Die Entscheidung

Zischend geht die Tür des Schnellzuges auf, vor der ich auf dem Boden kauere. Gleichzeitig gehen hinter mir geräuschvoll die Waggontüren des Nostalgiezuges auf. Ich weiß nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Entweder meine Familie noch einmal sehen, dafür aber nicht wissen, dass es das letzte Mal sein wird und darauf mit meinem Tod alle Hoffnungen zerschlagen, oder aber sofort sterben, sie aber nie mehr sehen und sprechen, dafür aber mein Leben freigeben, was immer das heißen mag und ihnen einfach die Nachricht meines Todes zurücklassen, ohne quälende Hoffnung. Das kann ich nicht entscheiden. Und ich will es auch nicht! Meine Verzweiflung schlägt in Wut um. Ich brülle diese ominöse Person an, die mir das hier eingebrockt hat: He, du Miststück! Weißt du was?! Ich werde nicht wählen! Spiel dein Spielchen alleine! Außerdem! Woher weiß ich, dass du nicht bluffst? Ha! Das ist es doch, oder? Ein perverses Spiel! Ich muss sagen, sehr realistisch gemacht! Und wieder knackt es kurz und die freundlich kalte Stimme aus den Lautsprechern erklingt: Ich bin real, alles ist real. Sie werden sterben. Heute, oder in einer Woche. Wählen Sie. Ich bekomme ein mulmiges Gefühl. Das hier ist zu bizarr, um meinem eigenen Kopf zu entspringen. Ich bekomme Angst. Ich muss resignieren. Ich werde alles verlieren, das ist mir jetzt klar. Aber ich kann hierbleiben! Sie nicht gewinnen lassen! Diese ominöse Frau, oder was oder wer auch immer ihre Stimme benutzt, darf nicht gewinnen. Ich bleibe hier. Kaum habe ich ausgesprochen, quietscht es ganz unangenehm in den Lautsprechern, als hätte jemand das Mikrofon zu nah an die Boxen gehalten und die schrecklich vertraute Stimme sagt: Bleiben Sie hier und Ihre Seele bleibt hier. Verharren Sie hier, bis sie die Maschinen abschalten, die Sie am Leben erhalten. Bleiben Sie hier und sterben. Fahren Sie zurück und sterben. Fahren Sie weiter als Gestorbene. Wählen Sie. Ich kann nicht anders, ich breche in Tränen aus. Ich bringe gequält hervor: Tu mir das nicht an! Bitte! Es kommt keine Antwort. In meinem Kopf geistert nur ein einziger Satz: Wählen Sie.

Ich habe bereits gewählt, aber es gefällt mir nicht. Ich will nicht sterben. Ich heule mir die Seele aus dem Leib. Irgendwie ironisch, wenn man eigentlich nur noch seine Seele ist, wenn man der Stimme glauben kann. Ich denke an meinen Liebsten. Ich denke an meine Eltern, die ich liebe. Ich denke an alle, die ich liebe. Ein erneutes Knacken und aus dem Lautsprecher erklingt die Stimme der Ansagenfrau: Steigen Sie bitte jetzt ein. Der Zug fährt in wenigen Minuten ab. Mit brennenden Augen stehe ich auf und wische mir die letzten Tränen aus dem Gesicht. Ich bin erschöpft. Mit den Nerven am Ende. Ich bin verstört, zerstört oder vielleicht sogar gestört? Ich weiß es nicht.

Ich rufe der Stimme wütend zu: Da hast dus! Ich bin am Ende. Das macht dir Spaß, oder? Töte doch gleich noch mehr Menschen! Dann bin ich nicht so einsam! Da ich mit keiner Antwort rechne und auch keine gekommen ist, steige ich in den Zug. Ich habe mich für den Nostalgiezug entschieden. Ich will es nicht unnötig schwer machen. Ich klettere die Stufen empor und zwänge mich durch den engen Gang. Die Sitze sind zwar schon alt, aber immer noch heil. Sie haben eine ausgesprochen hässliche Farbe, aber das schmutzige Lederbraun fügt sie gut in das Gesamtbild ein. Ich setze mich ans Fenster, auf dessen Oberfläche ich mich spiegle. Ich sehe furchtbar aus. Die Augen total verquollenen und die Haare zerzaust. Sollte ich jetzt wirklich sterben, möchte ich keinesfalls so aussehen. Schnell richte ich mich etwas her und versuche zu lächeln. Tatsächlich fühle ich mich dadurch etwas besser. Ich rufe mir ins Gedächtnis, warum ich mich für diesen Zug entschieden habe. Für alle, die ich liebe. Und plötzlich erinnere ich mich. An den Unfall, an die Schmerzen und dann an grelles Licht. Es ist alles wahr. Der Bahnhof, der Vertrag, die Auswirkungen.

Jetzt wird es mir erst richtig bewusst: Ich werde gleich endgültig sterben. Wieder füllen sich meine Augen mit Tränen. Ich bin überzeugt, dass ich das Richtige tue. Ich sterbe aus Liebe. Das ist ein schöner Gedanke. Er tröstet mich zumindest ein wenig. Sogar als es aus den Lautsprechern schallt: Achtung an Gleis 8. Der Zug fährt ab, muss ich nicht weinen. Ich lächle sogar. Ich freue mich richtig darauf, denn für mich ist es vorbei und keiner muss leiden. Zumindest nicht mehr als nötig. Seufzend blicke ich dem Bahnhof hinterher. Das ist mein Lebewohl an die Welt. Lebe wohl, mein lieber Bahnhof, an dem ich viele Stunden meines Lebens verbracht habe. Lebe wohl.

Ich wende meinen Blick von den Erinnerungen aus meinem Leben, doch tatsächlich wende ich ihn eigentlich nur von dem Bahnhof. Meinem Bahnhof. Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie der Bahnhof immer blasser wird und schließlich ganz verschwindet. Der Zug fährt inmitten von weißem Nichts. Das Weiß wird immer greller. Ich muss meine Augen schließen und irgendwie fühle ich mich wohl dabei. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Das gleichmäßige Rattern des Zuges untermalt meinen befremdlich wunderbaren Zustand vortrefflich. Ich döse langsam weg. Die Geräusche werden immer leiser und das grelle Licht, das sich dennoch den Weg durch meine geschlossenen Augen gebahnt hat, schwächt langsam ab und wandelt sich zusehends in Dunkelheit.

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