Der Bahnhof
Ich gehe wie jeden Nachmittag durch den Bahnhof. Der Alltag hat mich liebgewonnen. Er ist mit der Zeit zu meinem zweiten Zuhause geworden. So oft bin ich hier schon über die Wege geeilt, habe die Bahnsteige abgelaufen, bis der Zug endlich kam. Hier kann ich mich entspannen.
Von irgendwo hinter mir schallt "Con te partirò" durch die Gänge. Irgendwie passend, schließlich habe ich Feierabend und kann nach Hause fahren. Mir weht der Geruch der Croissants meines Lieblingsbäckers um die Nase, der direkt hinter der Wand, etwas versteckt in der Ecke, seinen Stand hat. Ein echter Geheimtipp. Die mit Schokoladenfüllung sind die besten, die mit Marzipan sind aber auch nicht schlecht.
Ich gehe schnurstracks den Südsteg entlang. Dort ist der Fischladen, den ich mit meiner Nase nach Möglichkeit meide, dann die Miniaturausgabe eines Supermarktes, darauf der Thai, dann der Türke und der Italiener und schließlich der Laden dieser hippen, völlig überteuerten Kaffeehauskette. Mich erreicht der Geruch von frischem Kaffee, von Karamell und von abgestandenem Fett.
Doch plötzlich wirkt alles so surreal. Es fehlen die feinen Nuancen, die jeden Tag anders sind, die jeden Tag einzigartig machen. Alles ist exakt so wie immer. Exakt, keine Ausnahmen. Der gesamte Bahnhof wirkt auf einmal surreal. Entgeistert stelle ich fest, dass gar keine Menschen hier sind. Wodurch ich mich gezwängt und geschlängelt hatte, sind Schatten und wirre Abbilder von dem Gewühl, das ich kenne, gewesen.
Langsam gehe ich die Treppe zu meinem Gleis hinab. Die Uhr auf dem Bahnhof zeigt viertel nach drei. Genau so, wie sonst auch. Der Lichteinfall ist genau so, wie ich es an einem Herbsttag erwarten würde. Jetzt müsste normalerweise Berufsverkehr sein, aber der Bahnhof ist verweist. Selbst die Läden, aus denen ihre vertrauten Gerüche strömen, sind menschenleer. Von den Gleisen der S-Bahn her höre ich die Signale der schließenden Türen und die Geräusche, die sie machen, wenn sie abfahren. Aber dort ist nichts. Keine Menschen, keine Züge, Nichts. Nirgendwo. Die gesamte Halle ist leer. Selbst die Anzeigetafeln sind ausgeschaltet. Plötzlich überkommt mich ein Gefühl von Einsamkeit. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal das hektische Gewusel planlos umherirrender Touristen vermissen würde. Hallo?, rufe ich, Ist jemand hier? Das Beste, was mir einfiel. Ich bekomme Totenstille als Antwort. Aber plötzlich, als wäre doch jemand hier, gehen die Anzeigetafeln an. Auf allen steht in Großbuchstaben mein Name. Was geht hier vor? Die Lautsprecher knistern und die vertraute Frauenstimme vom Band sagt: Achtung an Gleis 7, der Zug fährt ein. Achtung an Gleis 8, der Zug fährt ein. Dann knistern die Lautsprecher erneut und es ist wieder ruhig. Ich warte gebannt darauf, was jetzt passieren würde. Ich warte eine ganze Weile, aber das ist meistens so, wenn ein Zug einfährt. Ich bin das so gewohnt. Dann fährt zu meiner Linken tatsächlich ein Zug ein, genau wie zu meiner Rechten. Sie kommen genau gleichzeitig zum Stehen. Links von mir, auf Gleis 7, steht ein Schnellzug. Richtig modern, windschnittig und futuristisch designt. Auf der rechten Seite, auf Gleis 8, steht eine Dampflok mit angekoppelten Waggons. Sie ist schon alt und schnaubt gemütlich. Richtig nostalgisch. Ich betrachte beide Züge genau. Beide haben ihren ganz eigenen Charme, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Ich wüsste nicht, in welchen ich lieber einsteigen würde. Aber das muss ich auch nicht. Oder? Wie sollte ich denn sonst hier rauskommen, wenn nicht in einem Zug, durchzuckt mich der Gedanke. Wieder knacken die Lautsprecher und wieder beginnt die monotone Stimme, etwas zu sagen. Doch das ist ganz und gar nicht ihr Standardtext: Sie befinden sich am Umsteigeplatz. Sie haben Anschluss an: Auf Gleis sieben steht für Sie bereit der Zug zurück zu Ihrer Familie. Auf Gleis acht, am selben Bahnsteig gegenüber, steht für Sie bereit der Zug zur Weiterfahrt ins Jenseits. Der Zug endet dort. Wir bitten Sie dort auszusteigen. Da habe ich nicht viel zu überlegen. Ich bin noch jung, weshalb sollte ich schon sterben wollen? Das meint die Stimme doch mit ins Jenseits fahren. Also gehe ich schnurstracks auf den linken, den Schnellzug, zu. Ich betätigte den Knopf, aber die Tür öffnet sich nicht. Ich will da aber rein, sofort! Ich hämmere gegen die Tür, aber nichts passiert. Ich komme nicht mal auf die Idee, dass alles nur ein Trick sein könnte, ein abgekartetes Spiel. Die Lautsprecher beginnen zu dröhnen und ich halte inne. Die Stimme sagt emotionslos: Bitte haben Sie etwas Geduld. Wählen Sie den linken Zug, werden Sie Ihre Familie wiedersehen. Der Vertrag ist allerdings auf sieben Tage befristet. Ihnen steht genau eine Woche freier Aufenthalt zur Verfügung. Die werden Sie im Krankenhaus verbringen, aufgrund der schwerwiegenden Verletzungen, die Ihr Körper erlitten hat. Sieben Tage Liebe, Hoffnung und kurze Besuche. Und einem jähen Ende. Sie werden nicht wissen, dass Sie hier gewesen sind. Sie werden sich erst erinnern, wenn Sie mit Ihrem Zug an dieser Station vorbeifahren. Nein!, schreie ich und schluchze nochmal verzweifelt: Nein. Das kannst du nicht machen! Wie ein Häufchen Elend sacke ich inmitten des Bahnsteigs zusammen. Im meinem Kopf geht alles drunter und drüber.
Das kann ich meiner Familie doch nicht antun! Aus heiterem Himmel sterben! Vor allem wenn ich erst noch genesen sollte! Welch eiskalter Mensch, der die freundliche Stimme der Bahnhofsdurchsagen missbraucht, um so etwas mitzuteilen. Die Durchsage geht weiter: Steigen Sie in den Zug auf Gleis acht und fahren Sie ins Jenseits. Sterben. Sie geben damit Ihr Leben frei. Sie sehen Ihre Familie erstmal nicht wieder. Sie können ihnen nichts mehr sagen, sich nicht verabschieden. Das ist der Vertrag. Wählen Sie.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top