11 Eingeschneit

Die Bar war bereits dunkel, doch in der Küche des Wohnhauses brannte noch ein kleines Licht, also wagte es James, zu klopfen. Doch anstatt Kathryn, wie erhofft, öffnete ihm Joe, der sich vorher durch die kleine Scheibe in der Tür zuvor versichert hatte, dass draußen niemand stand, der nach ihm suchte. Der Anblick, welcher sich Joe bot war ziemlich erbärmlich. James war klatschnass und schneebedeckt, schlotterte vor Kälte und roch wie eine Schnapsbrennerei:

„Großer Gott, was ist denn mit dir passiert? Komm' doch erst mal rein!" forderte er ihn auf.

„Das Pferd!" warf James schlotternd und wies auf das Tier hinter sich, doch Joe versicherte:

„Komm' rein und setz' dich in der Küche an den Ofen. Ich versorge dein Pferd!"

James schüttelte den Kopf:

„Ich will nicht stören." murmelte er lallend:

„Ich lass' dich aber in diesem Zustand nicht gehen. Komm' endlich rein, damit wir die Tür wieder schließen können." forderte Joe ungeduldig und fügte sanfter hinzu: „Außerdem könnte ich gerade wirklich etwas Gesellschaft gebrauchen."

Und so trat James ein und setzte sich an den Ofen. Joe warf sich eine Decke um, ging hinaus, führte das Pferd in den Stall, nahm ihm Sattel und Geschirr ab und versorgte es mit Wasser und Heu. Als er wieder ins Haus kam, saß James noch immer zitternd und klatschnass da. Joe lief nach oben, um ein Handtuch und trockene Kleidung für ihn zu holen. James versuchte nun, sich die nassen Kleider auszuziehen, doch seine Hände waren so erfroren, dass sie ihm nicht gehorchten. Joe half ihm schließlich, Hemd und Hose zu öffnen und bemerkte dabei James verunsicherten Blick.

„Keine Sorge!" grollte Joe und rollte mit den Augen: „Ich will dir nicht an die Wäsche. Ich will bloß verhindern, dass du dir den Tod holst, Mann!"

Joe half James in die trockenen Kleider und rubbelte ihm die Haare trocken. Er hatte inzwischen auch Teewasser aufgestellt, für James eine Decke besorgt und im Ofen einen Scheit nachgelegt:

„So, ich denke, nun kommst du durch!" erklärte er und wollte wissen: „Aber nun sag' doch mal, was los ist? Wolltest du denn nicht über Nacht bei deinen Eltern bleiben?"

Zur gleichen Zeit, als das Gefühl in James Hände, Füße und Gesicht zurückkehrte, taute scheinbar auch sein Inneres wieder auf, Tränen stiegen in ihm auf und mündeten schließlich in einem heftigen Schluchzen.

Joe rückte seinen Stuhl nah an James heran, legte seine Arme ihn und flüsterte ihm beruhigend zu:

„Es ist in Ordnung James. Alles wird gut!"

Es dauerte eine Weile, bis James sich beruhigt hatte. Dann begann er zu erzählen; von den Begebenheiten des heutigen Tages, von seiner Kindheit und Jugend, von seinem Vater und seiner Mutter. Sein Bericht war ein wenig durcheinander, doch Joe hörte aufmerksam zu. Als endlich alles gesagt zu sein schien, fühlte James sich unendlich sehr erschöpft. Er drehte seinen Kopf zu Joe herum, blickte ihn ernst an und sagte:

„Ich würde dir gern eine Frage stellen, aber ich habe Angst, damit unangenehme Erinnerungen zu wecken."

„Frag' ruhig!" erwiderte Joe. „Die unangenehmen Erinnerungen sind doch längst wach. Das ist der Grund, warum ich es auch bin. Ich habe es im Bett einfach nicht ausgehalten."

James zögerte noch einen Moment, ehe er schließlich fragte:

„Der Moment, als du den Stein genommen und deinen Vater geschlagen hast, hattest du da das Gefühl, gesiegt zu haben?"

Joe sackte ein wenig in sich zusammen:

„In diesem einen Moment? Ja, ich hatte gesiegt. Aber heute denke ich das nicht mehr. Mein Vater hat Gewalt in mich gesät und ich bin dadurch zum Mörder geworden. Das werde ich nie wieder los und dadurch hat er wohl für immer über mich gesiegt."

Nun war es Joe, dessen Augen Tränen sich mit Tränen füllten, doch er unterdrückte das Weinen:

„Tut mir leid!" sagte James und nahm Joes Hand.

Dieser drückte sie kurz, blickte James an und lächelte tapfer:

„Ist nicht deine schuld!"

„Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich bis heute gedacht, 'Was kann Joe an diesen Punkt getrieben haben? Wie hat er es fertig gebracht, seinen eigenen Vater zu töten?'" bekannte James: „Doch dieser Moment heute, als ich die Hände meines Vaters festgehalten und meine Wut und Überlegenheit gespürt habe, da war es mir plötzlich vollkommen klar. Es könnte endlich vorbei sein; all' die Demütigungen und Grausamkeiten wären endlich vorüber." Er zögerte kurz, ehe er weitersprach: „Das, was mein Vater mir angetan hat, ist nicht annähernd zu vergleichen mit dem, was du erdulden musstest und doch war ich eine Sekunde lang an dem Punkt, da ich ihm den Tod gewünscht habe."

„Du solltest unsere Situationen nicht vergleichen." entgegnete Joe: „Und du solltest deine eigenen Erlebnisse nicht herunterspielen."

Die beiden jungen Männer saßen dicht beieinander vor dem offenen Ofen und blickten eine Weile schweigend in die Flammen.

Mit einem Mal waren auf der Treppe Schritte zu hören. Kathryn betrat verschlafen die Küche und war erstaunt, James dort anzutreffen:

„James ist ziemlich betrunken. Bei seinen Eltern war es wirklich übel und ich dachte, ich nehme ihn für heute Nacht auf, ehe er erfriert und zum Festmahl für die Kojoten wird." erklärte Joe munter in Kurzfassung.

James schenkte ihm einen vorwurfsvollen Blick. Er wollte nicht, dass Kathryn schlecht von ihm dachte.

„Betrunken, hm?" meinte Kathryn. „Und wo soll er heute Nacht schlafen?"

„Weiß nicht." meinte Joe schmunzelnd: „Vielleicht zwischen Thomas und mir?"

„Ich glaube nicht, dass Tiny das gefallen würde." erwiderte James. „Er ist mir ja nicht gerade besonders gewogen."

Joe grinste vielsagend und witzelte:

„Vielleicht ist Thomas ja auch nur so abweisend, weil er dich im Grunde mehr mag, als er zugeben will."

James riss die Augen weit auf:

„Ehrlich?" fragte er.

Joe verdrehte belustigt die Augen:

„Keine Sorge, du bist sicher! Ich verschaukele dich nur, weil ich es amüsant finde, wie nervös dich dieses Thema macht."

Selbst im Halbdunkel der nächtlichen Küche war deutlich zu erkennen, dass James heftig errötete.

Um von seiner Verlegenheit abzulenken, wandte er sich an Kathryn und fragte:

„Ich hoffe, wir haben dich nicht geweckt?"

Diese schüttelte den Kopf und nahm sich ein Glas Wasser:

„Nein! Durst hat mich geweckt." Dann fügte sie hinzu: „Wenn du willst, kannst du bei mir schlafen. Mein Bett ist groß genug."

James riss entsetzt seine Augen auf, doch Joe erklärte lediglich:

„Fein! Dann kann ich wieder ins Bett gehen. Du bist ja nun versorgt, James!"

„Warte noch!" rief James ihm hinterher, stand auf und umarmte ihn: „Danke für heute Abend!"

„Gern geschehen!" erwiderte Joe, die Umarmung erwidernd: „Es tut gut, zur Abwechslung einmal helfen zu können, anstatt immer nur Hilfe zu empfangen. Außerdem schulde ich dir doch etwas. Dir verdanke ich schließlich, dass ich nicht schon längst am Galgen baumele."

James setzte sich wieder auf seinen Platz, blickte in die Richtung, in welche Joe verschwunden war und fragte sich:

„Wie schafft er das nur? Wie lebt er weiter, nach allem, was er hinter sich hat? Er kommt mir trotz allem glücklich und ausgeglichen vor."

Kathryn setzte sich an seine Seite und antwortete:

„Es ist ja nicht so, dass er eine große Wahl hätte. Das Leben geht einfach weiter, ganz gleich was geschieht, oder nicht? Ich denke, es hilft ihm, dass er Tiny und uns alle hat. Und lass' dich nicht täuschen! Seine Erinnerungen rauben ihm oft genug den Schlaf und dann sitzt er hier unten und ist als Einziger wach, so wie heute."

James blickte sie erstaunt an:

„Das habe ich nicht gewusst."

Kathryn zuckte mit den Schultern. Dann wollte sie wissen:

„Was ist denn nun bei deinen Eltern geschehen? Erzähl' doch mal!"

Und obwohl James erschöpft war und am liebsten alles ganz schnell vergessen wollte, gab er ein zweites Mal an diesem Abend einen genauen Bericht des heutigen Tages.

Kathryn hatte im aufmerksam zugehört und dann forderte sie mit Nachdruck:

„Vergiss deinen Vater!"

James blickte sie überrascht an und Kathryn fuhr fort:

„Wir brauchen unsere Eltern, solange wir klein sind, damit sie uns beschützen und ernähren. Doch du bist siebenundzwanzig Jahre alt. Wenn Schmerz alles ist, was du durch sie erfährst, dann vergiss sie! Ich habe an MEINEN Vater seit Jahren kaum noch gedacht."

James runzelte zweifelnd die Stirn und Kathryn gab zu:

„Na ja, es funktioniert wohl besser, wenn du dir eine neue Familie suchst, schätze ich."

Sie schwiegen eine Weile und schließlich beschloss Kathryn, das Thema zu wechseln:

„Aber in einem Punkt muss ich deinen Eltern recht geben: Du solltest dir wirklich ein nettes Mädchen suchen. Ich weiß nicht, ob es gleich eine zum Heiraten und Kinder kriegen sein muss. Wie wäre es für den Anfang mit einer losen Bekanntschaft. Soweit ich mich erinnere, macht die körperliche Seite der Liebe viel Spaß."

Er blickte sie gequält an:

„Ich denke, wenn ich irgendwann einmal dazu bereit bin, dann muss es mit jemandem sein, den ich wirklich liebe."

Kathryn gab ein amüsiertes, kleines Kichern von sich.

James war ein wenig gekränkt und fragte:

„Lachst du mich aus?"

Kathryn schüttelte den Kopf.

„Natürlich nicht! Du bist nur so..."sie suchte das richtige Wort: „...so rührend!"

„Du machst dich DOCH lustig über mich." stellte James unglücklich fest, doch Kathryn antwortete nachdrücklich:

„Nein, das ist es wirklich nicht. Ich betrachte die Dinge nur aus einer anderen Perspektive. Vielleicht kann ich es mir nach dem Leben, dass ich gelebt habe einfach nicht mehr vorstellen, wie es sein muss, das erste Mal noch vor sich zu haben."

James wollte etwas wissen, doch er war unsicher, ob er damit eine Grenze überschritt.

„Ich möchte dich etwas fragen...etwas über deine...Arbeit."

Kathryn blickte ihn aufmerksam an und wartete auf die Frage:

„Wie ist das, wenn du einen Mann mit auf dein Zimmer nimmst und er dann...DAFÜR bezahlt? Du liebst ihn nicht. Vielleicht ist er dir sogar unangenehm. Wie schaffst du das?"

Kathryn schwieg eine Weile und James fürchtete schon, sie sei durch die Frage beleidigt, doch in Wirklichkeit dachte sie nur über die Antwort nach. Schließlich begann sie:

„Ich war sechzehn, als ich es das erste Mal tun musste. Tiny und ich hatten kein Geld und nichts zu essen. Es musste getan werden und ich habe nicht viel darüber nachgedacht."

„Sechzehn?" wiederholte James ungläubig.

Kathryn zuckte mit den Schultern und fuhr fort:

„Offenbar hatte ich ein gewisses Talent für das, was ich tat und scheinbar auch das passende Äußere. Ich konnte mir aussuchen, wen ich mitnehmen wollte. Meistens war es völlig bedeutungslos und schnell vorüber, nur manchmal war es unangenehm und in sehr seltenen Fällen war es sogar ganz schön. Als ich mich verliebte, änderten sich die Dinge. Die Arbeit stand zwischen Elizabeth und mir. Ich wollte meinen Körper mit niemand Anderem mehr teilen und wollte auch nicht, dass sie es tat. Ihr ging es umgekehrt genauso. Als wir beide das „Yasemines" erbten, sprachen wir mit den anderen Frauen darüber und glücklicherweise verstanden sie uns. Wir blieben hier, doch wir standen für diese Dienstleistung nicht mehr zur Verfügung. Und als Elizabeth dann starb, wurde es ohnehin unmöglich für mich, mit jemandem intim zu sein; aus welchem Grund auch immer."

Nach einer kurzen nachdenklichen Pause fügte Kathryn hinzu:

„Ich fühle mich den anderen Frauen gegenüber oft schuldig deswegen, doch ich kann es nicht ändern."

James hatte ihren Ausführungen aufmerksam zugehört und fragte dann:

„Bedeutet dass, du warst seit Elizabeths Tod mit niemandem mehr zusammen?"

Kathryn bestätigte seine Vermutung mit etwas, das halb Nicken, halb Schulterzucken war.

„Und fehlt es dir manchmal?" wollte er wissen:

„Ich weiß nicht? Ja, vielleicht? SIE fehlt mir!" antwortete sie und fügte hinzu: „ Ich werde langsam müde. Lass uns schlafen gehen, in Ordnung?"

Beide erhoben sich, doch am Treppenabsatz blieb James plötzlich stehen und blickte Kathryn an. Und weil er betrunken war, weil er sich ihr in diesem Moment nah fühlte und weil er große Sehnsucht nach ihr hatte, beugte er sich vor, um sie zu Küssen.

Kathryn erkannte früh genug, was er vorhatte und hielt in eine Armeslänge auf Abstand:

„Was wird das?" fragte sie streng und erst da erkannte James selbst, was er gerade im Begriff gewesen war, zu tun. Erschrocken hielt er sich eine Hand vor den Mund und murmelte:

„Oh Gott, es tut mir leid!"

Er rannte in Richtung Haustür.

Kathryn verdrehte genervt die Augen und folgte ihm: „

„James, bleib stehen! Wo willst du denn jetzt hin."

An der Tür hatte sie ihn eingeholt und hielt ihn am Arm. James hatte seinen Blick beschämt am Boden festgeheftet.

„Ich gehe nachhause." verkündete er leise.

Ärgerlich erwiderte Kathryn:

„Da draußen tobt ein Schneesturm, falls du es noch nicht mitbekommen hast."

„O.K., dann schlafe ich auf dem Fußboden." erwiderte James trotzig:

„Ich bin zu müde für diese alberne Diskussion! Du kommst jetzt mit rauf und schläfst im Bett, vorausgesetzt, die behältst deine Lippen, deine Hände und den Rest auf deiner Seite, hörst du?" forderte sie.

James blickte sie verzweifelt an. Schließlich griff Kathryn seinen Arm, und zog ihn die Treppe hinauf. Neben ihr ihm Bett traute James kaum, sich zu rühren aus Angst, Kathryn wieder zu nahe zu treten.

Er schämte sich gewaltig.

Am nächsten Morgen erwachte James mit steifen Knochen und fühlte sich erbärmlich. Sein Schädel pochte vom Alkohol und nüchtern war die Scham für seine gestrige Tat kaum noch auszuhalten. Er setzte sich im Bett auf, zog die Knie unter das Kinn und umfasste mit den Armen seine Beine.

Er schaute aus dem Fenster. Der Sturm hatte nachgelassen, doch es lag mindestens ein Meter hoch der Schnee. James dachte darüber nach, was er sagen oder tun könnte, um die Situation wieder in Ordnung zu bringen, doch es fiel ihm nicht das Passende ein.

Nun schlug auch Kathryn die Augen auf. Als sie James grübelnd dasitzen sah, richtete sie sich ebenfalls auf. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und versuchte, mit den Fingern ihr krauses, rotes Haar zu richten, was jedoch ein sinnloses Unterfangen war.

„Guten Morgen." begrüßte sie ihn.

„Morgen." antwortete James kaum hörbar.

Kathryn blickte ihn aufmerksam an und wollte wissen:

„Was ist los mit dir! Ist es immer noch wegen gestern? Vergiss es! Du warst betrunken. So etwas passiert eben!"

Er drehte sich mit ernster Miene zu ihr um und erklärte:

„Ja, es stimmt, dass ich betrunken war. Aber ich hätte dich auch küssen wollen, wenn ich nüchtern gewesen wäre. Ich hätte mich nur nicht getraut, es zu versuchen. Ich denke, es wird Zeit, dass ich dir etwas sage. Ich habe mich in dich verliebt, Kathryn."

Während er die Worte sagte, traute er sich kurz, Kathryn in die Augen zu sehen, doch lange konnte er ihrem Blick nicht standhalten und starrte stattdessen auf das Laken.

Kathryn betrachtete ihn mit einer Mischung aus Traurigkeit und Zärtlichkeit:

„Das weiß ich doch längst, du dummer Junge! Das ist doch kein Verbrechen." versicherte sie sanft und strich ihm eine schwarze Locke aus dem Gesicht. „So etwas passiert zwischen Freunden manchmal. Das geht auch wieder vorbei!"

Es verletzte ihn, dass sie offenbar die Tiefe seiner Gefühle nicht verstand oder ernst nahm:

„Nein, ich denke nicht, dass das vorbei geht." Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich würde nun am Liebsten einfach verschwinden!"

Kathryn schüttelte den Kopf:

„Das geht doch jetzt nicht! Draußen ist hellichter Tag. Was ist, wenn dich jemand sieht?"

„Ich weiß!" antwortete James niedergeschlagen und verließ Kathryns Schlafzimmer.

Er ging hinunter in die Küche, wo Tiny bereits am Herd stand und das Frühstück zubereitete. Als James ihm einen guten Morgen wünschte, drehte Tiny sich verwundert um, zog fragend eine Augenbraue hoch und erwiderte den Gruß.

„Kaffee?" fagte er:

„Ja bitte!" antwortete James dankbar.

Tiny stellte eine Tasse und die Kanne vor ihn hin und wendete sich dann wieder dem Herd zu.

James starrte in die dunkle Flüssigkeit, als gäbe es am Boden der Tasse ein paar Antworten für ihn. Dann hörte er, dass jemand die Treppe herunter geschlurft kam. Es war Joe, der in seinem Schlafanzug an James vorbei tapste, ihn verschlafen grüßte und direkt auf Tiny zusteuerte. Er schlang diesem von hinten die Arme um die Taille, schmiegte sich eng an ihn und vergrub seinen Kopf an seiner Schulter.

„Schade, dass du nicht mehr da warst, als ich aufgewacht bin." nuschelte Joe kichernd.

Tiny drehte sich zu dem jungen Mann um, lächelte auf ihn hinab und küsste ihn lange und innig.

James, der die beiden noch nie hatte Zärtlichkeiten austauschen sehen, beobachtete die Szene heimlich aus dem Augenwinkel. Es war etwas anderes, etwas zu wissen und es selbst zu sehen, stellte er fest. Bisher hatte er es vermieden, sich Joe und Tiny als Paar vorzustellen. Als er diesen Anblick aber nun vor Augen hatte, löste er eine verwirrende Mischung von Empfindungen aus. Er fühlte Widerwillen, denn der Anblick zweier Männer, die auf diese Weise miteinander umgingen, war einfach zu fremd, zu ungewohnt. Gleichzeitig schämte er sie für diese Reaktion, denn im Grunde genommen hätte er gern eine völlig indifferente Haltung gehabt, ganz frei von Vorurteilen.

Und dann erkannte James, wie verwandelt der große, grimmige Tiny wirkte, wenn er mit Joe zusammen war. Er war sanft, liebevoll und ganz und gar nicht mehr furchteinflößend.

Zuletzt war da noch eine Empfindung, die James sich am liebsten nicht eingestanden hätte und das war die kleine Erregung, welche er bei dem ungewohnten Anblick fühlte.

Zum Glück kam in diesem Moment ein noch größerer Anlass für Verwirrung in Gestalt von Kathryn durch die Tür, so dass er darüber glücklicherweise nicht länger nachdenken musste:

„Guten Morgen, Jungs!" sagte Kathryn munter und sandte ein gutmütiges Lächeln in James Richtung, welches dieser traurig und halbherzig erwiderte. Dann trat sie an den Herd, legte je einen Arm um Joe und Tiny und warf einen Blick über deren Schultern in die Pfannen auf dem Herd:

„Was gibt's zum Frühstück?" wollte sie wissen und maulte dann enttäuscht: „Eier? Ich hatte auf Pfannkuchen gehofft."

Nach und nach kamen auch die restlichen Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses in die Küche und versammelten sich am Frühstückstisch. Als Sam eintraf und James erblickte, stürzte er sich begeistert auf ihn:

„Bist du heute den ganzen Tag bei uns?" fragte er: „Das ist ja toll! Meist kommst du ja erst, wenn ich schon im Bett bin. Wenn du willst, können wir Karten spielen. Vielleicht machen Joe und Tiny ja auch mit?"

Tiny, der mitbekommen hatte, was der Junge vorgeschlagen hatte nickte:

„Später, nach dem Frühstück. In Ordnung?"

James, der zur gleichen Zeit mit seinem Kater und seinem wehen Herzen kämpfte, waren der fröhliche Junge und die Aussicht auf stundenlange Kartenspiele eigentlich zu viel, doch auf diese Weise hätte er wenigstens etwas zu tun, bis die Sonne unterging und er verschwinden konnte.

Wider Erwarten hatte James schließlich aber doch Spaß. Joe hatte ein unverschämtes Glück und gewann beinahe jedes Spiel und der kleine Sam war selig, Spielgefährten gefunden zu haben.

Als seine kleinen Schwestern Mia und Lois fragten, ob sie mitspielen dürften, lehnte Sam dies strikt ab und ließ sich auch durch einen strengen Blick von Tiny nicht umstimmen. Nach all den Jahren mit Mutter, Schwestern und all den anderen weiblichen Mitbewohnerinnen genoss er offenbar diese Männerrunde sehr.

Als schließlich der Abend dämmerte, war James dennoch froh, dass er gehen konnte, um allein zu sein und in Ruhe über alles nachzudenken.

Kathryn und er waren sich den Tag über aus dem Weg gegangen. James machte sich nun daran, sich von allen zu verabschieden und sich für die Gastfreundschaft zu bedanken. Am Ende blieb nur noch Kathryn, der er Lebewohl sagen musste. Er stand mit dem Rücken zur Tür und blickte zu Boden.

Kathryn nahm seine Hände in die ihren und sagte sanft:

„Mein Lieber! Nimm es doch bitte nicht so schwer. Von meiner Seite aus ist zwischen und beiden alles in Ordnung. Wir sind Freunde! Wirklich!"

Obwohl James nicht mehr als das erwarten konnte, traf es ihn im Herzen, „Freund" genannt zu werden.

Er nickte, lächelte mühsam und verschwand dann in die Nacht.


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