das einfach nicht! Was habe ich denn bloß falsch gemacht?" erwiderte James beklommen.

„Ich bezweifle, dass du etwas falsch gemacht hast. Ich vermute, Kathryn weiß selbst nicht, was sie will und was das Problem ist." entgegnete Tiny: „Gib ihr ein wenig Zeit! Und lass' dich bloß nicht von ihr vergraulen. Wenn du hartnäckig bleibst, wird sie sich der Angelegenheit irgendwann stellen müssen!"

James zuckte unschlüssig mit den Schultern und machte sich auf den Weg.

Die Bewohner des roten Hauses ließen die Hunde hinaus, die Laut geben würden, falls ein Fremder sich nähern sollte, doch die Nacht verlief ruhig und es gab keine weiteren Besuche von Bob Carmichael.

Bevor James auch am Sonntagabend in das rote Haus zurückkehren würde, um ein weiteres Mal seinen Wachposten zu beziehen, nahm er noch die Essenseinladung bei Rebecca und Felicity wahr. Er hatte eine Flasche Wein mitgebracht, da er nicht mit leeren Händen erscheinen wollte und war erleichtert, dass auch Joe anwesend war. James fühlte sich ein wenig unsicher, da er die beiden Frauen noch nicht gut kannte und fürchtete, es würden sich keine Gesprächsthemen ergeben.

Rebecca war in der Küche noch mit dem Essen beschäftigt. Felicity und Joe hatten sich gemeinsam mit James am Tisch niedergelassen.

Bei seinem ersten Besuch im Haus der beiden Frauen war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um sich genauer umzusehen. Dies holte er heute nach und ihm fiel auf, wie gemütlich es hier war. Die schweren dunklen Holzmöbel, die Wandteppiche, die Zierkissen; alles war mit Liebe ausgesucht und gepflegt:

„Euer Zuhause ist sehr schön!" erklärte er aufrichtig.

Felicity lächelte und gab zurück:

„Ja, wir fühlen uns wohl hier. Vielen Dank. Aber sag' mal, wie geht es dir denn eigentlich? Es schien nicht leicht für dich gewesen zu sein, gestern auf Kathryn zu treffen."

James zuckte traurig mit den Schultern und antwortete:

„Sie verhält sich, als wären wir Fremde füreinander. Ich begreife das noch immer nicht."

„Ich denke, ihre Gleichgültigkeit ist nur gespielt." erwiderte Felicity nachdenklich: „So, wie ich sie kenne versucht sie damit bloß, euch beiden die Trennung leichter zu machen."

James schlug die Hände vor sein Gesicht, um niemanden sehen zu lassen, dass er weinte, doch da war es ohnehin schon zu spät.

Felicity rückte mit ihrem Stuhl an ihn heran und legte einen Arm um ihn:

„Es ist in Ordnung!" versicherte sie sanft.

Joe seinerseits rückte dicht an James andere Seite und zerzauste dem Freund kraulend das Haar.

Irgendwann trocknete sich James Augen und Nase mit seinem Ärmel und murmelte:

„Es tut mir leid! Ich verderbe euch den Abend!"

Felicity lächelte kopfschüttelnd und erwiderte:

„Das ist doch Unsinn! Ich finde es erfrischend, dass du so offen mit deinen Gefühlen umgehst. Ich mag es nicht, wenn Menschen versuchen, sich zu verstellen."

In diesem Moment trat Rebecca mit dem Essen an den Tisch. Sie hatte von der Küche aus mitbekommen, worüber die anderen sich unterhalten hatten und stimmte ihrer Geliebten zu:

„Genau! Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du traurig bist, James!"

James holte noch einmal tief Luft, zwang sich zu lächeln und erwiderte:

„Danke, aber ich würde nun trotzdem lieber das Thema wechseln, um auf andere Gedanken zu kommen. Das Essen riecht großartig! Was ist es denn?"

Rebecca begann lächelnd, die Teller aufzufüllen:

„Es ist ein Schmorgericht mit Kaninchenfleisch und Rüben. Ein Familienrezept!"

Sie begannen schweigend zu essen, bis James sich traute, die beiden Frauen zu fragen:

„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?"

Nun begannen die Frauen abwechselnd zu berichten, wie sie sich während des Studiums zufällig ein Zimmer geteilt hatten, sich erst nach und nach ihrer Gefühle füreinander bewusst geworden waren und zankten sich liebevoll ein wenig darüber, welche von beiden damals den Anfang gemacht hatte.

James fiel auf, dass die Geschichte klang, als haben die beiden sie schon dutzende Male erzählt.

Es schmeichelte ihm, dass sie ihm gegenüber so frei von ihrer Verbindung zueinander sprachen. Es gab ihm das Gefühl kein Fremder, sondern ein Freund zu sein.

Als sich Joe und James später auf den Weg zum roten Haus machen wollten, fühlte James sich innerlich ein wenig gewärmt und er war sich sicher, dass dies nicht allein am Schmortopf lag. Die beiden Frauen verabschiedeten sich von ihm mit einer Umarmung und der Wiederholung ihrer Einladung, jederzeit zu Besuch zu kommen, wenn ihm danach war. James bedankte sich und Joe und er begaben sich hinaus in die kühle Nacht.

„Sie sind großartig, oder nicht?" fragte Joe, als sie wieder unter sich waren.

„Du hast es wirklich gut getroffen!" bestätigte James.

Er spürte plötzlich Unbehagen in sich aufsteigen. Gleich würde er wieder Kathryn gegenüberstehen, obwohl diese ihn eigentlich nicht sehen wollte.

Joe erriet seine Gedanken:

„Geh' Kathryn einfach aus dem Weg. Halte dich an Tiny, mich und an die Anderen."

Er drückte aufmunternd James Schulter.

Inzwischen waren sie angekommen und traten ein. Sam freute sich, sie zu sehen und verhaftete sie sogleich zu einem gemeinsamen Kartenspiel, bis es Zeit für ihn war, schlafen zu gehen.

Der Abend wurde später und nach und nach zogen sich alle in ihre Schlafräume zurück. Zuletzt ließ dann auch noch Joe James im Gemeinschaftsraum zurück und begab sich nach oben.und James selbst legte sich auf seinem engen Feldbett ebenfalls zur Ruhe.

Irgendwann mitten in der Nacht erwachte er jedoch von dem Gebell der Hunde vor dem Haus. Er zog seine Stiefel an, griff nach seiner Waffe und erhob sich, vermied es jedoch, Licht zu machen.

Das Bellen wurde lauter und plötzlich wurde daraus ein klägliches Winseln, ehe es erstarb. James zog vorsichtig die Vorhänge beiseite und blickte hinaus.

Draußen bewegte sich ein Schatten!

James war einen Moment lang unschlüssig, was er tun sollte? Wenn er nach oben ginge, um Verstärkung zu holen, riskierte er möglicherweise, dass jemand unbemerkt ins Haus käme. Allerdings fürchtete er auch, Carmichael, wenn er es denn war, allein nicht gewachsen zu sein.

Schließlich erkannte James, dass er keine Wahl hatte. Er musste nachschauen gehen! Er öffnete leise die Haustür und trat hinaus.

Es war eine Vollmondnacht und der Sternenhimmel war vollkommen wolkenlos. James konnte recht gut sehen und war sich dessen bewusst, dass dies ebenso bedeutete, dass er auch gut auszumachen war. Er hielt sich nah an der Hauswand und bemühte sich, möglichst wenig Krach zu machen. Sein Herz raste wie verrückt und seine Waffe gab ihm nicht so viel Selbstvertrauen, wie er gehofft hatte. Carmichael, das musste er sich ehrlicherweise eingestehen, machte ihm Angst, denn er war rücksichtslos, brutal und ganz offensichtlich auch verrückt und besessen.

James konnte niemanden sehen, erblickte dann jedoch einen der Hunde, welcher regungslos an der Erde lag. Er kniete nieder, um sich das Tier anzuschauen und stellte fest, dass es in einer Lache seines eigenen Blutes lag. Es war tot!

James nahm ein kleines, winselndes Geräusch nur einige Meter von seinem Standort entfernt wahr. Dort entdeckte er den zweiten Hund, der ebenso wie der erste offenbar einer Messerattacke zum Opfer gefallen war.

Zu spät hörte James die Schritte, die sich ihm von hinten näherten. Er konnte sich gerade noch umwenden und mit einem Block seiner Hände verhindern, dass das Messer, welches auf ihn hernieder sauste, schlimmen Schaden anrichtete. Es verursachte lediglich Schnittwunden links an Hand und Arm.

Der erhaltenen Hieb durch den Angriff und auch der Schreck destabilisierten James, so dass er auf den Rücken fiel. Vom Boden aus trat er nun nach seinem Angreifer, der erneut auf ihn losging. Der Tritt traf den Mann, bei dem sich James fast sicher war, dass es sich um Carmichael handeln musste, obgleich er sein Gesicht nicht erkennen konnte, im Magen und schleuderte ihn zurück. James erhob seine Waffe und drückte ab, doch es war dunkel und James verletzt und aufgebracht. Außerdem stellte der taumelnde Angreifer ein bewegliches Ziel dar und James war zudem auch nicht der allerbeste Schütze.

So kam es, dass er sein Ziel verfehlte und dem Täter die Flucht gelang.

Alarmiert durch den Schuss traten nach und nach alle anderen Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses vor die Tür. Sie hatten Lampen dabei und schließlich entdeckten sie James und die beiden Hunde. Joe und Kathryn rannten auf James zu, doch dieser gab Entwarnung:

„Halb so schlimm!" erklärte er, rappelte sich auf und hielt sich den verletzten Arm:

„Carmichael?" fragte Kathryn knapp.

James nickte:

„Ich konnte ihn nicht genau sehen, aber ich würde sagen, ja!" Dann fügte er hinzu „Einer der Hunde lebt noch. Vielleicht schafft er es ja, wenn er sofort versorgt wird?"

Kathryn kniete neben dem toten Tier nieder und streichelte ihm zärtlich über den Kopf. Dann wandte sie sich dem verletzen Hund zu. James trat seitlich an sie heran und konnte sehen, dass sie weinte. Sie erhob sich und James, dem es in diesem Moment gleichgültig war, wie sie gegenwärtig zueinander standen, legte seinen unverletzten Arm um sie, um sie zu trösten.

Eine kleine Weile ließ sie es sich gefallen und vergrub ihren Kopf an seiner Schulter, ehe sie sich auf das besann, was nun getan werden musste. Sie räusperte sich und sagte:

„Wir brauchen einen Arzt! Jemand soll den Doktor holen! Aber ich will nicht, dass jemand allein dort raus geht, falls ihr Carmichael in die Arme lauft."

Und so machten sich Joe und Tiny auf den Weg zu Doktor Millers Haus.

Kathryn und James traten zu den anderen Frauen, wo Margarete gerade etwas entdeckt hatte: Das Ochsenherz und die Karte mit dem Messer waren verschwunden!

„Er hat meine Botschaft bekommen und sie hat ihm offenbar nicht gefallen!" erklärte Margarete nüchtern.

Sie kehrten ins Haus zurück. Sam hatte mittlerweile den verletzten Hund aufgehoben und trug ihn vorsichtig ins Haus, wo er und seine Schwestern Mia und Lois ihn versorgten, so gut sie konnten.

Kathryn und Melody wollten sich nun James Verletzung anschauen:

„Zieh' dein Hemd aus!" wies Kathryn ihn an.

James blickte sie unsicher an, denn ihm behagte es nicht, in einem Raum voller Frauen mit freiem Oberkörper herumzusitzen.

Kathryn verdrehte die Augen:

„Nun mach' schon und stell' dich nicht so an!" herrschte sie ihn an: „Glaub mir; jede hier hat schon einmal einen nackten Mann gesehen. Ich will mir doch bloß deine Wunden anschauen, also los!"

James kam ihrer Aufforderung zögerlich nach. Nun, da die Aufregung ein wenig von ihm abfiel bemerkte er erst, dass seine Schnittwunden zu schmerzen begannen.

Kathryn betrachtete stirnrunzelnd seine Verletzungen:

„Drei Schnitte. Der hier..."sie berührte zart seinen Oberarm"...sieht ziemlich übel aus!"

James blickte Kathryn zunächst ins Gesicht und dann auf die Hand welche seinen Arm berührte, was sie veranlasste, ihre Finger rasch fortzuziehen:

„Tut es weh?" erkundigte sie sich.

„Es kommt darauf an, wovon du sprichst!" gab er leise zurück .

In diesem Moment trafen die Männer mit Doktor Miller wieder ein und retteten Kathryn davor, darauf zu antworten.

Der Arzt wollte sogleich James versorgen, doch dieser forderte:

„Vielleicht kümmern sie sich besser erst einmal um den Hund. ich werde es überleben, der arme kleine Kerl vielleicht nicht."

Kathryn lächelte leise über seine Fürsorge für das verwundete Tier, doch das konnte James nicht sehen, da sie hinter ihm stand.

Nachdem der Doktor dem Hund tatsächlich das Leben retten konnte, spritzte er James ein Schmerzmittel und vernähte dann die Schnittwunden.

Als er seinen Patienten versorgt hatte, erkundigte sich der Doktor:

„Weiß Sheriff Snyder was hier vorgeht?"

James schüttelte den Kopf:

„Nein, bislang habe ich mich noch privat als Freund um die Angelegenheit gekümmert, doch gleich morgen früh werde ich ihm erklären, dass ich in dieser Sache nun offiziell ermitteln werde."

Und missmutig fügte er hinzu:

„Ich fürchte nur, der Fall wird für den Sheriff keine allzu große Priorität haben."

Der Doktor nickte:

„Ich denke, da haben sie Recht. Ich werde Sheriff Snyder morgen aufsuchen und ihm erklären, dass es auch mir persönlich ein Anliegen ist, dass diesem Carmichael das Handwerk gelegt wird. Vielleicht hilft das ja ein wenig?"

Der Doktor verabschiedete sich und die Bewohner versammelten sich in der Küche des Hauses. Joe hockte sich neben James und knuffte ihm ärgerlich auf den gesunden Arm:

„Wieso bist du allein dort raus gegangen? Du hättest tot sein können, du Spinner!" schimpfte er.

James blickte ihn entschuldigend an und erwiderte:

„Es tut mir leid, aber es musste alles so schnell gehen!"

„Es war sehr mutig von dir, das zu tun." erklärte Margarete anerkennend.

Bescheiden erwiderte James:

„Ich habe mich ehrlich gesagt nicht besonders mutig dabei gefühlt. Ich hätte mir vor Angst beinahe in die Hosen gemacht! Aber ich habe es dir ja versprochen, wir lassen ihn nie wieder in deine Nähe!"

Margarete trat auf ihn zu, berührte sanft seinen verletzten Arm und erwiderte gleichzeitig streng und auch liebevoll:

„Das bedeutet aber nicht, dass du deswegen dein Leben auf' s Spiel setzen darfst, Deputy!"

„Wie soll es nun weitergehen?" wollte Kathryn wissen.

„Ich werde ab morgen offiziell gegen Carmichael vorgehen." erklärte James fest: „Mir ist egal, was Snyder dazu sagt. Ihr verdient den Schutz des Gesetzes ebenso, wie alle anderen Leute von Millers Landing."

Tiny und Joe blieben den Rest der Nacht bei James im Gemeinschaftsraum. Alle anderen kehrten in das obere Stockwerk zurück. Kathryn war die Letzte und erklärte im Hinaufgehen an James gewandt:

„Ich bin froh, dass es dir gut geht!"

James nickte.

Immerhin war es ihr nicht gleichgültig ob er lebte oder starb.

Es klopfte an Mollys Schlafzimmertür. Sie war nicht überrascht, beim Öffnen Regine zu sehen, welche die Arme fest um ihren Körper geschlungen hatte und elend dreinblickte. Molly ließ die Freundin eintreten und beide nahmen auf ihrem Bett Platz:

„Ich weiß nicht, ob ich diese Situation hier noch lange aushalte!" platzte Regine heraus.

Molly nickte:

„Ich weiß, was du meinst!"

„Das, was mit Margarete geschehen ist, ist so furchtbar und es hätte jeder Anderen von uns genauso gut passieren können." fuhr Regine fort: „Ich weiß nicht, wie sie überhaupt damit zurecht kommt. Und nun belagert dieser Mistkerl auch noch unser Haus. Ich kann nachts gar nicht mehr schlafen! Manchmal denke ich darüber nach, einfach meine Kinder zu nehmen, zu verschwinden und irgendwi anders neu anzufangen!"

Molly blickte sie bestürzt an und wollte wissen:

„Wie kannst du an so etwas überhaupt nur denken? Wo willst du denn hingehen?"

Regine zuckte hilflos mit den Schultern und antwortete:

„Ich weiß es doch auch nicht! Irgendwo hin, wo es sicher ist!"

Molly schüttelte traurig den Kopf und fragte:

„Und wo soll das sein? Sicherheit gibt es für Menschen wie uns nicht! Hast du das noch nicht verstanden, Mädchen? Und hier haben wir wenigstens einander!"

„Du hast Recht!" gab Regine kleinlaut zurück: „Aber anderswo können wir wenigstens Geld verdienen. Ich bin zwar einerseits irgendwie froh, dass wir gerade nicht arbeiten, denn nach allem, was passiert ist, könnte ich es jetzt auch nicht, doch ich fürchte, das geht finanziell nicht mehr lange gut!"

Molly lüftete ihre Bettdecke und bestimmte:

„Weißt du was? Du bleibst heute Nacht einfach erst mal bei mir. Wir passen einfach gegenseitig auf einander auf!"

****

Bob hatte die Kugel haarscharf an seinem Kopf vorbei sausen hören, doch der Wolf hatte ihn beschützt. ER wollte, dass er lebte, um seine Mission zu vollenden.

Bob hatte nicht erwartet, den Deputy dort anzutreffen. Offenbar wollte dieser Kerl sie für sich haben, aber er war ihrer nicht würdig.

Er war schwach!

Ihr war es dennoch gelungen, ihm eine Botschaft zu schicken: Sie war bereit für ihn, wartete auf ihn! Es würde nicht mehr lange dauern.

****

Am nächsten Morgen blickte Snyder seinen Deputy fassungslos an:

„WAS ist los? Du hältst nachts Wache drüben in dem Freudenhaus? Wie kommst du dazu?"

„Der Neffe der Lehrerin Miss Owens hat mich darum gebeten. Er ist ein Freund von mir." erwiderte James. Er war nicht der geborene Lügner, doch er hatte einmal gehört, dass es am erfolgreichsten sei, wenn man sich beim Lügen so nah wie möglich an die Wahrheit hielt. Er fuhr fort: „Und ich werde diesen Carmichael genau im Auge behalten. Ich halte ihn für gefährlich! Es ist unsere Aufgabe, die Menschen in dieser Stadt zu beschützen und das gilt nicht nur für die Personen, die uns persönlich gefallen. Ich rechne damit, dass sie mich nach Kräften in dieser Angelegenheit unterstützen werden Sheriff!" In die letzten Worte hatte sehr viel Entschlossenheit gelegt.

Wie aufs Stichwort kam in diesem Augenblick Doktor Miller durch die Tür, um James Standpunkt zu untermauern:

„Ihr Deputy wurde angegriffen, Sheriff. Der junge Mann könnte jetzt tot sein, wenn er nicht so gut reagiert hätte. So hat er glücklicherweise nur Abwehrverletzungen davongetragen. Dieser Carmichael ist ein messerschwingender Verrückter und wenn sie nicht tätig werden, haben wir bald einen Berg Leichen hier, den sie dann zu verantworten haben, Snyder!"

Auch wenn dem Sheriff insgeheim die Vorstellung gefiel, Kathryn Levroux und ihre Huren als Tote vor sich aufgestapelt zu sehen, Doktor Miller schien sehr aufgebracht zu sein. Er war ein Mann mit einigem Einfluss im Ort. Es wäre unklug, ihm zu widersprechen. Er selbst hatte zwar wirklich wichtigere Dinge zu tun, aber sollte Jimmy sich doch um diesen Mist kümmern, wenn es ihm so viel bedeutete! Anscheinend wollte er sich ja unbedingt mit diesem Abschaum abgeben.

Und so versprach Snyder nickend:

„Wir nehmen uns der Sache an, Doktor! Es wird für meinen Deputy nun die oberste Priorität haben, diesen Mann Carmichael dingfest zu machen, aber bislang haben wir noch keine konkreten Beweise. Man hat Carmichael drüben beim roten Haus dabei erwischt, wie er auf deren Land herumgestrichen ist und Jimmy wurde zwar angegriffen, aber er hat den Kerl ja nicht genau erkannt. Es könnte doch auch jemand anders gewesen sein. Diese Leute dort im „Yasemines" machen sich ja schließlich nicht nur Freunde mit ihrem Lebenswandel. Ich brauche mehr als das, um Carmichael einzubuchten!"

Miller schien vorerst zufriedengestellt zu sein und verabschiedete sich.

An seinen Deputy gewandt sagte der Sheriff:

„Du hast es gehört! Der Fall gehört dir! Aber lass dich von dem Pack da drüben nicht einwickeln. Die sind nicht so wie wir, hörst du? Und sie ziehen dich im Nu mit sich in den Dreck, wenn du nicht aufpasst!"

James Gesicht verhärtete sich doch er schwieg.

Er nickte.

Joe erhielt an diesem Morgen wieder einmal Besuch im Laden. Seltsamerweise jedoch kam Alice heute erstmals allein. Das Mädchen wirkte angespannt, hielt sich zunächst wie zuvor auch schon in der Nähe der Tür auf und grüßte Joe von dort aus. Schließlich schien sie sich ein Herz zu fassen und trat zu ihm an die Ladentheke. Als sie nun direkt vor ihm stand, entdeckte er etwas, was ihm bis dahin nicht aufgefallen war: Ihr linkes Auge war blau, so als habe sie sich geprügelt!

Besorgt trat Joe hinter dem Tresen hervor und legte eine Hand an ihre Wange, um sich die Verletzung genauer anzuschauen.

Alices Körper versteifte sich bei der Berührung:

„Nicht!" sagte sie und trat einen Schritt zurück.

Auch Joe zog sich ein wenig von dem Mädchen zurück und hielt defensiv die Hände in die Luft, um ihr zu signalisieren, dass er keine Bedrohung darstellte:

„Wer hat dir das angetan!" wollte er wissen.

Alice schüttelte den Kopf und sagte:

„Ich will nicht darüber sprechen!" Dann fügte sie hinzu: „Aber ich brauche Hilfe! Ich kann nicht nachhause zurück!"

Joe musste sofort an seine eigene Familiengeschichte denken und schlug vor:

„Komm' heute um halb sechs wieder hierher. Ich nehme dich dann mit hinüber ins rote Haus. Dort sehen wir weiter."

Das Mädchen nickte bloß und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Joe und Alice achteten sorgsam darauf, von niemandem gesehen zu werden, während sie zum roten Haus hinüberliefen. Als sie dort ankamen, war man gerade beim Abendessen.

Die am Tisch Sitzenden blickten die beiden gespannt an und Joe begann zu erklären:

„Alice kam heute Morgen zu mir. Sie sagt, sie kann mir nicht sagen, was los ist, aber sie kann nicht zurück zu ihrer Familie und sie braucht eine Bleibe. Sie ist verletzt!" Er deutete auf das Veilchen: „Werdet ihr dem Mädchen helfen?" fiel er direkt mit der Tür ins Haus.

Kathryn erhob sich stirnrunzelnd vom Tisch, trat auf Alice zu und tat, was Joe heute Morgen schon getan hatte; sie nahm Alices Gesicht in ihre Hände und betrachtete das blaue Auge, jedoch mit dem Unterschied, dass Alice es sich von Kathryn gefallen ließ.

„Wenn du bei uns Unterschlupf suchst, wirst du uns sagen müssen, was vorgefallen ist, damit wir wissen, worauf wir uns einlassen und ob es einen triftigen Grund gibt." erklärte Kathryn streng: „Du bist ein Kind. Deine Familie wird nach dir suchen und wir können hier weiß Gott nicht noch mehr Schwierigkeiten gebrauchen. Ich schlage vor, du isst jetzt erst mal mit uns und dann erzählst du uns die ganze Geschichte."

Alice schluckte schwer. Dann sagte sie kleinlaut:

„Ich würde meine Geschichte aber lieber nur ihnen erzählen, Madame Levroux."

„Einverstanden!" sagte Kathryn und bot an, das Mädchen möge sie beim Vornamen nennen.

Kaum hatten sich die Zwei gesetzt, öffnete sich die Tür erneut. Es war James, der berichtete, was heute im Sheriffsdepartment vorgefallen war:

„Ich ermittle nun offiziell gegen Bob Carmichael, auch wenn Snyder das eigentlich nicht passt. Heute Abend werde ich noch einmal hier Wache halten und ab morgen früh hefte ich mich an die Fersen dieses Mistkerls."

James hatte noch nicht einmal zu Ende gesprochen, da ging die Tür ein drittes Mal und herein traten Rebecca und Felicity.

„Das ist ja wie im Taubenschlag hier!" kommentierte Shy genervt, die Störungen beim Essen gar nicht liebte.

Die beiden Lehrerinnen blickten betreten drein, entschuldigten sich und Rebecca erklärte dann:

„Wir haben eine große Bitte an Euch. Wir wissen, ihr habt im Augenblick andere Sorgen, also glaubt uns bitte, dass wir uns nicht an euch wenden würden, wenn wir eine weitere Option hätten."

Die Anwesenden blickten die beiden neugierig an.

„Jetzt macht es doch nicht so spannend!" forderte Melody.

Unsicher fuhr Rebecca fort:

„Nächste Woche ist es soweit; Justine Carpenter kommt mit fünf weiteren Frauen aus Boston hierher nach Millers Landing. Wir hatten Hotelzimmer für sie gebucht, doch irgendwie ist nun herausgekommen, zu welchem Zweck die Damen anreisen und nun werden sie die Zimmer nicht bekommen. Wir haben bereits jede andere mögliche Adresse in Millers Landing probiert, doch niemand ist bereit, diese Frauen aufzunehmen! Wir hatten auch schon daran gedacht, die Damen behelfsweise im Schulgebäude schlafen zu lassen, doch das wurde von der Stadtverwaltung abgelehnt und unser eigenes Haus ist viel zu klein."

„Und nun wollt ihr sie hier bei uns unterbringen?" wollte Kathryn wissen.

Die beiden Lehrerinnen nickten. Felicity erläuterte kleinlaut:

„Das andere Haus drüben steht doch zurzeit leer und verfügt über mehrere Schlafzimmer. Und wir haben uns gedacht, dass diese Lösung auch für euch von Vorteil sein kann. Die Damen sind allesamt wohlhabend. Sie könnten das, was sie für das Hotel bezahlt hätten doch genauso gut euch geben und damit euren momentanen finanziellen Engpass überbrücken."

„Aber was werden die Damen wohl zu der Belagerungssituation durch Carmichael sagen. Was werden sie dazu sagen, dass man sie in einem Bordell unterbringen möchte?" fragte Kathryn skeptisch.

Rebecca zuckte mit den Achseln und antwortete:

„Ich würde in dieser Sache mit offenen Karten spielen und dann die Frauen entscheiden lassen, ob sie sich auf die Situation, so wie sie ist einlassen wollen, oder ob sie unverrichteter Dinge wieder heimkehren möchten."

Nun folgte eine Diskussion, an der sich alle Bewohnerinnen und Bewohner des roten Hauses beteiligten.

Die Frauen teilten die Ansicht, dass diese Wendung des Schicksals sie vorübergehend aus ihrer gegenwärtigen finanziellen Bredouille retten konnte und so kamen sie schließlich überein, die Bostonerinnen bei sich aufnehmen zu wollen.

Nach dem Abendessen nahm Kathryn Alice mit sich in ihr Zimmer und sie ließen sich auf deren Bett nieder. Kathryn schaute das Mädchen erwartungsvoll an, doch diese hatte offensichtlich nicht die Absicht, von sich aus etwas zu erzählen. Stattdessen blickte sie Kathryn ebenso schwärmerisch an, wie bereits schon zuvor auf der Geburtstagsfeier von Joe.

Als Kathryn genug davon hatte, angestarrt zu werden und zu warten, fragte sie schließlich, auf das blaue Auge deutend:

„Also? Wer hat das getan?"

Nun veränderte sich Alices Gesichtsausdruck und zeigte Misstrauen und Verschlossenheit. Sie antwortete zögerlich:

„Das war Nikolas!"

„So, so. Und wer ist das?" wollte Kathryn wissen

„Das ist mein großer Bruder!" gab Alice knapp zurück

„Und warum hat er das gemacht?" fragte Kathryn weiter.

„Haben uns geprügelt!"

Innerlich stöhnte Kathryn angesichts der Verstocktheit des Mädchens. Alice war offensichtlich keine große Rednerin und nicht bereit, irgendetwas ohne spezielle Aufforderung preiszugeben:

„Kommt das öfter vor, dass ihr euch prügelt!" erkundigte sie sich also.

In Alices Gesicht arbeitete es, während sie mit sich rang, eine Antwort auf die Frage zu geben:

„Immer dann, wenn er seine Hände nicht bei sich behalten kann!" erwiderte sie schließlich trotzig.

Kathryn blickte das Mädchen überrascht an. Sie wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte und ob sie Alice richtig verstanden hatte. Schließlich wurde ihr klar, dass es nichts half, drumherum zu reden. Sie musste deutlich werden, also fragte sie:

„Soll das heißen, dein Bruder belästigt dich! Fasst er dich auf eine Art an, wie Brüder dass nicht mit Schwestern tun sollten?"

Alice nickte und erwiderte trotzig:

„Er versucht es immer wieder, aber ich wehre mich!"

„Das ist gut!" kommentierte Kathryn und bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, dass sich in ihrem Magen ein Knoten bildete:

„Hast du deinen Eltern davon erzählt?" wollte sie wissen.

„Meine Mum ist tot. Bei meiner Geburt gestorben!" erwiderte Alice: „Mein Vater glaubt mir nicht! Nur mein anderer Bruder Pavel hilft mir. Aber er ist nur ein Jahr älter als ich und nicht so stark. Er kann mich nicht mehr beschützen!"

Kathryn nickte nachdenklich:

„Verstehe! Also ich denke, du kannst vorerst hier bei uns bleiben, aber niemand darf wissen, dass du hier bist, verstanden? Sonst bringst du uns in Schwierigkeiten"

Alice nickte eifrig und erklärte:

„Das verstehe ich! Ich habe nicht einmal Noah davon erzählt!"

„Nun müssen wir einen Schlafplatz für dich finden." stellte Kathryn fest:

„Dein Bett ist groß! Ich kann doch hier bei dir schlafen." schlug Alice hoffnungsvoll vor.

Kathryn, die nicht die Absicht hatte, die Schwärmerei des Mädchens in irgendeiner Weise zu ermutigen, erklärte streng:

„Das kommt überhaupt nicht in Frage! Du kannst heute Nacht erst mal im Gemeinschaftsraum bei James schlafen. Langfristig überlegen wir uns dann etwas anderes."

Kathryn sah den erschrockenen Blick des Mädchens und fügte hinzu:

„Keine Sorge, Kleines! James ist ein anständiger Kerl. Er ist nicht wie dein Bruder und wird mit Sicherheit nichts bei dir versuchen."

Mit diesen Worten entließ sie das Mädchen aus ihrem Schlafzimmer.

Mit einem Kissen und einer Decke versorgt, hockte Alice später auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum, während James sich auf seiner Pritsche ausstreckte, doch dann schlug er vor:

„Du kannst auch hier schlafen, wenn du willst?"

Das Mädchen blickte ihn mit großen Augen ängstlich an und James beeilte sich zu erklären:

„Ich meine, ich würde dann das Sofa nehmen. Es wäre vielleicht unbequem für dich dort drüben und dieses Feldbett ist eigentlich ganz gemütlich."

Alice schüttelte den Kopf:

„Danke, aber ich komme klar! Hab' schon oft draußen geschlafen, wenn's nicht anders ging. Das hier ist viel besser."

Als sie das Licht gelöscht hatten, fragte Alice in die Dunkelheit hinein:

„Hat Kathryn eigentlich einen Freund oder einen Mann?"

James verdrehte die Augen. Wieder einmal hatte also jemand sein Herz an die schöne Kathryn Levroux verloren, dachte er entnervt und gab griesgrämig zurück:

„Nein, jetzt nicht mehr!"


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top